Vor ein paar Jahren wurden mein Mann und ich von polnischen „Wirtschaftsflüchtlingen“ – oder schreibe ich lieber EU-Mitbürgern(?) – aus unseren eigenen vier Wänden vertrieben. Das kam so: Uns gehörte damals die Hälfte eines  Zweifamilienhauses, in dem wir gemeinsam mit einer anderen Familie, die in der Erdgeschosswohnung wohnte, fünf  Kinder (zwei eigene) groß gezogen hatten. Nachdem unsere Mitbewohner in ein eigenes Domizil umgezogen waren, vermieteten sie ihre Hälfte des Hauses an eine polnische alleinerziehende Frau, die angab, dort mit ihren beiden halbwüchsigen Söhnen und ihrem Bruder (zu viert) leben zu wollen. Bei der Maklerin wurde uns ein Bruder von ihr vorgestellt. Wenig später entpuppte sich diese Person als ein Strohmann, der für den verlangten Gehaltsnachweis organisiert worden war – wir sahen ihn danach nie wieder.

In Wirklichkeit zogen kurz nach Vertragsunterzeichnung 6 Personen in die 4- Zimmerwohnung ein: Die Polin und ihr (offensichtlich alkoholkranker) Lebensgefährte, ihre zwei Söhne und der echte Bruder, nebst einer Untermieterin, mit der er sich im Keller ein Zimmer teilte. Wenig später kam noch die kranke Mutter, die kein Wort Deutsch sprach und deren Tochter dazu. Dafür wurde durch Einziehen einer Zwischenwand ein neues Zimmer geschaffen, in dem nun Mutter und Sohn (Mitte 30) gemeinsam hausten – die Untermieterin zog wieder aus. Die Stammbelegung erhöhte sich nun auf 4 Erwachsene und 3 jugendliche Kinder. Abends und am Wochenende gingen zudem jede Menge Besucher und Besucherinnen ein und aus. Manche davon blieben auch über Nacht und länger in den Ferien.

Die veränderte Lebenssituation

Von Anfang an wurde es laut im Haus und jede Menge ungewohnter Essensgerüche strömten aus der meist offen stehenden Wohnungstür in das Treppenhaus und drangen in unsere Wohnung. Ständig wurde an unserer Wohnungstüre geklopft, um sich Werkzeug und andere Utensilien auszuleihen – selten wanderten diese wieder unaufgefordert zurück. Manche davon vermissen wir bis heute. Als wir nach zwei Wochen unsere Bohrmaschine wieder haben wollten, war sie im Küchenschrank der polnischen Familie gelandet. An Ruhezeiten, die eigentlich im Mietvertrag festgeschrieben waren, hielt sich niemand. Besonders am Sonntag wurde regelmäßig gebohrt und gehämmert und fremde Menschen wuschen ihre Autos in unserer Einfahrt. Einmal wurde uns sogar ohne Vorwarnung das Wasser abgedreht – unsere Spülmaschine lief da gerade auf Hochtouren.

Alle Erwachsenen waren starke Raucher und qualmten auch in den Schlafzimmern. An warmen Sommertagen feierte man im Garten bis spät in die Nacht mit zunehmender Lautstärke, dem steigenden Alkoholpegel entsprechend.  Den ganzen darauf folgenden Tag  lagen dann die leeren Bierflaschen und Essensreste im Garten herum.  In der gemeinsam genutzten Waschküche häuften sich regelmäßig die Wäscheberge. Büsche und Bäume auf dem gemeinschaftlichen Grundstück wurden mit einer großen Axt gnadenlos abgehackt, wo sie im Wege standen. Ein Familien-Schwimmbecken  und ein Trampolin füllten zusammen mit unzähligen Wäscheleinen bald den Vorgarten aus. Zum Fußballspielen wurde nun die Straße benutzt, auch während Mittags- und später Abendstunden.

Versuch eines Zusammen-Lebens

Ich zähle mich zu den viel gescholtenen „Gut-Menschen“ und reagierte daher zunächst gut-meinend auf die Situation: Hilfsbereit stellte ich zunächst jedes gewünschte Utensil zur Verfügung, erklärte die Bedienung des Rasenmähers und die Aufteilung im gemeinschaftlich genutzten Wäschetrockenraum. Wenn die Kinder in der Einfahrt Fußball spielten, drückte ich ein Auge zu. Erst nachdem schon 2 Drittel der Tulpen im Beet ruiniert waren, bat ich die Mutter, ihre Jungs doch auf den Bolzplatz zu schicken – sie wollte das nicht!

Am meisten Arbeit machte mir die geordnete Mülltrennung: Nachdem die Papiermülltonne einmal wegen hinein geworfener Teppichreste nicht abgeholt worden war, kontrollierte ich sie jedes Mal vor dem Leerungstermin und fischte eigenhändig alle 14 Tage Hühnerknochen, andere Essensreste und sonstigen Müll wieder heraus.

Die krasseste Situation, in der meine Hilfsbereitschaft gefragt war, war die Verhinderung eines Fett-Brands: Der größere Sohn hatte mittags eine Pfanne voll heißem Öl auf dem Herd stehen lassen und sich dann in Computerspiele vertieft. Erst nachdem schon eine stärkere Rauchentwicklung aufgetreten war, die in Schwaden an meinem Küchenfenster im ersten Stock vorbei zogen, fiel ihm das wieder ein und ich konnte ihn gerade noch daran hindern, den Schwelbrand mit Wasser zu löschen. Seine Mutter war den ganzen Tag beim Arbeiten (Putzen).

Eskalation

Nachdem viele Gespräche, ein freundliches Grenzen-Setzen und andere vorsichtig angewandten pädagogischen Maßnahmen zu keinerlei merkbarer Verhaltensänderung führten, entstand zunehmend eine gereizte Stimmung im Haus. Wir versuchten über den Vermieter zumindest die Einhaltung der Hausordnung durchzusetzen, die trotzdem regelmäßig übertreten wurde. Irgendwann lagen die Nerven nur noch blank.

Als wieder einmal am Sonntag in der Mittagspause lautstarke Musik aus einem Radiorecorder im Garten erschallte, kam es zur ersten aggressiven Kollision: Wir pochten mit bestimmter Stimme auf unser Recht, dass Ruhezeiten eingehalten werden. Die Polin baute sich mit ausgefahrenen Ellenbogen vor uns auf und erklärte, dass sie sich am Geburtstag ihrer Halbschwester nicht die Feier von uns verderben lasse wolle …

Mehrere ähnliche „Begegnungen“ folgten, die Negativ-Stimmung eskalierte. Ihren Höhepunkt fand sie, als wir einmal, nachts um 2 in unserer Hilflosigkeit die Polizei geholt hatten, weil 30 Jugendliche (zusammen mit der Mutter) eine lautstarke Geburtstagsparty feierten und wir kein Auge zu bekamen. Kaum war die Polizei weg, wurde mit Fäusten gegen unsere Wohnungstür getrommelt. Da bekam ich zum ersten Mal richtig Angst – ich öffnete nicht. Am nächsten Morgen zeigten uns herumlungernde Jugendliche den Vogel. Spätestens da war klar, dass eine Partei aus diesem Haus verschwinden muss.

Nach dem deutschen Mietrecht gab es nur eine Option: Wir mussten gehen. Eine Kündigung der Mieter war nicht möglich. Also gaben wir unsere eigenen vier Wände auf, in denen wir bis dahin glaubten, alt zu werden und suchten für uns eine neue Bleibe. Am gleichen Ort wollten wir auch nicht mehr wohnen: Es hätte sich schlecht angefühlt, beim Einkauf im Supermarkt immer wieder unseren Vertreibern zu begegnen. Sie hatten sich durchgesetzt – unser bisheriger Lebensraum gehörte nun ihnen.

Etwa zwei Monate bevor wir dann wirklich auszogen, gab es dann noch eine erstaunliche Wende: Die polnische Sippen-Anführerin hatte ihren alkoholkranken Lebensgefährten hinaus geworfen. Plötzlich veränderte sich das Zusammenleben merklich: Auf unsere Lebensgewohnheiten und Ruhebedürfnisse wurde endlich Rücksicht genommen – geht doch! Zu Spät …

Rückblicke und Gedanken dazu

Dieser Albtraum liegt nun schon über drei Jahre zurück und doch bekommt er durch die gegenwärtigen Flüchtlingsthemen wieder eine neue Aktualität. Ich habe mich damals oft gefragt, welche tiefere „Vertreibungs-Thematik“ uns da eingeholt hatte. In meiner persönlichen Biographie und den Lebensläufen meiner Eltern gab es hier kriegsbedingt schon einige Ähnlichkeiten: Das Großelternhaus mütterlicherseits wurde von den Besatzungsmächten für einige Zeit mit zusätzlichen Bewohnern aufgefüllt, denen die besten Zimmer zur Verfügung gestellt werden mussten.

Der Großvater väterlicherseits floh vor den Nazis aus Wien nach München, weil er seinen Job in einer italienischen Firma durch ihren Einmarsch verloren hatte. Selbst bin ich in einem Drei-Zimmer-Häuschen groß geworden, wo für eine fünfköpfige Familie immer zu wenig Platz war: Der Platzmangel zwang uns dort zu wiederholten internen Umzügen und kreativen Neu-Arrangements der Betten, Schreibtische und Schränke. Ein eigenes Zimmer bekamen wir Kinder erst sehr spät durch Auslagerung ins Großelternhaus auf dem gleichen Grundstück.

Kampf um den Lebensraum

Im Existenzkampf um den Lebensraum, der sich in der Eskalation mit unseren Mitbewohnern sehr schnell auf ein „Wir oder Ihr?“ zuspitzte, kann ich allerdings beim besten Willen keine eigene „Überlebens-Thematik“ entdecken. Die gutmeinende Bereitschaft, zu einem gemeinsam begehbaren Weg zu finden, war bei mir echt – sie scheiterte, obwohl ich alle meine verfügbaren Fertigkeiten der gewaltfreien Konfliktlösung in die Waagschale geworfen hatte. Woran ist das gescheitert?

Äußerlich waren sicherlich das zahlenmäßige Ungleichgewicht 7:2 und die völlig unterschiedlichen Bedürfnisse und Bedürftigkeiten ein wichtiger Punkt. Zum Beispiel hatte das permanente ungewollte Passiv-Rauchen, schon morgens im Schlafzimmer, eine stark aversive Wirkung und führte bei uns auch zur Unausgeschlafenheit. Wir zogen insgesamt dreimal unser Schlafgemach um, in der Hoffnung, oberhalb eines Kinderzimmers wenigstens davon verschont zu bleiben.

Die fremde Kultur des „wir-nehmen-uns-einfach, was-wir-brauchen“ hat uns als achtsame und tendenziell rücksichtsvolle „Gutmenschen“ auch überfordert – mit gleicher Münze können wir so etwas nicht beantworten – so ticken wir einfach nicht! Unterschwellig lief da aber noch ein anderer „Film“ ab, wann immer es zu einer Konfrontation kam: Es kam uns so vor, als würde ein Kampf um Leben und Tod, zumindest aber um die eigene Existenz geführt, auch wenn wir zum Beispiel nur wollten, dass das Radio leiser gestellt wird. Ein Selbsterhaltungs-Instinkt, der auf Durchsetzung gepolt war, schien dabei „anzuspringen“ – einvernehmliche Problemlösungen waren dann kaum oder gar nicht mehr möglich.

Traumatische Prägungen

Solche Verhaltensweisen sind nach meinem Dafürhalten immer traumatischen Ursprungs. Irgendwann im Leben oder näheren Umfeld von Personen, die gleiche oder ähnliche Durchsetzungs-Energien an den Tag legen, ging es schon einmal oder öfter um Leben und Tod und/oder die eigene Existenzberechtigung. Schmerz- und Trauma-Abwehrstrategien wurden da geprägt, die in ähnlich anmutenden Fällen jederzeit aktiviert werden können.  

Es sind Automatismen, Überlebensstrategien, die unbewusst anspringen und dann einfach ablaufen, meist ohne Bewusstwerdung. Bei Menschen, die aus Gewaltsituationen geflohen sind – was wohl für fast alle Flüchtlinge gilt, die derzeit an unsere Türen klopfen – können wir geradezu davon ausgehen, dass solche posttraumatischen Reaktionen zu erwarten sind, wenn sie in Stress kommen oder es um ihre existenziellen Bedürfnisse geht.

Von unseren deutschen Mitbürgern,  die zu den ca. 14 Mio. im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg Vertriebenen gehören oder vom damaligen Schicksal ihrer Eltern oder Großeltern mitgeprägt sind, ist auch nicht wirklich anderes zu erwarten: Nie aufgearbeitete Vertreibungs-, Existenzkampf- und Trauma- Erfahrungen und damit verbundene Ängste werden automatisch durch die momentanen Ereignisse getriggert, ob wir uns dessen bewusst sind, oder nicht.

Bewusstheit hineinbringen

Ein naives „Wir-schaffen-das-schon“ ist sicher keine ausreichende Strategie, wenn es um solcherlei Dynamik geht. Sie droht zu scheitern, ebenso wie wir mit unserer naiven Gutmenschen-Haltung an unseren damaligen Mitbewohnern gescheitert sind. Wenn  wir es mit existenziellen traumatischen Erlebens- und Verhaltens-Mustern zu tun haben,  geht es zu allererst immer um den gegenseitigen Respekt und das Herstellen menschenwürdiger Verhältnisse für die Beteiligten: Die grundsätzlichen Lebens-Bedürfnisse aller Parteien müssen gesichert sein, bevor an Integrationslösungen erst gedacht werden kann.

Das gilt auch für die wohlmeinenden Helfer. Wenn die sich zu sehr verausgaben und dabei ihre eigenen Belastungsgrenzen überschreiten, kann das nicht dauerhaft gut gehen. In einer solchen Stress-Situation sind sie gefordert, mindestens genauso gut für sich selbst wie für ihre Betreuten zu sorgen – Abgrenzungs- und Selbstschutz-Fertigkeiten sind hier in besonderer Weise von Nöten.

Gegenseitige Herabwürdigungen

Trauma kratzt immer an der Würde des Menschen: Je tiefer jemand  als Opfer von Gewalt oder anderer existenzieller Bedrohung verletzt und gedemütigt wurde, desto öfter wird sich das in seinem weiteren Leben wiederholen – oft gleichermaßen in der Opfer- wie in der Täter-Rolle. Selbstvorwürfe oder Herabwürdigungen anderer sind unmittelbare Folgen davon –  auch ein Automatismus.

Die Respektlosigkeiten und extremen Symbole (zum Beispiel ein Galgen, an dem Politiker(innen) baumeln sollen), die in den gegenwärtigen Demonstrationen und teilweise auch in Talkrunden und Polit-Diskussionen aufgefahren  werden, sind in meinem Erleben Ausdruck davon, dass es ums Eingemachte  geht: Unser Lebensraum und unser Wohlstand scheint durch den nicht endenden Flüchtlingsstrom bedroht.

Mitgefühl, Furchtlosigkeit und gesunder Selbst-Erhalt

Trauma-Prägungen können sich nur dann auflösen und geheilt werden, wenn mit dem tatsächlich erlebten Leid mitfühlend, achtsam und bewusst umgegangen wird – dem eigenen und dem der anderen. Es braucht dafür ein offenes Sich-Berühren-Lassen-Können und ein furchtloses Eintreten für lebens- und menschenwürdige Verhältnisse auf unserem Planeten. Manche (zum Beispiel die buddhistische Äbtissin Pema Chödrön) nennen das die Haltung des „spirituellen Kriegers“. In der lebenslangen Einübung dieser inneren Ausrichtung lernen wir nach ihren Ausführungen, unsere eigenen zerstörerischen Gewohnheiten zu erkennen, sie zu durchbrechen und dabei unser (durch Furcht verhärtetes) Herz aufzuwecken.

Noch einfacher ausgedrückt, geht es dabei um einen gesunden Selbst-Erhalt, der meiner individuellen Entwicklung, meiner eigenen Heilung und zutiefst meinem Leben und dem meiner Umgebung dient. Aus dieser Einstellung heraus ist es unmöglich, anderen Menschen die gleichen Rechte zu verweigern oder abzusprechen, wer auch immer sie sind und von wo auch immer sie kommen. Und  es ist genauso undenkbar, dass ich mir aus dieser Haltung heraus von anderen diese Rechte nehmen lasse.

Der „spirituelle Krieger“ ist vom Wunsch beseelt, Leidfreiheit für alle möglich werden zu lassen – für sich selbst und für alle anderen. Manchmal braucht das klare Grenzen und Abstand nehmen und manchmal eine Zuwendung und ein Arme-Ausbreiten – alles zu seiner Zeit!