In dem Buch »How to become Ultraspiritual« von JP Sears, das ich gerade übersetze, erwähnt er an einer Stelle Helen Keller. Ich rief daraufhin in der deutschen Wikipedia ihren Namen auf und fand dort einen Bericht von ihrer Lehrerin Anne Sullivan über den Moment, wo das ihr anvertraute Kind, das seit dem Alter von 19 Monaten taubstumm und blind ist, lernt, dass man Dinge benennen kann.
Wie heißt Wasser?
»[E]s hat sich etwas sehr Wichtiges zugetragen. Helen […] hat gelernt, dass jedes Ding einen Namen hat und dass das Fingeralphabet der Schlüssel zu allem ist, was sie zu wissen verlangt. […] Als ich sie heute früh wusch, wünschte sie die Bezeichnung für Wasser zu erfahren. Wenn sie die Bezeichnung für etwas zu wissen wünschte, so deutete sie darauf und streichelte mir die Hand. Ich buchstabierte ihr w-a-t-e-r in die Hand und dachte bis nach Beendigung des Frühstücks nicht mehr daran. […] [Später] gingen wir zu der Pumpe, wo ich Helen ihren Becher unter die Öffnung halten ließ, während ich pumpte. Als das kalte Wasser hervorschoß und den Becher füllte, buchstabierte ich ihr w-a-t-e-r in die freie Hand. Das Wort, das so unmittelbar auf die Empfindung des kalten, über ihre Hand strömenden Wassers folgte, schien sie stutzig zu machen. Sie ließ den Becher fallen und stand wie angewurzelt da. Ein ganz neuer Lichtschein verklärte ihre Züge. Sie buchstabierte das Wort water zu verschiedenen Malen. Dann kauerte sie sich nieder, berührte die Erde und fragte nach dem Namen, ebenso deutete sie auf die Pumpe und das Gitter. Dann wandte sie sich plötzlich um und fragte nach meinem Namen. Ich buchstabierte teacher in die Hand. […] Auf dem ganzen Rückweg war sie in höchstem Grade aufgeregt und erkundigte sich nach dem Namen jedes Gegenstands […] [Am nächsten Morgen:] Helen stand heute früh wie eine strahlende Fee auf. Sie flog von einem Gegenstande zum anderen, fragte nach der Bezeichnung jedes Dinges und küsste mich vor lauter Freude. […] Alles musste jetzt einen Namen haben. […] Sobald sie das betreffende Wort kennt, wendet sie ihre früheren Zeichen und Pantomimen nicht mehr an.«
An der Stelle, wo Helen wie angewurzelt dastand, musste ich weinen. Sogar jetzt wieder, beim zweiten Mal Lesen. Ist es mir neu, dass Dinge Namen haben? Nein, aber dieses Kind wusste es noch nicht, und ich kann mich heute in diese Reinheit der Wahrnehmung hineinversetzen, in der das Kind die Welt noch direkt wahrnimmt, ohne Worte, Begriffe, Vorstellungen, Erwartungen dazwischenzuschalten. Und dann die Entdeckung, dass das Streichen der Buchstaben w-a-t-e-r in die Handinnenfläche diesem flüssigen Objekt entspricht, dem Wasser. Das eine entspricht dem anderen. Das Streichen dieser Zeichen (ein Vorgang) entspricht dem Objekt bzw. der Objektwelt Wasser. Ein Bezug ist hergestellt. Man kann nun benennen, sprechen, kommunizieren. Vorher noch nicht. Vorher können wir uns zwar berühren, mit Blicken, Tönen oder Händen auf Haut, aber noch nicht über etwas kommunizieren, das in dem Moment nicht sinnlich da ist.
Raus aus dem Paradies
Ich weine über Helens Unschuld, das Glück der Unschuld, ihre Freude über diese Entdeckung, die auch den Beginn all der Torturen bedeutet, die da mit der Kommunikation, der Kultur, der Verständigung beginnen. Ich trauere um ihre und unsere Unschuld und freue mich zugleich, staunend, über die Freude dieses Kindes, seine Entdeckung, mit der sich nun auf einmal eine große, weite, neue Welt öffnet. Helen hat vom Baum der Benennung gegessen und ist damit in eine neue Welt eingetreten, in der es Missverständnisse gibt, Rechthaberei, Glaubenskriege, aber auch Liebeserklärungen und Kunst. Mit dieser Erkenntnis hat sie das Paradies verlassen. Kann sie es wiedergewinnen? Wenn sie vom Baum des Lebens isst, heißt es ….
Der Wunsch Spuren zu hinterlassen
Mir fällt dazu auch wieder ein, wie ich als 23-jähriger Backpacker in Sarawak auf der Insel Borneo in den Urwald hineingelaufen bin, ohne dort Menschen zu kennen oder ein Ziel zu haben. Ich wolle vor allem weg – weg von der Zivilisation, hin zur Natur. Dort verschwinden im Nichts und Niemandsein. Etwas aber hat mich von dort zurückkehren lassen, und das hat auch mit der Euphorie zu tun, die Helen empfand, als die sie Benennbarkeit der Dinge entdeckte und dann vor lauter Freude ihre Lehrerin küsste. Es ist für mich bis heute schwer erzählbar, warum ich aus dem Urwald zurückgekommen bin, in dem ich mich doch so geborgen gefühlt hatte. Es hat mit dem Wunsch zu tun, kommunizieren zu können. Vielleicht sogar noch mehr als nur mündliche Kommunikation, die der Wind verweht – schriftliche, die bleibt. Der Wunsch Spuren zu hinterlassen. Und das sage ich, obwohl ich den Vorsatz »Leave no traces« des Burning Man Festivals in Nevada, der ja auch der Vorsatz vieler Ökos ist, so sehr schätze.
Auf der Erde leben können ohne Spuren zu hinterlassen? Auch die Saurier haben Spuren hinterlassen, noch viel mehr der Homo sapiens.
Beginn und Ende
Mir fällt zu Helen Kellers Euphorie über ihre Entdeckung auch Rainer Maria Rilke ein und sein Gedicht »Der Menschen Wort«. Es ist eines meiner Lieblingsgedichte von ihm. Auch dabei habe ich schon weinen müssen, weil es die Sehnsucht nach der wortlosen Welt so gut ausdrückt, in der die Dinge einfach so sein dürfen wie sie sind. Wo die Dinge, Phänomene und Ereignisse ineinander übergehen innerhalb eines jeweils größeren Ganzen (schließlich auch: des ganz großen Ganzen); in dem nicht gilt, dass »hier ist Beginn und das Ende ist dort«.
Hat Helen Keller auch nach ihrer Entdeckung noch die Dinge singen gehört? Wenn ich ihre Biografie lese, denke ich, dass sie diesen mystischen Bezug zum Ganzen wahrscheinlich oft verloren aber immer auch wiedergefunden hat.
Der Menschen Wort
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn, und das Ende ist dort.
Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.
Ich will immer warnen und wehren:
Bleibt fern. Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.
Rainer Maria Rilke
Knapper geht es fast nicht. Zurecht ein großes Gedicht!