Käthe Kollwitz zeichnete dieses Plakat für eine Demo 1924, zehn Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs.

Von lernfähiger KI war in letzter Zeit viel die Rede. Aber wie steht es in der Hinsicht um uns? Individuell wie kollektiv. Das große Kollektiv der Weltzivilisation jedenfalls scheint, was Krieg anbelangt, in den vergangenen hundert Jahren nichts dazu gelernt zu haben. 

Warum ist Deutschland heute nicht die Vorhut einer weltweiten Friedensbewegung?

Im August 1924, um den 10. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs, fanden in ganz Deutschland Massendemonstrationen statt. Zu denen hatte seit 1920 jedes Jahr der Aktionsausschuss der »Nie wieder Krieg Bewegung« aufgerufen. Wird es im August 2024, hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, der in den Jahren danach nur »Der große Krieg«, in Frankreich »La grande guerre« hieß, in Deutschland auch wieder Massendemonstrationen gegen Krieg geben? Oder wird dieses Land dann noch tiefer verstrickt sein in die aktuellen Kriege in der Ukraine, in Palästina, im Yemen und wer weiß wo noch. 

Das Land, das die zwei schrecklichsten Kriege der Menschheit initiiert hat, könnte heute aufgrund dieser Erfahrung die Fackel der Vorhut einer weltweiten Friedensbewegung sein. Das wäre ein angemessener historischer Auftrag für dieses Land, um das Thema der Schuld hier mal weg zulassen. Und es sollte sich entschieden einsetzen für Abrüstung und Entmilitarisierung und darauf beharren, dass internationales Recht und transnationaler Konsens Gewalt gegenüber Individuen, Nationen und Kollektiven jedweder Art effektiv verhindern muss. Ja aber …. heißt es dann so oft. Mit einem Putin würde das nicht gehen und mit einem Baschar al-Assad oder Kim Jong Un auch nicht, sie seien eiskalte Machtmenschen und nicht verhandlungsbereit. Dass Putin nicht verhandlungsbereit war oder wäre, ist ein oft wiederholter Mythos. Und selbst wenn er oder sonst ein Potentat nicht verhandlungsbereit wäre, müsste man »die Verhandlungsbereitschaft herbeiverhandeln« wie Heribert Prantl von der SZ in seiner Kolumne kürzlich schrieb. 

Persönlich betroffen

Käthe Kollwitz zeichnete das oben gezeigte Plakat für die sozialistische Arbeiterjugend in Leipzig, die sich 1924, zehn Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs, dort versammelte, und schaffte damit eines der bis heute bekanntesten deutschen Anti-Kriegsplakate. Sie war nicht nur kollektiv entsetzt über die Kriegslüsternheit ihres Landes, sondern auch persönlich vielfach betroffen. Ihr Sohn Peter 1914 starb schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs in der ersten Flandernschlacht. In der Nazi-Zeit galt ihre Kunst als entartet, und die weltweit schon damals sehr geachtete Künstlerin durfte in Deutschland nicht mehr unterrichten und nicht mehr ausstellen. Im Zweiten Weltkrieg starb ihr Enkel Peter – er hatte sich den Nazis angeschlossen und wollte nicht »der Enkel von Käthe Kollwitz« sein. 

100 Jahre und nichts gelernt

Mir fällt dazu auch der Aphoristiker und Satiriker Karl Kraus ein und sein Drama Die letzten Tage der Menschheit, das sein Fazit aus dem Wahnsinn des Ersten Weltkriegs war, der Initialkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Hundert Jahre später sieht es so aus als hätten wir nichts dazu gelernt. Wie kann ein Land, das die zwei schrecklichsten Kriege aller Zeiten initiiert hat, nun versuchen wieder »kriegstüchtig« zu werden, frage ich mich. Und wie kann der Politiker, der dieses Wort in den Ring wirft, damit zum in Deutschland populärsten aller Politiker aufsteigen? Während der aus Gewissensgründen mit Waffenlieferungen zögernde Kanzler dafür von den Medien verspottet wurde und heute unpopulärer ist, als je ein Kanzler in diesem Land es war. Der bittere Sarkasmus eines Karl Kraus – »Die letzten Tage der Menschheit« war sein Fazit aus dem Desaster des Ersten Weltkriegs – ist mir heute verständlicher denn je. Ebenso Tucholskys Tod von 1935, nachdem er die Hoffnung verloren hatte, »gegen einen Ozean anpfeifen« zu können.

Deutsche Rüstungsexporte auf Höchststand

Noch nie hat Deutschland so viele Rüstungsgüter ins Ausland verkauft wie im Jahr 2023, schrieb der Krautreporter kürzlich. Laut Zahlen des Wirtschaftsministeriums stiegen die Rüstungsexporte in 2023 auf 12,2 Milliarden €, das ist fast ein Drittel mehr als die 9,4 Milliarden im bisherigen Rekordjahr 2021. Die meisten Exporte gingen mit 4,4 Milliarden im vergangenen Jahr in die Ukraine, schrieb die Tagesschau in ihrer Zusammenfassung.

Russland besiegen?

Am 26. Jan schrieb die Washington Post, die USA würden 2024 nicht mehr versuchen, der Ukraine dabei zu helfen »verlorenes Terrain zurückzugewinnen«, sondern nur noch ihre Postion zu halten, und selbst ein Die-Position-Halten setzt die Zustimmung der Republikaner voraus, die im US-Kongress die Mehrheit haben. Sollte Trump im November gewinnen, werden sich die USA sowieso aus diesem Krieg zurückziehen. So schnell ändern sich die Strategien. Unsere Außenministerin wollte noch vor Kurzem »Russland besiegen« und verweigerte sich deshalb einem Waffenstillstand. Russland besiegen, das wollten auch schon Napoleon und Hitler. Beide erträumten sich eine Art Blitzkrieg gegen das vermeintlich schwache Russland und zogen ohne Ausrüstung für den Winter in dieses riesige Land im Osten. Nun will unser Verteidigungsminister Deutschland »kriegstüchtig« machen und ist damit (oder sogar deshalb?) der aktuell mit großem Abstand populärste deutsche Politiker. Ein Zyniker würde wohl sagen: Wir haben die Politiker, die wir verdienen. Einsicht jedenfalls haben ‚wir Deutschen‘ wieder einmal nicht, und auch der Rest von Europa ist in der Welt leider kein Vorbild mehr – nicht für Friedenswillen und auch nicht für ein gemeinsames, transnationales Vorgehen.

Das Völkerrecht ist uns doch egal

Wenn es um die Vertretung von Interessen der aktuellen Regierungen von Israel und den USA geht, ist den westlichen Staaten das Völkerrecht ziemlich egal, schreibt Jens Berger auf den Nachdenkseiten. Wenn es sich andererseits gegen Russland verwenden lässt, ist das Völkerrecht jedoch auf einmal ganz wichtig. Auch dann, wenn wie bei der Annexion der Krim durch Russland, diese Annexion dem Willen der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung entspricht, was für demokratisch Gesinnte doch eigentlich eine Rolle spielen sollte. Warum nennen wir diesen Anschluss an Russland dann nicht »Befreiung von der widerwilligen Zugehörigkeit zur Ukraine« und bedauern dafür lieber die Katalanen, dass Spanien sie nicht freigibt, obwohl doch immerhin die Hälfte der Katalanen nicht mehr zu Spanien gehören will (ähnlich übrigensdie Schotten in Bezug auf das Vereinigte Königreich)? Weil Putin ein Böser ist, eine Art wiederauferstandener Adolf Hitler, den die Financial Times mal den ‚Goldstandard des Bösen’ genannt hatte. Dass 70% der Russen hinter Putin stehen, kann dann nur Ergebnis der russischen Propaganda sein, während wir im gesegneten Westen den Medien gratulieren dürfen, uns so unvoreingenommen zu informieren. So funktioniert Propaganda: Die davon Gehirngewaschenen halte diese Beeinflussung für ausgewogene Information. Das gilt für jede der vielen Echokammern, auch die unsere.

De facto ist es nach wie vor so, dass in der Welt das Recht des Stärkeren gilt, nicht das Völkerrecht. Um das zu ändern, müsste sich die UNO radikal ändern.

Deutsche Doppelmoral mit wirtschaftlichen Folgen

Der Nahost-Kenner Michael Lüders liefert immer mal wieder kluge Analysen über das Pulverfass Naher Osten (hier 41 min lang, vom 21.1.24). Mit einem Ausblick auch darauf, wie es in der Region weitergehen könnte, weil nun mit den Anschlägen von den und gegen die Huthis auch der Yemen mit einbezogen ist und sich nun anscheinend auch Deutschland an diesem Krieg militärisch beteiligen wird. Zur Ergänzung der politisch-wirtschaftlichen Analyse von Michael Lüders verweise ich auf meine Samstagskolumne Vom Framing zum Blaming auf zeitpunkt.de. Damit will ich der politischen Dimension eine wahrnehmungspsychologische hinzufügen und den Fokus abwenden vom moralischen Argument, hin zu einem Verweis auf die Kognition: Wir treffen dumme Entscheidungen, weil wir so eingeschränkt wahrnehmen.

Ist Dummheit gefährlicher als Bosheit?

Der von den Nazis ermordete Dietrich Bonhoeffer ist sogar der Ansicht, dass Dummheit gefährlicher ist als Bosheit. Seine Theorie der Dummheit ist hier in einem gut 6 min langen Film illustriert und vertont (Skript: Jonas Koblin, mit Zeichnungen von Pascal Gaggelli). Er hat das über die Nazi-Zeit geschrieben, aber es gibt auch heute dummes Mitläufertum. Wenn man Bonhoeffer darin folgen will, ist dummes Mitläufertum sogar gefährlicher als Bosheit. Weil er sich dem Nazi-Regime widersetzte und an einem Komplott zur Ermordung Hitlers teilnahm, wurde Bonhoeffer im April 1943 verhaftet und zwei Wochen vor der Befreiung des KZ Flossenbürg am 9. April 1945 dort hingerichtet.

Deserteure aller Länder, vereinigt euch!

Jetzt konkret: Was können wir tun? Ich selbst werde keine Internationale der Kriegsgegner gründen, würde aber einer solchen beitreten. Deserteure aller Länder, vereinigt euch!, könnte dafür ein Slogan sein. Damit wäre nebenbei auch der Klimabewegung gedient, denn nichts zerstört so viel Umwelt, Wasser, Boden und Luft wie das Militär, in heißen wie in kalten Kriegen. Die Kalten, die sich als »Verteidigung« oder »Wehrhaftigkeit« tarnen, heute sogar als »Kriegstüchtigkeit« sind ja immer eine Vorbereitung auf den Ernstfall des heißen Krieges. Wenn man die Waffen einmal hat, wird sich schon ein Grund finden, sie anzuwenden, darin hat sich der menschliche Intellekt bisher als unendlich einfallsreich erwiesen.