Das Thema der sozialen Bindung, das von vielen spirituell Bewegten als »Anhaftung« verurteit wird, interessiert mich seit einiger Zeit sehr. Der spirituell Befreite – im Hinduismus jivanmukta, von jiva, Leben und mukta, der Befreite – gilt als befreit von solcher Anhaftung. Ich vermute nun, dass die Tatsache, dass es in der spirituellen Szene so viele Beziehungsflüchtlinge gibt, mit dieser Fehleinschätzung von sozialer Bindung zu tun hat.
Spirituell beschränkt?
Tendenziell erlauben sich hinduistisch oder buddhistisch konditionierte Menschen (auch Taoisten und andere spirituelle Pfadfinder) den Nestbau nicht, das Verweilen in der Komfortzone und in positiven Gewohnheiten. Es sei denn, sie sind klug genug, dem Common sense den Vorzug zu geben gegenüber ihrer spirituellen Lehre. Therapeutisch betrachtet spielt als Grund für solche Fluchten auch Beziehungsangst eine Rolle, Angst vor Nähe (es könnte weh tun), Missbrauchserfahrungen und anderes. Das Phänomen lässt sich aber auch philosophisch betrachten. Es gibt da einen Denkfehler im System. Und da ich das Denken nicht ablehne, – ich als als meine Heiligkeit, ein Enneagrammtyp 5 😇 – wende ich mich diesem Denkfehler zu, der schon viele Spiris in die Irre geführt hat.
Nun rief kürzlich Klaus Peill vom TNL, dem deutschen Tantra-Newsletter dazu auf, für deren Novemberausgabe etwas über »Sex und Bindung« zu schreiben. Den TNL habe ich vor Jahren mal gegründet, jetzt wird er vom Tantranetz herausgegeben und von Saleem Riek, Regina Heckert und Peter Kammermeier redaktionell betreut. Sex und Bindung, ah, mein Thema, dachte ich, und gab den folgenden Text ab. Inzwischen ist er auch bei der »Liga der Leeren« erschienen, einer Gruppe anonymer Persönlichkeiten, die duch die Pseudonymität (sie haben erfundene Namen) ihrer Autoren dem Transpersonalen gerecht werden wollen. Nun der Text.
Leben Tantriker bindungslos?
Wer keine eigenen tantrischen Erfahrungen hat und nur von außen auf diese Szene blickt, kann so manchem Irrtum erliegen. Zum Beispiel diesem: Wer den tantrischen Weg geht, erlebt Liebe nur »im Hier-und-Jetzt«, also zeit- und bindungslos. Wer im Anderen das göttliche Gegenüber erkannt hat, erkennt es als Mann in jeder Frau, als Frau in jedem Mann – wie soll da etwas bleiben können, andauern, wie soll da eine Bindung entstehen, gar eine Paarbeziehung, die Konflikte übersteht?
Das Verschmelzen mit dem Partner ist aber nur die zweite Stufe auf dem spirituellen Weg (und ein »Verweilen« im Hier-und-Jetzt ist eigentlich ein Widerspruch in sich). Im Akt der Vereinigung entdecke ich, dass du, in die ich mich da gerade verliebt habe oder der ich im tantrischen oder sonst einem spirituellen Ritual oder in der Meditation gegenüber sitze, nicht nur die Person bist. Du bist nicht nur diese körperliche, psychische oder soziale Gestalt, sondern auch das, was hinter dieser Gestalt steht – du bist das ganze Gewebe, aus dem du entstanden bist, also auch alle deine Bindungen, deine Herkunft und sogar das, was dich überhaupt erst zu einer Gestalt macht, der Hintergrund. Durch die Liebe zu dir tauche ich ein in dieses Grenzenlose, Unendliche, das ich in dir erkenne.
Der Tropfen fällt in den Ozean, ich verschwinde in dir. Ich bin jetzt nur noch du, du, du, willenlos hingegeben, dir geschenkt, ans Universum verschenkt, aufs Süßeste in dir verloren. Aber was dann, nach diesem entgrenzenden Rausch? Bin ich danach wieder ich? Bist du danach wieder du selbst, wenn auch du dich im Akt der Liebe hingegeben hattest?
Zurück im Ich
Ja, danach kommen wir zurück. Wenn wir nicht sterben oder im Mahaparinirvana verenden oder so wie der Spinnenmann nach dem Akt von seiner Geliebten gefressen wird, kommen wir danach wieder zurück zu uns selbst. Im Grenzenlosen kann man nicht leben, jedenfalls nicht als soziales Wesen. Der Tropfen im Ozean ist unter den anderen Tropfen nicht mehr als Individuum erkennbar, er ist nun nur noch Wasser – also das, was er doch schon immer war. Auch die Ursuppe der Vorzeit, aus der wir alle vor 500 Millionen Jahren entstanden sind, enthielt immerhin schon Einzeller mit einer Zellmembran, die nicht alles durchließ, sondern semipermeabel war, also wertend, filternd. Diese zwischen erwünscht und unerwünscht wertende Membran separierte die Zelle vom Rest des Meeres. So separat sind auch wir heutige soziale Wesen: Nach der Verschmelzung sind wir wieder ich und du. Sonst könnten wir einander nicht wiedererkennen.
Auch uns Tantrikern ist es nicht »gleich gültig«, wer da gerade vor uns sitzt. Im Gegenteil! Wir schauen da zwar durch ein Fenster auf den Himmel, aber es ist uns nicht egal, durch welches Fenster wir schauen. Wir himmeln dieses Fenster an, durch das wir in diesem zeitlosen Moment gerade den Himmel sehen, als sei es der Himmel selbst. Wir verehren dieses Tor ins Grenzenlose, als gäbe es kein anderes Tor in den offenen, weiten Raum, der alles umfasst, dich und mich und auch alle anderen Gestalten, denn dieses Tor steht für alle anderen Tore, es repräsentiert sie. Dieses spezielle Tor verdient, von mir angehimmelt zu werden als etwas Einzigartiges, denn in seiner Einzigartigkeit steht es für jedes andere dieser endlos vielen, einzigartigen Tore. Du bist es! Ich will dich, dich, dich und nicht irgendwen!
Nun sind Berge wieder Berge
Dieser Wunsch nach persönlicher Erkenntnis und persönlicher Bindung inmitten des Grenzenlosen wird erst auf der dritten Stufe des spirituellen Weges erfüllt. Dann sind Berge wieder Berge und Flüsse wieder Flüsse, wie es im Zen heißt. Jetzt ist nicht mehr »alles eins«, sondern wir unterscheiden, nun aber im Bewusstein, dass alles zusammengehört. Du bist genau du, unverwechselbar, einzigartig, aber durch dich scheint Shakti hindurch, die große Göttin, und durch mich Shiva. Wir sind je eine von Milliarden von Manifestationen des Göttlichen, Numinosen, Gestaltlosen. Wir sind transparent: das Universelle, Archetypische scheint durch uns hindurch. Als Gestalten sind wir unverwechselbar, einzigartig, jeder ein Unikat, aber wir wissen nun, dass keine Gestalt ohne ihren Hintergrund existiert. In diesem Wissen können wir, wenn wir das denn wollen, uns erlauben, wieder und wieder durch dasselbe Fenster auf den Himmel zu schauen. Der sich bewegt. Und auch das Fenster bewegt sich, ebenso wie wir alle, die da schauen.
Sex und Bindung
Wie sehr bindet Sex? Kommt drauf an, ob die Praktizierenden dadurch ihre Identität verändern. Für Prostituierte und Pornodarsteller ist Sex nicht sonderlich bindend. Für einen Menschen, der in seinem ganzen Leben nur mit einem anderen Menschen Sex hat, ist das hingegen sehr bindend, so wie für uns ja auch »das erste Mal« herausragt und uns so in magischer Weise bindet – soziale Bindung ist immer Magie, denn sie suggeriert, ein bestimmter, unverkennbarer Jemand zu sein; was wir ja suchen, wollen, brauchen. Sex ist vor allem dann bindend, wenn es den Status ändert, die soziale Identität. Wenn du nach dem Akt »nicht mehr Jungfrau/Jungmann« bist, »die Ehe vollzogen« oder »Ehebruch begangen« hast, dann bindet (bzw. trennt) Sex. Das Sinnliche des sexuellen Aktes hat seine eigene Magie, aber diese Magie muss nicht bindender sein als ein Waldspaziergang im Frühling in deiner Heimat. Erst wenn du dadurch »ein anderer wirst«, ist Sex bindend.
Wir sind Fische im Ozean
Bindung ist das Gewebe, das uns als soziale Wesen zusammenhält. Sie ist das, woraus Beziehungen, Gesellschaften, Kulturen gebaut sind. Das Bindemittel ist dabei das Narrative: die Geschichten, die wir einander erzählen. Wie wir unsere Biografien erfinden und sie uns selbst und einander erzählen, das macht unsere Beziehungen aus, das gestaltet sie: Ohne dich wäre ich ein anderer. Ohne uns wäre die Gesellschaft eine andere, jeder einzelne von uns hat sie, wie minimal auch immer, mitgestaltet. Als Beziehungswesen sind wir eher wie Fische denn wie Tropfen im Ozean. Auch körperlich bestehen wir ja überwiegend aus Wasser, sogar für uns Landlebewesen gilt das; erst die Strukturen in diesem Wasser machen uns füreinander individuell erkennbar. Erst mit Inklusion auch des Gebundenen, Strukturierten ist die mystische Weltumarmung ganz. Dann brauchen wir Anhaftung nicht mehr zu meiden. Was eben noch Verstrickung zu sein schien, weil es noch unbewusst war und uns einengte, ist nun Vernetzung geworden, Bindung, Eingebundensein. Erst jetzt ist wirklich »alles eins«.