Diese Woche sind elf Flüchtlinge bei uns im Connectionhaus eingezogen. Zuerst kam eine vierköpfige Familie aus Afghanistan, dann eine eben so große Familie aus Syrien, gestern noch drei Männer aus Afghanistan. Von einigen haben wir schon die ihre Geschichten gehört, wie sie hergekommen sind und warum. Mit den vier aus Syrien ist gestern und heute so viel Nähe entstanden, dass Inge vorhin sagte: »Es ist wie Familie mit ihnen.« Wir laden uns gegenseitig zum Essen oder Teetrinken ein und verständigen uns so gut wir können. Mit den Syrern geht das einigermaßen in gebrochenem Englisch, mit den Afghanen mehr körpersprachlich, pantomimisch. Besonders die beiden kleinen Familien haben wir schon jetzt tief ins Herz geschlossen; sie leben mit uns auf einer Etage und sie waren die ersten. Jetzt sind sie zwei und drei Tage hier im Haus. Die Kinder fassen am schnellsten Vertrauen, dann die Frauen, dann die Männer.
Als ich gestern mit all den Eindrücken von unseren neuen Hausbewohnern ins Bett ging, waren mir die Reisen wieder präsent, die ich mit 18 und 22 in diese Länder (Türkei, Iran, Afghanistan, Syrien) unternommen hatte. Ich war dort als allein reisender Tramper fast immer in Familien, radebrechend mit meinen damaligen Grundkenntnissen in Türkisch und Persisch, die jetzt partikelweise wieder hochpoppen. Alle unsere neuen Bewohner haben Handys und halten auf die Weise mit ihrer Heimat Kontakt. Nicht alle der elf mögen einander von Anfang an, sie kommen aber dann doch miteinander aus, verständigen sich und helfen sich gegenseitig.
Mit uns im Gespräch und bei der pantomimischen Verständigung entspannen sich die Gesichter und zeigen sich in ihrer umwerfenden Schönheit, so dass wir alle vergessen, dass hinter ihnen Krieg, Flucht und Entbehrung liegen. Die junge Frau aus Kabul zeigt auf ihre Augen und sagt sowas wie »schischm«; ich sage »Auge« oder »Augen«, wir sprechen einander nach und sind glücklich. Ihr Mann kann ein paar Brocken Englisch und wundert sich, wie nah das Englische dem Deutschen ist: good, gut, persisch chub, auch das Persische ist ja eine indoeuropäische Sprache, so wie Sanskrit.
Der Sohn der beiden Afghanen (bald ist er drei Jahre alt) macht mit. Er redet, spielt, wirft sich auf den Teppich, lässt sich von mir jagen und quiekt, wenn ich ihn fange. Dann holt er sein Handy raus, klickt dort auf ein paar Zeichen in arabischer Schrift, bis ein Computerspiel sich öffnet und Menschen mit Gewehren auf Ziele schießen: Peng! Er will, dass auch ich die Stelle drücke, auf der es dann Peng! macht, immer wieder. Gestern hatte er ein Spielzeuggewehr in der Hand und schoß damit auf dem Gang der Wohnung rum, in der ich bis vorige Woche fast zwanzig Jahre gelebt habe mit meiner Katze Luzi, die er auch schon kennengelernt hat. Seine Oma ist von den Taliban erschossen worden, sagen die Erwachsenen. Wirklich? Erstmal glaube ich ihnen. Sie wirken ehrlich, manchmal weinen sie. Tod und Leben, Krieg und Frieden, Heimatverlust und neues Ankommen liegen sehr nahe beieinander.
ich freue mich über diesen Bericht, Wolf. Das ist das richtige Leben, eine echte Aufgabe. Ich wünsche allen neuen und alten Hausbewohnern das Beste. Es wird auch Schwierigkeiten und Krisen geben, aber hoffentlich vor allem positive Entwicklungen. Bitte schreib weiter darüber!
Ja, ich schreib weiter. Bin schon dabei. Es ist sooooo viel!!!!! Die Auswahl des zu Berichtenden ist das Schwierigste, und es daneben unendlich viel zu tun. Das Leben besteht ja nicht nur aus Schreiben, selbst für einen Autoren, der, wie ich, am liebsten 3-4 Stunden am Tag nur schreiben würde. Aber selbst wenn ich diese 3-4 Stunden aufbringen würde: Das Leben ist schneller als ich mitschreiben kann, vieeeel schneller …
Ja, ich freue mich auch über diesen kleinen Bericht. Jede offene Begegnung ist heilsam und „integrierend“ für beide Seiten oder? Unsere Natur ist Liebe. Das ist keine Theorie. Es will gefühlt und gelebt werden. Im Kleinen und im Großen. Mit Vertrauten. Mit vermeintlich Fremden. Auch mit Spielzeuggewehr und lautem „Peng“
lieben Gruß
Torsten
Danke für diesen anschaulichen Bericht wie es bei dir im Haus derzeit aussieht.
Ich finde es sehr lobenswert was du hier tust! Und ich hoffe dass du andere damit animierst, es euch gleich zu tun.