Seit einiger Zeit bin ich regelmäßig als Gastlehrer bei den Tantra-Festivals des BeFree-institutes auf Gut Frohberg dabei. Beim zurückliegenden Osterfestival hatte ich den Eindruck, Polyamorie ist ein Thema, das die Menschen dort stark bewegt. Und nicht nur dort. 

Das Thema dringt seit ein paar Jahren auch in die sogenannten seriösen Massenmedien ein, sogar im prüden Amerika und in der konservativen Schweiz, und es wird dort sehr vorsichtig gehandhabt. Vor ein paar Tagen las ich in der NewYorkTimes einen sehr langen Artikel (den zweiten Teil überflog ich wegen der Länge dann nur noch) über »offene Beziehungen«.

Ist mono sakrosankt?

Für diesen Bericht hatte eine Reporterin über Jahre Menschen dabei beobachtet und begleitet, wie sie ihre Mono-Beziehung (meist eine Ehe) für andere öffneten. Sie berichtete entwaffnend genau bis in Einzelheiten über die Gefühle der Beteiligten, das Zögern, die Bedenken, die aufkommende und verschwindende Eifersucht, den Mut oder fehlenden Mut dazu, die Ergebnisse für die betroffenen Ehen und Familien. Sie beschrieb dabei auch ihre eigenen Gefühle beim Beobachten und die Verhaltensweisen aller drei, vier oder mehr Beteiligten, so weit sie das konnte. Sie blieb dabei trotz aller Offenheit für Neues noch immer in der Perspektive, dass die Mann-Frau-Mono-Beziehung eigentlich irgendwie sakrosankt ist. (Ich konnte den Link grad nicht finden, aber die NYT schreibt öfter über das Thema.)

Typisch für unsere Zeit ist die »Perlenkette«

Ich selbst versuche das Thema weiter zu fassen als es dort beschrieben wird. Ich kenne Menschen, die sich in ihrem Single-Dasein wohlfühlen, andere in ihrer Mono-Beziehung, wieder andere in offenen oder polyamoren Beziehungen, wobei diese dritte Art, speziell die polyamore Variante, noch neu ist und noch nicht gesellschaftlich unterstützt wird, was sie viel schwerer lebbar macht als die anderen beiden Formen.

Konventionell gedacht lebst du entweder als Single oder in irgendeiner Art von Mono-Beziehung oder der Anbahnung einer solchen oder der Trennung aus einer solchen. Lang andauernde Beziehungen, das alte katholische Ideal, werden heute eher bewundert als für bieder oder retro erachtet. Typischer für unsere Zeit ist aber die »Perlenkette«: Man datet einen nach dem anderen, bettet sich in einer Beziehung nach der anderen, oft auf der Suche nach »dem Richtigen«, dem Traum- und Seelenpartner. Manche Perlenketten kommen auch ohne Traumpartner-für-immer-Romantik aus, da wird der Wechsel für einen sich entwickelnden Menschen als normal angesehen. 

Das Gewebe unserer Identitäten

Je näher man das Beziehungsleben eines Menschen betrachtet, umso komplexer und vielschichtiger sieht es aus. Niemand ist einfach nur »mono« oder »single«. Wir haben Bekannte, Freunde und dann auch, nicht immer, aber fast immer erwünscht: Intimbeziehungen. Meist, wenn es denn gelingt, genau eine solche, mit mehreren wären die meisten von uns überfordert. Diese Intimität sollte idealerweise eine sowohl körperliche wie auch emotionale und geistige sein, so wünschen wir uns das. 

Da die Ich-Identität jedoch eine sich wandelnde Größe ist, wie wir alle wissen, die sich auf dem Weg der Selbstentwicklung befinden, sind auch unsere Beziehungen, die Wir-Identitäten, sich wandelnde Größen. Es ergibt sich da also das Bild eines komplexen Gewebes von Ich- und Wir-Identitäten, sowohl für jeden Einzelnen wie auch für die ganze Gesellschaft. »Das Systemische« eben, die Ökologie der Kultur. 

»Es ist kompliziert«

Zurück zu »single, mono oder poly« (statt poly, das gibt es auf Facebook noch nicht, heißt die dritte Variante dort „in einer offenen Beziehung«). Diese Einordnung in drei Varianten (plus vielleicht noch eine vierte, die auch auf Facebook angeboten wird: »Es ist kompliziert«) wird zwar heutzutage in der Selbstdarstellung so vorgenommen, aber sie ist oberflächlich. In der Tiefe sind wir in gewisser Hinsicht immer alle drei Varianten zugleich – plus die Kompliziertheit. Wir sind allein, denn wir kommen nackt auf die Welt, und nackt gehen wir auch wieder. Im Sinne des grad eben beschriebenen Gewebes sind wir natürlich auch alle poly, komplex, vielfältig, auch in unserem emotionalen und körperlichen Liebesleben. Trotzdem ist in uns allen die Bereitschaft angelegt, einer Zweisamkeit – dem Mono – Priorität zu geben; bei einigen ist das stärker, bei anderen weniger, und immer ist dieser Wunsch und das Commitment zu seiner Erfüllung auch biografisch in Bewegung. 

Polyamorie

Am Pfingstsamstag werde ich auf dem BeFree-Festival einen Mini-Workshop zum Thema »single, mono, poly – Tragödie, Kabarett oder Tanztheater, Beziehungsgestaltung im tantrischen Raum« anbieten. Das Kabarettistische dabei, der »Leela«-Ansatz, das ist eh mein Ding, und er passt auch dort, im BeFree. Aus meinem eigenen Leben kenne ich das Dasein als Single, in einer Mono-Beziehung und auch die Polyamorie und habe darüber mal ein Connection-Sonderheft (Nr. 85, im Sommer 2009) gemacht. Hier sei mal noch schnell eine Definition nachgeschoben: Polyamorie ist das Leben in offenen, das heißt nicht-heimlichen Liebesbeziehungen zu mehreren Menschen, die auch Sexualität mit beinhalten können. 

Irgendwann mal vor Jahren habe ich hinausposaunt, dies sei die Beziehungsform der Zukunft. Ich denke nach wie vor, das der Trend dort hingeht, sehe inzwischen aber, wie anspruchsvoll das dabei kommunikativ zu Leistende ist. Vor allem an der klaren, offenen Kommunikation scheitern die meisten, und vor allem dann, wenn die soziale Umgebung das Experiment nicht unterstützt und auf ein Scheitern geradezu wartet. Auch das eigene Bedürfnis, einen anderen Menschen in hohem Maße besitzen und kontrollieren zu wollen, tendiert dazu, die polyamore Lebensweise massiv zu behindern. 

Selbsterkenntnis

Egal, ob sich ein Mensch für single, mono oder poly entscheidet, die jeweils anderen beiden Seiten dieses Dreiecks (!) bleiben präsent: Immer wirst du in gewisser Hinsicht allein sein und »für dich« Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen müssen. Immer wirst du irgendwen priorisieren, also mono ausgerichtet sein, egal ob nur für eine Stunde, eine Nacht, ein Jahr oder ein ganzes Leben. Und immer wirst du auch andere lieben und von anderen geliebt werden, auch wenn du das (aus Angst?) nicht kommunizierst oder es nicht wahrhaben willst. Ein Bewusstsein der Kontinuität dieser drei Linien, die mal schwächer, mal stärker ausgeprägt sind, erleichtert die Übergänge zwischen den drei Formen – das mono, single oder poly Dasein erscheint dann vielleicht nur noch als ein Oberflächenphänomen.

Sich selbst zu kennen hilft hierbei enorm. Die eigenen Bedürfnisse und Verhaltensmuster, die eigenen Wünsche und Befürchtungen zu kennen, hilft. Beziehungsgestaltung ist Identitätsgestaltung, und dazu braucht es Selbsterkenntnis. Ich muss einigermaßen wissen wer ich bin und wer du bist, um mit dir zusammen ein Wir gestalten zu können, sodass »wir« dabei nicht von anderen Identitäten und Kräften Gestaltete sind, also Opfer, dem Schicksal Ergebene, sondern von unseren eigenen Kräften Gestaltete. Unsere Ich- und Wir-Identitäten selbst zu gestalten ist das höchste, was wir als Schöpfer tun kann – darin besteht unsere »Göttlichkeit«.

Ramana Maharshi 2.0

Der indische Weise Ramana Maharshi prägte eine ganze spirituelle Bewegung, die des modernen Advaita Vedanta, mit der Frage »Wer bin ich?«. Für ihn war dies die einzig wesentliche und für jeden Erleuchtung Suchenden auch ausreichende Frage. Das ist Ramana 1.0. 

Und jetzt wieder ganz ernst: Ramana 2.0 ist das von mir angebotene Update dieses Frageprogramms. Dort lautet die Aufforderung nicht mehr: »Sage mir, wer du bist!«, sondern: »Zeige mir, wer du sein könntest!« Das wirkt nicht mehr nur mental, sondern ganzheitlich. Es ist die spielerische Variante der Selbstfindung. Keime von Identitäten, die in dir schlummern, können dabei in kathartischer Weise »ausgespielt« werden. Sie belasten dich dann nicht mehr, sondern verschwinden oder stehen dir in deinem Verhaltensrepertoire zur Verfügung.