Die meisten Menschen empfinden Gerechtigkeit als einen ihrer höchsten Werte. Was aber ist gerecht? Kriege werden durchaus nicht immer um Ressourcen geführt, wie Marxisten und viele Wirtschaftshistoriker glauben. Oft ist »die Wiederherstellung von Gerechtigkeit« der Grund. Auch bei privaten Konflikten geht es ja nicht immer um Geld oder Macht, sondern oft vor allem darum, wer Recht hat. Eine Stufe tiefer: um Anerkennung.
Der israelisch-amerikanische Historiker Omer Bartov lehrt seit dem Jahr 2000 an der renommierten Brown University auf Rhode Island das Fach Holocaust und Genozid. Im Juni hat er Israel wieder mal besucht, dort hat er Verwandte hat und war dort auch mal Soldat. Nun beschrieb im Guardian die aktuelle Stimmung im Land.

Die »Osterweiterung« Deutschlands
Als Historiker des Holocaust und Genozids der Deutschen in der Nazizeit, sicherlich auch wegen seiner jüdischen Abstammung, hat Omer Bartov sich gründlich mit der »Osterweiterung« des Deutschen Reichs in den Jahren 1939 bis 1944 beschäftigt. Die Mehrheit Deutschen fand damals die Vernichtung der Sowjetbürger in dieser Zeit als gerechten historischen Auftrag, vom Führer, der Vorsehen oder dem Darwinschen Gesetz vorgeschrieben und insofern quasi unvermeidlich. Die in dieser Zeit durch die Wehrmacht und SS in der Sowjetunion Getöteten, Gequälten und dem Hungertod Preisgegebenen waren etwa 30 Millionen Menschen, vor allem auf dem heutigen Gebiet von Belorus und der Ukraine. Die Mehrheit der Deutschen empfanden diese Menschen damals als bolschewistische oder jüdische Untermenschen. Ohne Scham und Weinkrämpfe kann man sich als Deutscher diese Tatsachen heute kaum mehr vor  Augen führen – oder man verdrängt sie. Ebenso wie das Mitläufertum damals ist auch diese Verdrängung wieder eine Sache der Mehrheit. Wer das nicht mitmacht, ist in der Minderheit. Im aktiven Widerstand waren damals nur wenige. Und so ist es auch heute nur eine Minderheit, die diese Tatsachen nicht verdrängt.

Israel heute
Der Artikel von Omer Bartov, der diesen Sommer im Guardian erschien, ist lang, klug und sehr lesenswert. Er beschreibt dort seine Reise im Juni nach Israel, wo er war am 19. Juni an die Universität in Be’er Sheva eingeladen war. Dort sprach er mit Studenten, von denen einige als Soldaten bei der Besetzung des Gaza-Streifens mitgemacht hatten und das dortige Vorgehen der IDF (Israeli Defence Forces) als gerecht empfanden.
Omer Bartov hatte selbst als Soldat in der IDF ‚gedient‘. Das war 1973 im für Israel sehr erfolgreichen Jom Kippur Krieg. Dabei erlebte er die Besetzung des Sinai, des Gaza-Streifens und des Westjordanlandes. Nach seinen vier Jahren in der Armee schied er als Kompagnie-Chef der Infantrie aus der IDF aus.
Was Omer Bartov bei seinem aktuellen Besuch in Israel und dem Eintauchen in die dortige Stimmung so tief erschütterte war, dass ihm dabei die Ähnlichkeit der deutschen Geisteshaltung bei der Osterweiterung der Jahre 1939 bis 1944 mit der Israels bei seinem Vorgehen im Gaza-Krieg nicht entging. Sein Fazit: Israel ist heute im Selbstvernichtungsmodus. Diesem Fazit schließe ich mich hier an, denn wer, wenn nicht er, sollte das beurteilen können. Er, der Israel von innen her kennt, das Land liebt und dort Verwandte hat, erzählt und analysiert in diesem Artikel präzise, wesentlich und voller Mitgefühl, und schafft es dabei, nicht wild vor Wut und Schmerz um sich zu schlagen. Zugleich tief emotional berührt, weiß er doch auch um die politischen Fakten und die Psychodynamik, wie solch massenhafte Grausamkeit zustande kommt.

Gewalttäter im Opferbewusstsein
Auch die Deutschen der Jahre 1933 bis 1945 empfanden sich als Opfer – Opfer des Vertrags von Versailles, Opfer der sie umgebenden Nationen, die ihnen das ihnen historisch bestimmte Land streitig machen würden und Opfer der jüdischen Finanzelite, von der sie glaubten, sie würde die Welt regieren. Auch die Sowjetunion erschien in ihrem Bestand aus slawischen, jüdischen und bolschewistischen Untermenschen als Bedrohung. Nur wenn es uns Deutschen, der arische Herrenrasse, gelänge, diese Feinde zu unterjochen oder zu vernichten, würden die guten Gene der besseren Menschen sich durchsetzen, so ist es eben, das ewige Gesetz der Biologie, des survival of the fittest.
Bartov zitiert in seinem Artikel im Guardian als Beispiel für diese Geisteshaltung aus dem Brief eines Unteroffiziers der Wehrmacht, der im Juni 1941 von der Ostfront nach Hause schrieb (von mir aus dem Englischen rückübersetzt): »Wir Deutschen haben unserem Führer viel zu verdanken, denn wären diese Tiere, die hier unsere Feinde sind, nach Deutschland gekommen, dann wären hier Morde geschehen, wie die Welt sie noch nie gesehen hat … Was wir gesehen haben … grenzt ans Unglaubliche …. Und wenn man den Stürmer (das Nazi-Propaganda-Blatte, Anm. von Bartov) liest und sich die dortigen Bilder ansieht, ist das nur eine schwache Illustration dessen, was wir hier an Verbrechen von Seiten der Juden erleben.«

Hoffnung?
Ich schreibe das, weil ich der Nation angehöre, die in den Jahren 1939 die größtmöglichen Grausamkeiten beging, die sich Menschen ausdenken können, und diese mehrheitlich als gerecht empfanden. Weil ich mich in Pakistan schämte, als mir dort zugejubelt wurde, weil ich »ein Landsmann von Hitler« bin. Weil ich mich als Europäer dafür schäme, was dieser Kontinent aus dem Ende des Kalten Kriegs gemacht hat. Leo Ensel beschreibt das sehr überzeugend in seinem Brief an Gorbatschow auf Globalbridge. Was Gorbatschow 1989 eingeleitet hatte, war eine Chance, die ‚wir im Westen‘ in den Folgejahren aus Überheblichkeit verspielt haben. Und nun die Kriege in der Ukraine und in Palästina, es ist zum Verzweifeln. Wenn ich dann jemand wie Omer Bartov lese, der sich von allem menschlichen Leiden egal welcher Etnie so tief berühren lässt, dabei aber nicht rächen und »Gerechtigkeit wiederherstellen« will, sondern historisch, politisch und psychologisch kompetent erzählt, dann schöpfe ich wieder Hoffnung.