Ich kenne Rainer seit den späten 80er Jahren – hier ein Bild von einem Besuch von ihm bei uns im Connectionhaus Anfang der 90er Jahre. Wie so viele, habe ich in ihm immer eine Ikone der 68er gesehen. Aber nicht nur das, ich habe in ihm auch einen spirituellen Menschen getroffen, einen Suchenden nach tiefer Liebe. Einen politischen Revolutionär, den die Verzweiflung über diese schier unheilbare Gesellschaft nicht in die Gewalt getrieben hat wie die RAF, sondern in die Transzendenz, die Suche nach dem Jenseits, das dem Diesseits auflösend und befreiend gegenüber steht. Ein Jenseits, das nicht gegen das Diesseits ist, sondern ihm heilsam gegenüber steht. 

Nun wurde bei Rainer, der, 1940 geboren, im April seinen 82. Geburtstag feierte, im vergangenen Jahr ein unheilbarer Prostata-Krebs festgestellt. Hat ihn das umgehauen, verbittert oder fatalistisch gemacht? Nein. Ein halbes Jahr nach der Krebsdiagnose sagt er, es ginge ihm sehr gut und wiederholte das in verschiedenen Interviews. Es sei für ihn so, als sei Krebs ein Jungbrunnen. 

Zeitdiagnose 2022

Ein paar Monate später, im Mai 2022, ist sein Buch »Nach innen« erschienen, herausgegeben von der Journalistin und Filmemacherin Christa Ritter. Mit dem Untertitel »Startup fürs richtige Leben nach dem falschen; Korona, Krebs und Krieg« fasst er darin nicht nur sein eigenes Leben »68 und danach« zusammen, sondern auch die Corona-Zeit und streift auch schon den Ukrainekrieg. Rainers Buch ist eine Zeitdiagnose aus dem Jahr 2022 und zugleich ein Buch über das Sterben. Rainers Sterben, aber auch das Sterben unserer Kultur, die durch Scheitern stirbt, wie seine Herausgeberin Christa Ritter es nennt: »’Sterben’ durch Scheitern, wo es außen nur noch brennt« und »wir sogar in einen Krieg eingestiegen sind«. 

In der Korona-Pandemie sieht Rainer einen Weckruf und bleibt dabei zugleich unbeugsamer Kapitalismuskritiker und spiritueller Optimist; ein Bogen, der mir partout nicht gelingen will: »Mit diesem Kapitalismus haben wir die ganze Welt ruiniert und sind nun gezwungen, damit aufzuhören. Corona zwingt uns dazu«. Ach, wirklich? Es ist wohl schon ein paar Monate her, dass Rainer das gesagt hat. Sein Buch, dieses Spätwerk und vermutlich sein letztes, ist eine Sammlung von Aussagen, die er 2021 und 2022 gemacht hat, über sich selbst und die Welt, in einem Buch zusammengefasst von Christa Ritter.

Kämpfen, lieben, sterben

Und hier fasst er, nun als Sterbender, seine 68er Erfahrung zusammen: »Ich habe durch 68 nie mehr gekämpft, habe jeden Kampf aufgegeben. Seitdem lerne ich mehr lieben, und das fühlt sich zunehmend gut an. Insofern habe ich den 68er Auftrag, lieben zu lernen, tatsächlich versucht zu erfüllen. Ich würde sagen: Heute kann ich mehr lieben als damals, und ich hoffe, dass das dazu beiträgt, dass ich auch schön sterben kann. Auch den Tod, auch das Sterben zu lieben, ist natürlich das schwerste, was hier im Westen kein Mensch hinbekommt. Ich glaube, dass mir das ein bisschen gelingen wird, und ich freue mich darauf, diesen Weg bis zu dem so genannten Ende zu gehen, was der Anfang eines richtigeren Lebens ist.«

Ob er etwas vermisst, fragt ihn ein Journalist. Rainers Antwort: »Nein. Ich habe damals versucht, mit den üblichen Ekstasetechniken wie Sex, Drugs & Rock’n Roll wieder zum 67er Gefühl zurück zu finden. Ist mir nicht gelungen. Erst dieser Weg der Meditation hat mich überzeugt. Er ist auf meiner To-do Liste das einzige für die verbleibende Zeit.« Die Krebserkrankung verstärkt für ihn dieses Gefühl nochmal, »in dem sie klar sagt: Du wirst sterben«.

Spiritualität fürs Volk?

Mich fasziniert Rainers Ausdrucksweise, wie er in diesem Buch, wie wohl schon immer, völlig ohne Kitsch-Zensor Dinge ausspricht, die alle beschäftigen. Auch wenn nur wenige sich mit diesen Themen so unverblümt – manche würden vielleicht sagen »platt« – damit outen, wie er das tut. Er war sich nicht zu schade, im »Dschungelcamp« mitzumachen. Er gibt der BILD-Zeitung Interviews über seinen »Harem«, der nie einer war, sondern eher ein gemeinschaflticher Zusammenschluss von ein paar Selbsterforscherinnen, die sich auf Rainer als Impulsgeber ausrichteten. So versucht er den Lesern der Yellow Press und den TV-Voyeuren etwas von seiner Botschaft zu vermitteln, damit diese nicht nur den philosophisch oder politisch Gebildeten vorbehalten bleibt, oder den spirituell Praktizierenden unter uns. 

Gelingt ihm das? Ich bezweifle es. Bisher werden seine Botschaften nur von einem kleinen Kreis seiner Fans ernst genommen. Vielleicht auch von sehr viel mehr im Verborgenen wahrgenommen, wie Christa Ritter meint. Verständlicherweise spottet der Mainstream eher über ihn, auch wenn sie seinen Namen im Kontext des ein oder anderen ‚verrückten’ Themas immer mal wieder nennen. Der Alt-68er Rainer Langhans, der sich von dieser Bewegung nie distanziert hat, ist halt immer noch ein Thema. 

Schöner Sterben

Und nun seine Praxis des täglichen Sterbens. Damit hat er mal wieder mal ein Tabu unserer Gesellschaft am Wickel. Sex, Macht & Geld, Korona, die Globalisierung, »der neue Mensch« von Nietzsche, Hitler und Co, Tabus fand Rainer schon immer interessant. So weit so gut. Wenn er nun aber seinen Prostatakrebs ein Geschenk nennt und eine »Liebesgabe seines Meisters« werden ihm die Massen darin wohl kaum folgen wollen. 

Und wenn er dann (S. 30 im Buch) in diesem Kontext sagt: »Ich fühle mich besser denn je. Diese elenden Prostatabeschwerden sind alle weg. Ich habe fast wie früher ein normales Ausscheidungsverhalten« und findet das »fast schon euphorisierend«, staune ich und wünsche mir, dass dieses Glücksgefühl Bestand hat. Vielleicht ist da ja wirklich was dran, dass »der Geist stärker ist als der Körper«. Einerseits. Andererseits aber müssen wir den Körper ehren, denn darin wohnt der Geist. Rainers Euphorie über das schöne Sterben kann auch kippen, das weiß er selbst: »Es wird schon noch anders kommen, du wirst noch sehen, das weiß man ja alles nicht!«

Rainers Themen durchziehen das Buch in ständig fliessenden Varianten. Wir müssen das Körperliche überwinden, das sagt auch sein »Meister«. Wir müssen auch die Sexualität überwinden, »die im Osten« (er meint Asien) wissen das, »wir im Westen nicht«. Seine Prostatakrebstherapie ist eine Hormontherapie, keine Chemo, sie senkt seinen Testosteronspiegel auf null, »der feuchte Traum der Feministinnen« (hier ist er mal richtig witzig). Und immer wieder das Jahr 1968, das war für ihn ein Blick ins Paradis, eine Erleuchtung, die dann leider wieder erlosch, weil die Kräfte des Alten so stark waren. Er aber, Rainer, hält die Flamme der Erkenntnis hoch und gibt nicht auf, und sein Weg »nach innen« ist der, den wir alle gehen müssen, früher oder später, wenn wir glücklich werden und lieben lernen wollen.

»Alles Private ist politisch«

Mit am interessantesten finde ich Rainers Begrüßung des Internet als eine Art weltweite Kommune, die uns alle verbindet, weil sie das Private aufhebt. »Alles Private ist politisch«, das war ja schon immer seine These«, und damit hat er sicherlich Recht. Nur, dass das Private deshalb auch keinen Schutz verdient, darin stimme ich ihm nicht z’. 

(S. 60): »Die Privatsphäre schützt uns nicht. Wenn wir Privatbesitz leben, führen wir Krieg. Jeder Besitz führt zu Krieg, das hängt unmittelbar zusammen. Denn dein privatester Besitz sind deine Gedanken. Deine ‚inneren Daten‘. Nicht die Metadaten, also das, was der Körper tut. Und diese ‚inneren Daten‘ gibt Facebook frei. Dadurch entsteht der höhere Geist des Friedens, der Freundschaft, des Miteinanders.« 

Dieses Schönreden der Datenkraken ignoriert völlig, dass die immer lauter kreischenden Echokammern, in die das Geschäftsinteresse von Facebook per Empörungsspiralen geführt hat, keineswegs Frieden, Freundschaft und Miteinander gefördert hat, sondern z.B. die USA in zwei unversöhnliche Teile gespalten hat. Und nicht nur die USA. Auch die Befürworter und Gegner der Coronamaßnahmen, der mRNA-Impfungen, der Waffenlieferungen an die Ukraine und nun die Ökoaktivistinnen der »Letzten Generation«. Die Dialoge sind erschwert, die Fronten verhärtet. 

Ist Datenschutz überflüssig?

Dass der allseits so gepriesene Datenschutz allerdings eine Farce ist, da gehe ich mit Rainer konform. Schützt mich das Wegklicken der Cookies? Keineswegs. Schützt es mich, dass ich bei Arztbesuchen, Behörden’gängen’ im Internet oder dem Kauf von Kleinigkeiten seitenlange Datenschutzvorschriften, die ich nicht einmal verstehe, als gelesen und verstanden blind unterzeichnen muss, um damit nicht wertvolle Lebenszeit mit Bürokratie zu vergeuden? Mitnichten. Und es ärgert mich, dass ich damit auch noch hoch bezahlte Juristen mitfinanziere, die bei dieser Arbeit wahrscheinlich menschlich abstumpfen und diesen Bullshit nur fürs Geld machen. Für deren scharfen Verstand gäbe es auf unserer krisengeschüttelten Welt doch wirklich was Besseres zu tun. Wenn es wirklich Privatsphärenschutz geben soll, muss das anders gemacht werden. Vielleicht muss dafür wirklich der Kapitalismus verschwinden als das das die Welt dominierende Wertesystem – vielleicht ist auch das ein Punkt, bei dem ich mit Rainer konform gehe. Aber nicht bei der Verherrlichung der Preisgabe aller Privatheit im Internet.

Ein Hoch auf das Nonforme, Quere!

Fazit: Wer sich für den spirituellen Weg einer 68er Ikone interessiert und Anstöße für unkonventionelles Denken sucht, besorge sich dieses Buch! Es gibt reichlich Anstöße zu nonkonformem Denken, denn Rainer ist ein unbequemer Prophet, ein Dissident, ein Abtrünniger – des Mainstreams schon lange, aber dann auch aller alternativen Subkulturen. 

Wer einen anderen Zugang zum Tod und dem Sterben sucht und nicht Weisheiten zum Abnicken und Befolgen, kann mit diesem Buch reichlich belohnt werden, meine ich. Vielleicht ist dieser so andere Zugang zum Sterben die größte Stärke dieses Spätwerks des Rainer Langhans. Möge es uns die Türen öffnen zu einem neuen Verständnis des Todes, das unsere Gesellschaft so dringend braucht!

Wer in diesem Buch allerdings Weisheitsliteratur sucht, wird hier eher nicht fündig. Bei aller Freude am Einfachen und Boulevardesken sind mir Rainers Thesen dann doch zu platt.

Rainer Langhans: Nach innen – Startup fürs richtige Leben nach dem falschen; Korona, Krebs und Krieg. Juni 2022. 268 S. Softcover, 15.80 €. ISBN ‏ 978-3000719387