Angeregt von den neuerlichen Skandalen über die Person Osho und der Beschäftigung mit meiner eigenen Geschichte, die ich mit dieser Person habe, fand ich unter der Überschrift »Personenkult« in der Februarausgabe 2007 meiner Zeitschrift Connection einen Artikel von mir zum Schwerpunktthema »Autorität und Führung«.
Als Einleitung schrieb ich: »Wie Zauberlehrlinge basteln wir an unserer Autorität, denn unser gesellschaftlicher Erfolg hängt davon ab, wie sehr wir anerkannt sind. Wer dabei allerdings nicht weiß, wie Autorität entsteht und wirkt, wird die Geister, die er rief, dann auch kaum wieder los und ist Führern und Idolen, der Magie von Aufstieg und Absturz, dem ganzen gesellschaftlichen Drama ausgeliefert. Erst jenseits der Welt des Personalen, in dem Autoritäten wirken und wir führen oder folgen ist Ruhe: im Transpersonalen.«
In vergrößerter Schrift wurde der Artikel von folgenden ‚Seitenaufmachern‘ begleitet, die versuchen, seine Essenz wiederzugeben:
»Von unserem Gröfaz (größten Führer aller Zeiten) so gründlich ins Verderben geführt worden zu sein, das sitzt.«
»Erst in der mystischen Verschmelzung mit dem Ganzen ist Freiheit von Herrschaft erreichbar, nicht auf der politischen Ebene.«
»’Unser Kult heißt ausschließlich: Pflege des Natürlichen und damit auch des göttlich Gewollten‘, sagte Adolf Hitler im Jahr 1938«
»Wir sind beeindruckt und wollen beeindrucken, das ist das autoritäre Prinzip.«
»’Leader sollten führen, solange sie können, und sich dann in Luft auflösen‘, schrieb H. G. Wells« (britischer Schriftsteller, 1866-1946)
»Als in den 70er Jahren das indische Poona zum ‚Esalen des Ostens‘ wurde, zum weltweit größten, innovativsten und im Experimentieren mutigsten Zentrum für die Therapien der humanistischen Psychologie, war dort unter all den Gruppen die Encounter-Gruppe die berühmt-berüchtigste. Deren Leiter Teertha (heute nennt er sich Paul Lowe) wurde einmal gefragt, was denn in diesen Gruppen das größte Thema sei. Was bewegt die Menschen in der Tiefe – dann, wenn alle Masken gefallen sind – am meisten? Seine Antwort war: Autorität und Sex. Diese beiden Themen bewegen uns Menschen unterhalb der Oberfläche des alltäglichen sozialen Geplätschers mehr als alles andere.
Gerade habe ich bei wikiquote.org, der Zitatseite der Wikipedia-Enzyklopädie, das Wort ‚Autorität‘ nachgeschlagen. Auf der deutschen Seite finde ich dort unter den Zitaten eines von dem französischen Anarchisten Proudhon: ‚Die Autorität ist also die erste soziale Idee des menschlichen Geschlechtes. Die zweite bestand darin, unmittelbar an der Abschaffung der Autorität zu arbeiten‘. Auf der englischen Seite finde ich unter ‚Authority‘ gar nichts, umso mehr allerdings unter ‚Leadership‘. Unter ‚Führung‘ wiederum finde ich auf der deutschen Seite nichts. Führung – in Deutschland lieber nicht?
Führung ist gut!
Das erinnert mich an das Weltforum 1995 in San Francisco. Nur wenige Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges hatten sich dort an die tausend Menschen aus aller Welt versammelt. Inspiriert von Esalen-Leuten, unter ihnen vor allem James Garrison hatte sich dort unter dem Vorsitz von Michael Gorbatschow eine erlesene Gesellschaft eingefunden, um eine ‚Zivilisation des 21. Jahrhunderts‘ zu entwerfen: Abschaffung der Atomwaffen, Beseitigung der Armut, keine Kriege mehr, eine gerechte Wirtschaftsordnung, religiöse Toleranz. Ein weiterer Schwerpunkte dieser Vordenker war ‚Leadership‘. Ich staunte: Diese friedliebenden, alternativ denkenden Leute bewunderten Menschen, die ‚leaders‘ waren, die führen konnten, und sie bemühten sich, eben das von ihnen zu lernen. ‚Führung‘, das war für mich bis dato vor allem Big Business und politischer Missbrauch. Neugier trieb mich dennoch in einige dieser Diskussiongruppen, und dort überraschte mich, mit welcher Selbstverständlichkeit hier von den Initiatoren gesellschaftlicher Neuerungen Führungsqualitäten verlangt wurden.
Führung ist schlecht!
Bei mir jedoch dauerte es noch Jahre, bis ich mich von der Überzeugung lösen konnte, dass Führung ‚an sich‘ etwas Schlechtes ist. Wir Deutschen sind bei diesem Thema eben sensibler als andere Nationalitäten: Von unserem Gröfaz (größten Führer aller Zeiten) so gründlich ins Verderben geführt worden zu sein, das sitzt. Aber nicht nur mein Deutschsein hat mich in der Hinsicht sensibilisiert. Auch die antiautoritäre Bewegung hat das getan, die ja keine deutsche war, sondern eine westliche: Der Anarchismus hat französische und russische Wurzeln, die Rebellion der Rockmusik ist amerikanischen Ursprungs, die Leitfigur der antiautoritären Erziehung war ein Engländer (A. S. Neill). Alledem liegen gute Ideen zugrunde: Jeder Mensch sei frei! Keiner bestimme, keiner richte über einen anderen! Geld, Adel, Rasse, Nationalität, Religion, all das möge nicht als Vorwand gelten, um andere Menschen zu unterjochen oder zu demütigen. Alle Menschen sollen gleich Rechte und gleiche Chancen haben – wie schön, wie gut, wie idealistisch!
‚An-Archie’ als mystisches Ziel
Inzwischen meine ich, dass das Führen im Sinne eines Navigierens und Bestimmens einer Richtung so wesentlich zum Menschsein gehört wie das Denken, Fühlen, Urteilen und Entscheiden. An einer Weggabelung kannst du nicht umhin, dich zwischen verschiedenen Optionen zu entscheiden, und so müssen wir uns auch entscheiden, von welchen Menschen, Zielen oder Werten wir uns führen lassen. Was sind meine Werte? Wo will ich denn hin? Wenn ich nicht weiter weiß, wen frage ich dann? Die Menschen oder sonstigen Wegweiser, von denen wir uns führen lassen, das sind unsere Autoritäten. Man kann leidschaffende Werte und irreführende Wegweiser haben, aber ganz ohne Führung zu leben, das geht nicht, oder anders gesagt: Auch das wäre eine Entscheidung, die sich nach etwas oder jemandem richtet, die also ‚geführt‘ ist. Antiautoritär zu sein, auch das geht nicht. Die ‚Antiautoritären‘ hatten eben andere Autoritäten, für sie waren Rebellen die Autoritäten. Sogar die Anarchisten, die ja per definitionem keine Herrschaft (an-arche) wollen, sie folgen nur anderen Prinzipien, Herren, Werten oder Autoritäten; frei davon ist niemand.
Wirkliche, völlige Freiheit von Herrschaft und Autorität, wer die will, setzt sich damit ein religiöses Ziel. Auf der weltlichen Ebene ist es nicht zu erreichen. Erst in der mystischen Verschmelzung mit dem Ganzen ist das erreichbar, nicht auf der politischen Ebene.
Ermächtigung
Mein Fazit aus all der Beschäftigung mit Autorität, Führung und Verführung ist: Ich erlaube mir Autorität zu sein nur mit dem Ziel, andere Menschen zu autorisieren. Ich will nicht über andere bestimmen, es sei denn, ich kann sie damit befähigen, über sich selbst zu bestimmen. Wenn ich merke, dass Menschen sich nach mir richten, dann lehne ich das nicht mehr ab, sondern nutze es, um die von mir ‚Faszinierten‘ zu sich selbst zu führen, so dass sie dann andere Autoritäten nicht mehr brauchen. Insofern ich Macht über Menschen habe (also Autorität bin) nutze ich sie, um sie zu ermächtigen, über sich selbst zu bestimmen.
Ich selbst fühle mich keiner Autorität mehr unterworfen, außer im ganz praktischen Sinne, wie etwa, wenn ich einen Polizisten den Verkehr regeln sehe, dann folge ich ihm natürlich. Ich betrachte aber keinen Gott, keinen Guru, keinen politischen oder spirituellen Lehrer und auch kein künstlerisches oder sonstiges Idol als fähig, für mich Lebensentscheidungen zu treffen. In allen Bereichen gibt es Menschen, die weiser, reifer, klüger oder sonstwie kompetenter sind als ich, aber nicht, was mein Leben anbelangt, hier bin ich die Autorität.
Sind das zu viele große Worten für eine doch nur kleine Sache? Nein, so klein ist diese Sache leider nicht. Menschen, die sich ihrer Verantwortung für das eigene Leben bewusst sind und diese auch praktisch umsetzen, die gibt es leider kaum.
Hitlers Religiosität
Wir Menschen ändern uns im Lauf der Jahrhunderte nur wenig. Der dreißigjährige (Religions)Krieg bei uns in Deutschland, die Ständegesellschaft und der Sklavenhandel, die rassistische Diktatur der Nazizeit, das ist alles gar nicht so lange her. Noch heute glauben die meisten Menschen an Gott als einen Herrscher, viele sogar, dass er ein Rächer sei oder durch gute Taten und Gebete zu bestechen. Hitler gilt uns als der Böse, unsere eigene Religion oder spirituelle Linie und ihre Autoritäten als ‚im Grunde gut‘. Die Religiosität eines Adolf Hitler ist jedoch gar nicht so weit weg von der, die heute mehrheitlich gut geheißen wird. Noch bevor er (übrigens demokratisch gewählt, nicht durch einen Putsch) Reichskanzler wurde, sagte Hitler 1926 anlässlich einer Weihnachtsfeier, er wolle ‚die Ideale (von) Christus zur Tat werden lassen. Das Werk, welches Christus angefangen hatte, aber nicht beenden konnte, werde er (Hitler) zu Ende führen‘ (nach E. Deuerlein, Der Aufstieg der NSDAP, Düsseldorf 1968).
In Mein Kampf (1924) schrieb er: ‚So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn‘, und 1938 sagte er in einer Rede: ‚Unser Kult heißt ausschließlich: Pflege des Natürlichen und damit auch des göttlich Gewollten. Unsere Demut ist die bedingungslose Verbeugung vor den uns Menschen bekannt werdenden göttlichen Gesetzen des Daseins und ihrer Respektierung‘ (zitiert nach M. Domarus, Hitler – Reden und Proklamationen Würzburg 1962).
Wenn so einer dann noch Autobahnen baut, die Arbeitslosigkeit beseitigt und ihm bei einer Olympiade (1936 in Berlin) massenhaft internationale Anerkennung zufließt, dann haben wir an ihm kaum mehr etwas auszusetzen, so leicht sind wir zu faszinieren. Und wer hätte gedacht, dass George W. Bush nach dem Debakel des Irak-Krieges, das sich ja 2004 längst offenbart hatte, von Vietnam mal ganz zu schweigen, für eine zweite Amtszeit wiedergewählt würde? Ich jedenfalls nicht.
Channeling
Auch die sich so weise und jedenfalls sehr herzlich wähnende Esoterikszene ist in der Auswahl der sie Führenden keineswegs kritischer als der politische oder wirtschaftliche Mainstream. Im Gegensatz zu Stimmvieh und Gefolgschaften der politischen Bewegungen allerdings gibt es hier eine Einsicht, dass ‚das Ego‘ nicht der optimale Entscheider ist. Anstatt die Gestalt des Ego in ihrer Bedingtheit zu durchschauen flüchtet man sich dann allerdings in die Gefolgschaft von Menschen, die dieses anscheinend überwunden haben, oder man folgt außerkörperlichen Wesen, die oft schon deshalb als weise Führer gelten, weil sie keinen Körper haben und so freundlich sind, mit uns per »Durchgaben« zu kommunizieren. Warum aber sollte eine Figur von außerhalb des Ego weiser sein als eine von innerhalb? Ich kann mich täuschen, indem ich mich von einer inneren Stimme irreführen lassen, aber ebenso leicht von einer äußeren, sei es nun die eines realen, körperlichen Menschen oder die von einem so genannten ‚aufgestiegenen Meister‘. Dass ein gechanneltes Wesen auch mal das Medium tadelt, durch das es sich äußert, ist noch kein Hinweis auf transzendente Weisheit – auch mein innerer Kritiker geht mit mir schonungslos ins Gericht, und nicht immer hat er damit recht.
Als im Jahr 611 nach Christi Geburt dem Araber Mohammed der Erzengel Gabriel erschien, war er von diesem außerkörperlichen Wesen völlig fasziniert. Seine Worte schienen ihm die göttliche Lösung für so viele der damaligen Probleme seiner Heimat zu sein. So entstand der Koran, den heute etwa ein Sechstel der Menschheit für Gottes Wort hält und das Medium dieser Durchgabe als den letzten aller Propheten, nach dem keiner mehr Gottes Wort channeln darf. So weit kann es kommen mit so einer Durchgabe.
Das Milgram-Experiment
Aber auch in weniger hochfliegenden Bereichen als dem der Religion sind wir für Autoritäten oft leichte Beute. Das Experiment des New Yorker Psychologen Stanley Milgram zeigte das Anfang der 60er Jahre nun auch streng wissenschaftlich. Ursprünglich wollte Milgram die Gehorsamsbereitschaft der Deutschen während der Zeit des Nationalsozialismus sozialpsychologisch erklären, es zeigte sich während der Experimente jedoch bald, dass die Ergebnisse weitgehend kulturunabhängig waren. Zwei Drittel der Versuchspersonen aller kulturellen Herkünfte waren bereit den (fiktiven) Probanden aufgrund der Autorität des Versuchsleiters einen maximalen Bestrafungs-Schock von 450 Volt zuzufügen, bei dem das Opfer nicht mal mehr nur herzzerreißend schrie (das war vorher, bei 300 Volt), sondern völlig in sich zusammengesackt und still war. Das Ergebnis dieser Experimente war ein Schock für alle, die davon erfuhren. Keiner hatte geglaubt, dass so viele der Versuchspersonen bereit sein würden, anderen Menschen aufgrund einer fiktiven Autorität (Autorität ist immer fiktiv!) solche furchtbaren Schmerzen zuzufügen.
Experten
Lernt ‚die Menschheit‘ durch solche Einsichten? Nein. Der Gehorsam der Deutschen während der Nazi-Zeit, die Milgram-Experimente, das Hineinstolpern der Amerikaner in den Vietnam-Krieg, dann Afghanistan, Irak, Somalia … nur in seltenen Einzelfällen kommt es vor, dass wir etwas Lernen. ‚Wir Menschen sind weise, wenn alle anderen Optionen erschöpft sind‘ hat der israelische Außenminister Abba Eban zu diesem Thema einmal gesagt. Auch heute noch sind die Personen, die in unseren Gesellschaften geachtet werden, also als Autoritäten fungieren, Ergebnisse von Zufällen, undurchsichtigen oder verdrängten historischen Zusammenhängen oder von PR-Agenturen. ‚Nichts ist so stark wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist‘, dröhnte einst Viktor Hugo, ja, auch das: Nichts ist so faszinierend wie eine Autorität, die zur rechten Zeit auf der Bühne steht und dort ihren Akt aufführt.
Die magischen Autoritäten in unserer Gesellschaft sind heute zum Glück nicht mehr Dikatoren und fesch uniformierte Militärs, sondern ‚Experten‘. Unsere Medien sind voll davon. Experten-Rat, das ist es, war wir heutzutage akzeptieren, und überwiegend ziemlich blind. Eines schönen Tages im Jahre 1993 hatte mich ein Lektor des Rowohlt Verlages gefragt, ob ich bereit sei ein Buch über Tantra zu schreiben. Der Verlag prüfte die Verkaufschancen, sagte zu, und ich schrieb das Buch. So bin ich zum Tantra-Experten geworden. Niemand prüfte, ob ich weiß, worüber ich da schreibe. Wer sollte das auch tun? Bei Rowohlt wusste keiner was Tantra ist, man stellte sich diese Frage auch gar nicht. So ist das eben bei uns: Bücher werden von Verlagen gemacht, die darin eine Verkaufschance sehen. Ob das, was da drin steht, wahr ist oder Gutes bewirkt ist Nebensache.
Fast alle Experten-Titel, die von den Medien so großzügig vergeben werden, sind so zustande gekommen, auch dann, wenn sie von Institutionen, Gesellschaften oder sonstwelchen Gremien vergeben werden, denn dort sitzen ja überall nur Leute, die von irgendwem auf ähnliche Weise zu ihrer Funktion ernannt wurden und sich deshalb alle irgendwie in der Illusion ihrer Expertise gegenseitig unterstützen. Es ist nur ein Frage der Kunst, dort nicht anzuecken und sich irgendwie einzustimmen in den Chor, dann ist man wer: ein Experte, eine Autorität.
Die Person als sprechende Maske
Sehen wir das mal positiv: Die modernen Gesellschaften verzichten darauf, sich göttlich oder sonstwie metaphysisch zu legitimieren. Da kommt einfach was will: Der Markt hat’s gegeben, der Markt hat’s genommen, gelobt sei der Markt. Wir sind frei, uns die Identitäten zu geben, die wir sein wollen und auch frei in der Wahl unserer Autoritäten, denn alles das sind Konstrukte. Gestalten wir sie also, so gut wir können!
Die Persona, das Ich, das Ego, das Individuum, nennen wir es wie wir’s wollen – hier liegt die Keimzelle der heutigen Gesellschaft, nicht in der Familie. Die ist nur die Stelle, wo die Persona ausgebrütet wird, regieren tut längst nicht mehr die Familie, sondern die Person. Deshalb brauchen wir eine Kultur der Person – einen Personenkult. Stalin, Hitler, Mao und die modernen Kulte um künstlerische Idole (Elvis Presley, Madonna, Filmschauspieler), das sind nur Exzesse, die dann entstehen, wenn das Individuum sich selbst nicht ausreichend erkennt und kultiviert. Das Übermaß an Personenkult um die Diktatoren und Idole ist ein Zeichen für das Untermaß an Kult, das der einzelne Fan seiner eigenen Person angedeihen lässt. Besser, es kultiviere jeder seine Person, anstatt sich den großen Führern – sorry, heute heißt es ‚Leaders‘ – hinzugeben.
Als Menschen in einer Gesellschaft sind wir auch Personen, von lateinisch ‚per-sonare‘, durch etwas hindurch tönen. Ursprünglich, im klassischen griechischen Theater, bedeutete das Wort »Person« die Maske des Schauspielers, durch die er hindurch tönte, wenn er seine Rolle sprach. Als Person sind wir diese Maske, durch die hindurch wir mit unserem Sprechen in der Gesellschaft eine Rolle einnehmen. Diese Rolle ist die Stimme, die Autorität, als die wir in der Gesellschaft agieren. Sie hängt ab von den anderen Rollen und Autoritäten in dem dichten Gewebe eng miteinander zusammenhängender Rollen, das eine Gesellschaft ausmacht, dieses Gewebe von Personenkulten, das, was wir ‚Kultur‘ nennen.
Das Transpersonale
Nicht nur der Kult um ein Jugendidol oder einen politischen oder religiösen Führer erscheint Außenstehenden oft als lächerlich und idiotisch. Auch der Kult um die eigene Person, ‚das Ego‘ wirkt für Außenstehende manchmal überzogen, narzisstisch oder eben: egoistisch, dem Ego zu viel Gewicht gebend. Dieses Übertreiben der Persona geschieht genau dann, wenn man vergisst, dass sie eine Konstruktion ist auf dem Hintergrund des Transpersonalen. Wir sind ja nicht nur die sozial entstandene oder konstruierte Identität, die Autorität ausübt, die führt und führbar ist. Hinter dieser Identität sind wir ein Mensch mit unsteten Gefühlen und Gedanken, ein Geborener, der sterben wird. Ein Verletzlicher, der sich oft hilflos fühlt. Ein Mensch, dessen Autorität und Charisma jederzeit in sich zusammenfallen können. Ein Scheiternder, der immer wieder aufsteht und neu den Tag begrüsst. Ein Niemand, der wählen kann, was für ein Jemand er sein will.
Dieses Transpersonale, das ist der Bereich von Religion, Spiritualität und Mystik. John Lennon (‚Imagine there ist no heaven … Above us only sky‘) hat Recht: Ein Jenseits hinter den Wolken oder nach dem Tod gibt es nur in unserer Fantasie. Hinter unseren sozialen Rollen, hinter unserer Person und dem Ego allerdings gibt es ein wirkliches Jenseits: das ist das Trans-Personale. Dem können wir eine Form geben in der Kunst und in den Liturgien der Religionen, aber seine Wirklichkeit ist eine andere, sie ist ’nicht von dieser Welt‘.
Einfach Mensch sein
Wenn Menschen mir als Verleger dieser spirituellen Zeitschrift Texte einreichen, versuchen sie oft, sich als esoterisch oder spirituell darzustellen mit ihren Erlebnissen und ihrer Biografie. Dort ist dann von fühlbaren Schwingungen und höheren Ebenen die Rede, von Erleuchtungserfahrungen oder wenigsten ein bisschen Hellsichtigkeit. Oder man hat Heilkräfte entwickelt und erzählt von einer Nahtoderfahrung, die einen völlig transformiert hat. Wäre ich Verleger einer Satire-Zeitschrift, würden sie mir wahrscheinlich Witze erzählen und versuchen, mich zum Lachen zu bringen, es hängt also mit meinem Job zusammen, dass man sowas an mich heran trägt.
Dabei wünsche ich mir nur ganz einfache, unprätentiöse Menschen – als Autoren ebenso wie als Freunde. Warum stellen wir uns einander nicht einfach als ganz normale Menschen vor? Warum haben wir nicht den Mut, einfach nur Mensch zu sein und uns auch so zu zeigen? Das ‚autoritäre Problem‘ zieht sich überall hin: In der Politik und Wirtschaft ist es sowieso dominant, aber auch in der Esoterik, der Erziehung, der Kunst (wessen Stil ist angesagt?), einfach überall findet man es. Wenn wir einander als Menschen begegnen, könnten ohne diesen ganze Hokuspokus, was für eine schöne Welt wäre das!
Andererseits ist dieser autoritäre Hokuspokus so allgegenwärtig, dass er offenbar essentiell zum Menschsein gehört. Also lasst uns ihn akzeptieren und einander als Autoritäten begegnen und respektieren. Wir sind beeindruckt und wollen beeindrucken, das ist das autoritäre Prinzip. Wir wollen einander verzaubern und als mächtig erscheinen, nicht als ohnmächtig, auch das gehört zu unserer Individualität und Würde. Bedienen wir einander also mit einem gewissen Maß an Personenkult: Ich würdige dich in deiner Identität, mit allen Macken und Besonderheiten und du mich in meiner, dann kommen wir auf der personalen Ebene gut miteinander aus. Ethik? Das schon, die brauchen wir auch, aber die kann auch Macken akzeptieren.
Auf der transpersonalen Ebene, da sind wir sowieso eines. Diese Ebene braucht unsere Unterscheidung nicht und auch nicht unsere Kreativität, da haben wir nichts zu gestalten. Da ist alles einfach so wie es ist. Da ist alles schon so eingerichtet vom Universum, von Gott oder der Natur, aber diese Wesen führen uns nicht, denn wir sind ja schon perfekt und nirgendwohin unterwegs. Wir können entspannen. In dieser Welt der Gegenwart führt keiner einen anderen und letztlich nicht einmal irgendwer sich selbst, sondern jeder gibt sich hin. Dort sind wir nicht viele sondern eines – unautoritär und führungslos.«
ENDE des zitierten Artikels. Ihm beigefügt waren die zwei folgenden Ergänzungen.
Der Große Diktator ist zurück im Kino
1940 wurde Charlie Chaplins geniale Satire auf Hitler und die Nationalsozialisten uraufgeführt. Nun (2007) kommt sie in einer restaurierten Fassung wieder ins Kino, schrieb meine Mitredakteurin Christine Höfig für einen Kasten im Kontext meines Artikels über Personenkult:
»Charlie Chaplin in einer Doppelrolle: Im fiktiven Land Tomania herrscht der Diktator Anton Hynkel, unschwer als Adolf Hitler zu erkennen, und bereitet die Invasion des Nachbarlandes Osterlich vor. Unbarmherzig verfolgen Hynkel und seine Schergen Juden und Andersdenkende, für die kein Platz sein soll im Tomasischen Reich. Derweil lebt im Ghetto ein jüdischer Friseur, der Hynkel zum Verwechseln ähnlich sieht.
Darf man über Hitler lachen? Man darf, meint Chaplin. ‚Was das Komische an Hitler betrifft, möchte ich nur sagen, dass es, wenn wir nicht ab und zu über Hitler lachen können, noch viel schlechter um uns bestellt ist als wir glauben. Es ist gesund zu lachen, auch über die dunkelsten Dinge des Lebens, sogar über den Tod‘, sagte er 1940 der New York Times.
Mit dem ‚Großen Diktator‘ gelang es Chaplin, perfekt die Balance zu halten zwischen dem Ernst des Themas und dem Humor: Nie ist die Satire geschmacklos, nie werden die Schrecken des Regimes heruntergespielt. Tatsächlich wurde Chaplin damals, als die USA sich noch aus dem Zweiten Weltkrieg heraushalten wollten, der Kriegshetze beschuldigt. Die Darstellung Hynkels wirkt entlarvend, sie zeigt die Leere des Diktators, die Erbärmlichkeit des Bösen. Hynkel und sein Diktatoren-Kollege Benzino Napaloni aus dem benachbarten Bacteria wirken in der Art, in der sie um Osterlich streiten wie trotzige Schuljungen. Besonders gelungen sind Hynkels Reden. Sie werden in Tomanisch gehalten, einer völlig unverständlichen Kunstsprache. Tonfall, Mimik und Gestik wirken dabei enthüllend; darin zeigen sich sowohl der Hass und die Aggression Hynkels, als auch seine völlige Sinnlosigkeit und Inhaltsleere. Als Running Gag tauchen immer wieder zwei echte Wörter der deutschen Sprache auf: ‚Schnitzel‘ und ‚Sauerkraut‘.«
Führen, und sich dann in Luft auflösen
Eine zweite Ergänzung zu diesem Artikel enthielt folgenden Abschnitt aus dem Buch Führen mit Coaching – vom Potenzial zur Spitzenleistung von der Kommunikationstrainerin Ruth Hellmich:
»Stellen wir uns einmal vor, wir sind auf einer Skitour in hohen Bergregionen unterwegs. Plötzlich zieht ein dichter Schneesturm auf und erschwert die Sicht, eisiger Wind, einbrechende Dämmerung und steigende Müdigkeit erhöhen die Gefahr. Werden wir es bis zur Hütte schaffen oder ist es sicherer zu biwakieren? Alle in der Gruppe sind unerfahren bis auf den Bergführer. Der eine sagt hü, der andere hott, wieder andere sind vor Angst ganz still geworden und ziehen frierend ihren Kopf unter die Kapuze. Wenn nicht bald etwas passiert, wird der Erste seinen Biwak auspacken, und die anderen werden in unterschiedliche Richtungen davon stürmen mangels besseren Wissens. Was erwarten wir in solch einer Situation von unserem Bergführer?
Sicherlich wird es unser Vertrauen in den Bergführer erhöhen, wenn er gute Geländekenntnisse besitzt und über Wettererfahrung verfügt. Er sollte die Nachttemperatur und die Überlebenschancen einschätzen können sowie die Kondition der Einzelnen. Weiterhin müsste er fähig sein, zeitnah zu entscheiden und alle von der Richtigkeit seiner Entscheidung zu überzeugen.
Und dann später, wenn seine Führungsrolle ihren Zweck erfüllt hat, sollte er aus ihr wieder verduften, denn: ‚Leader sollten führen, solange sie können, und sich dann in Luft auflösen. Ihre Asche sollte nicht das Feuer ersticken, das sie entzündet haben‘, schrieb H. G. Wells.«
P.S. zu diesem Artikel vom Februar 2007: Die Milgram-Experimente gelten inzwischen als weitgehend überholt bzw. widerlegt, schreibt Rutger Bregman in seinem Buch Im Grunde gut, das ich hier im Blog rezensiert habe.
Vielen Dank für diesen erfrischenden Artikel. Es ist manchmal ein wenig wie in der Truman Show.