Zur Zeit beschäftigt mich wieder einmal der 2019 verstorbene John Welwood. 2011 habe ich diesen genialen buddhistischen Psychotherapeuten entdeckt und dann in Connection über ihn geschrieben. Nun höre ich Perfect Love, Imperfect Relationships von ihm als Hörbuch.

Das spirituelle Bypassing

Welwood ist der Schöpfer des Begriffs Spiritual Bypassing. In der englischsprachigen Wikipedia gibt es darüber inzwischen einen Eintrag, ebenso einen über seine Person. Das Interview mit Welwood, in dem er den Begriff des »Spiritual Bypassing« erklärt, hatte ich 2011 aus der Zeitschrift Tricycle für Connection übernommen und es vor ein paar Tagen nochmal in mein Blog gestellt. Es ist heute noch so aktuell wie damals und triggert in mir wieder eine ganz Kaskade von Lichtblitzen und Aha-Erlebnissen. 

Das kulturelle Bypassing

Während ich mich dieser Tage weiterhin mit den Werken der Historiker Yuval Noah Harari und Rutger Bregman beschäftige, die ich hier im Blog schon mehrfach erwähnt und rezensiert habe, kommt mir, angeregt durch Welwood, ein neuer Begriff in den Sinn: das »kulturelle Bypassing«. Damit meine ich das Überspringen der Tatsache, dass wir Menschen evolutionär entstandene Tiere sind. Was auch immer für Phänomene der menschlichen Kultur wir gerade betrachten, wir dürfen dabei nicht vergessen, dass wir Tiere sind. 

Wir sind noch immer Primaten, die vor ungefähr 70.000 Jahren aus Afrika ausgewandert sind. Das ist gar nicht so lange her. Wenn man die ganze Geschichte der Entwicklung dieses Primaten zum Homo betrachtet, die über zwei bis zweieinhalb Millionen Jahre verlief, sind 70.000 Jahre gerade mal drei Prozent davon. 97% dieser Zeit haben wir in den Wäldern und Savannen Afrikas verbracht. Dort entstanden der aufrechte Gang, die Geschicklichkeit unserer Hände und unser relativ großes Gehirn. Erst die letzten drei Prozent dieser Zeit kann man Kulturgeschichte nennen. Und erst aus den letzten zwei Promille dieser Zeit der Menschentwicklung gibt es ein paar schriftliche Dokumente. 

Unser Tiersein überspringen

Dennoch gehen die weitaus meisten Betrachtungen der Kultur und Psyche des Menschen über die Tatsache hinweg, dass wir Tiere sind. Das gilt auch für ethische Überlegungen. Solch eine Übersprung-Ethik ist nicht viel mehr Wert als eine Predigt – und von Predigten haben wir schon genug, sie haben das Verhalten des Menschen nicht wesentlich gebessert. Beide Arten des Bypassings beschreiben uns Menschen als etwas, das wir gar nicht sind oder nur unter Umständen sind. Sie sind Einbildung oder aber, wie Welwood es freundlicher sagt: Sie sind von zwei sich gegenüber stehenden Wahrheiten nur der eine Pol. 

Nach wie vor glaube ich, dass die drei Hauptwerke von Harari aus den 2010er Jahren in den kommenden 30 Jahren eine ähnlich starke Wirkung auf die Weltgesellschaft entfalten werden, wie Karl Marx’ Kommunistisches Manifest (1848) und Das Kapital (1867) in den 141 Jahren von 1848 bis 1989. Man kommt nicht drumrum, sich mit Hararis Thesen zu befassen, auch wenn man anderer Meinung ist. Sein Werk ist wirklich transkulturell. Wer heute weltweit wirken will, darf sein Denken und Fühlen nicht mehr nur in einem kulturellen Lager beheimaten, sondern braucht auf Basis der »darwinschen Wende« einen transkulturellen Blick. Harari ist einer der wenigen heutigen Kulturphilosophen, die diesen Blick haben und die nicht in einem Prozess des spirituell-kulturellen Bypassings darüber hinweggehen, dass wir Tiere sind. 

Auch wenn noch nicht einmal das spirituelle Bypassing sich im Mainstream etabliert hat, füge ich dem nun den Begriff des »kulturellen Bypassings« hinzu, mit dem wir auf gefährliche Weise unsere tierischen Eigenschaften zu überspringen versuchen. Die Zeitschrift Psychology Today schrieb 2019 anlässlich seines Todes über Welwoods Konzept des Bypassings – immerhin breitet sich dieses Wissen nun aus. Begriffe können dabei helfen. So wie Thomas Metzingers schöner und nützlicher Begriff der Bewusstseinskultur. Mögen uns diese Begriffe in unserem Denken und Über-das-Denken-hinausgehen weiterführen! 

Esoterik und Wissenschaft

Nun noch ein paar Links zu Esoterik und Wissenschaft, ein Thema, das diesen Blog und auch ‚die Medien‘ immer wieder beschäftigt. In einem Interview mit Harari vom März 21 spricht er über Wissenschaft und Verschwörungsmythen und behauptet, dass sich beides ergänze. Die Wissenschaft versuche eine »aproximation of the truth« (Annäherung an die Wahrheit), sagt er, die Mythen hingegen sorgten für Kooperation unter dem Dach derselben Fiktion.

Auf spektrum.de schrieb Nathalie Grams im April über das Risiko der Wissenschaftsfeindlichkeit: »Das Zusammenwachsen von Esoterik, falschem Naturverständnis und ‚alternativem‘ Denken mündet in Wissenschaftsfeindlichkeit mit rechten politischen Tendenzen. Hier ist eine ‚Emergenz‘ zu beobachten, es entsteht eine neuen Qualität, die mehr ist als die Summe ihrer ohnehin bedenklichen Bestandteile. … Und was es noch braucht: Aufklärungskampagnen großen Umfangs. … Stellen wir uns dem nicht, dann droht die Gefahr, tief im Postfaktischen zu versinken oder unter dem steigenden Meeresspiegel.«

Vielleicht ist Nathalie Grams, die ich in vielem sehr schätze, als frisch zur Wissenschaft (im Sinne von science) Bekehrte (sie war vorher Homöopathin) ein bisschen zu fröhlich im Verteidigen der Methoden der exakten Wissenschaften. Dann kann man sich nach so viel Wissenschaftsbegeisterung zur Ausnüchterung den Arte-Film Forschung, Fake und faule Tricks ansehen, der schon millionenfach aus der Mediathek abgerufen wurde. Er widmet sich zentral der Verwirrungsstrategie der Tabakindustrie, die im Vertuschen der gesundheitlichen Folgen des Rauchens jahrzehntelang sehr erfolgreich war. So ähnlich gehen auch die Lobbys der fossilen Energiewirtschaft in Zeiten des Klimawandels vor. Eisenhowers militärisch-industrieller Komplex ist eigentlich ein militärisch-industriell-wissenschaftlicher Komplex, und das schon seit 300 Jahren, schreibt Harari in »Kurze Geschichte der Menschheit«. Am Ende streift der Film auch den Umgang mit Corona.

Corona? Da war doch mal was. Nun in der Rückschau sehen wir, wie sehr die Angst uns da getrieben hat. Darüber schrieb ich für KGS Berlin in Angst essen Seele auf. 

Aufklärung oder Mystifizierung? Eine Podcastserie des Deutschlandfunks beschäftigt sich damit, wie Ken Jebsen vom Jugendidol zum Verschwörungsmystiker wurde. Verschwörungs»mystiker«? Mystifizierer müsste es hier heißen. Mystik ist was anderes.

Betreibt dieses Blog Wissenschaftsjournalismus? Ja, doch, irgendwie schon. Aber was ist das überhaupt? Piqd hat einen Link hierzu gesetzt. Wissenschaftsjournalismus besteht heutzutage ja v.a. im Setzen von relevanten Links.

Wer reich genug ist, zahlt keine Steuern mehr 

Warren Buffet, einer der reichsten Männer der Welt, zahlte in den Jahren 2014 bis 2018 0,1 % Steuer auf sein Einkommen von 24 Milliarden Dollar. Jeff Besoz, der Gründer von Amazon hat ein Vermögen von 189 Milliarden Dollar. 2007 zahlte er keinen einzigen Cent Einkommensteuer. Beides ganz legal, denn die Reichen haben Steuerberater und Anwälte, die ihnen dabei helfen, im Dickicht der Steuerregeln Schlupflöcher zu finden, was auch diese Berater meist ziemlich reich gemacht hat. Wie skandalös wenig Steuern auch andere der Superreichen zahlen, findet ihr in einem Artikel der Zeitschrift für investigativen Journalismus Pro Publica. 

Sex > Übervölkerung > Umweltkrise

Überfüttert mit Nachrichten zu Corona, den Wahlkämpfen und dem Klimawandel? Hier ist ein Thema, von dem ich kaum je höre. Die Nachricht kommt von der »Deutschen Stiftung Weltbevölkerung« DSW, ursprünglich ist sie von der UNO: »Nur 55 Prozent der Frauen in Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen können selbst entscheiden, ob sie Sex haben, verhüten oder Gesundheitsversorgung in Anspruch nehmen möchten«, schreibt die DSW. Hinter dieser Nachricht verbirgt sich millionenfaches Leid. Aktuelles Leid, aber auch künftiges, denn Frauen in den armen Ländern werden mehrheitlich unerwünscht schwanger und haben so unfreiwillig mehr Kinder, als sie ernähren können. Eine Weltbevölkerung von mehr als 10 Milliarden wird schwerer zu ernähren sein als die aktuellen 7.9 Milliarden. Sie wird schwerer vor Pandemien zu schützen sein, und sie wird unseren Biotop noch rücksichtsloser ruinieren als bisher schon.

Schluss mit »Rasse«!

Jedenfalls was uns Menschen anbelangt, hat der Begriff der »Rasse« biologisch keinen Sinn und wird deshalb voraussichtlich aus dem deutschen Grundgesetz entfernt. »Genetisch gesehen sind wir Ostafrikaner«, sagt der Direktor des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte« im Interview mit spektrum.de dazu. Bei Hunden macht der Begriff Sinn, bei uns Menschen hingegen hat er biologisch keinen Sinn und diente allzu lange zur Unterdrückung von Menschen, die anders aussehen als unsere Kultur es für ideal hält, Rassismus ist also eigentlich ein Kulturismus.

Siegfried Essen

Am WE 29./30. Juni habe ich Siegfried Essen zum ersten Mal erlebt und dann auch gleich interviewt, und nun liegt sein Buch neben meinem Bett als Einschlaflektüre. Er ist ein Phänomen: 80 Jahre alt, wach, körperlich agil, schlank und aufrecht, unaufdringlich präsent. Leise und mit seiner Wachheit doch durchdringend. Sein Wissen fasst alles zusammen, was man von Spiritualität, Philosophie und Psychologie verstehen muss, um mit sich selbst und der Welt gut auszukommen. Er ist ein Weiser, ein Pandit und Therapeut zugleich und dabei so angenehm bescheiden, dass man einerseits der Welt wünscht, mehr von diesem großartigen Menschen zu erfahren – und andererseits ihm und sich selbst wünscht, dass das nicht geschieht. Deshalb: Geht nicht hin! Wer nur Spirituality shoppen will, gehe bitte nicht hin. Die anderen: Überleg’s dir gut. Du wirst danach wahrscheinlich niemand anders mehr brauchen (außer denen, die du eh schon hast, deine Gefährten und Freunde, deinen Stamm). 

Schönheit

Ich habe schon mal auf sie verwiesen und tue das hier gerne nochmal: Niemand tanzt so schön wie das Paar Anderson & Brenda! Das ist Hingabe, Liebe und Lust am Körpersein. Nachdenken braucht man da nicht, genießen genügt. 

Und nochwas Schönes, auch das fürs Auge und Ohr: Yuja Wang spielt das 3. Klavierkonzert von Prokofiew (28 min) mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Kirill Petrenko. Ich bin hin und weg sowohl von Yuja (sie ist unglaublich schnell, sexy & verspielt) wie von Kirill (er ist souverän, verschmitzt & humorvoll) und auch von den Berliner Philharmonikern (brillant – nicht vom Wir-Gefühl nur reden, sondern so zusammenspielen, das ist es). Und auch der Komponist überrascht positiv – er, mit diesem seltsamen Lebenslauf zwischen dem bürgerlich-kapitalistischen Westen und der Sowjetunion, wo er von 1936 bis zu seinem Tod 1953 lebte, also noch unter Stalin.

Tantra, Liebe, Sex und Weisheit

Mein Gespräch mit Saleem über Tantra und Politik ist in Saleems Youtube-Kanal gepostet worden..

Das Schweizer TV brachte im Format Sternstunde Philosophie eine Stunde Talk über: Mit Tantra zur spirituellen Erkenntnis.

Der BR widmete sich anderthalb Stunden lang der Polyamorie (nicht nur Talk).

3sat brachten einen sehr guten Film (44 min lang) über Orgasmus – das höchste der Gefühle.

Ein WDR-Film im Format Menschen hautnah zeigte 44 min lang auf faire Weise das ZEGG (Gemeinschaftsleben nach dem Motto der freien Liebe). 

Liebe und Sex ist schön, aber alles hat ein Ende, auch der Körper. Immerhin kann man ihn kompostieren, dann kann daraus wieder was wachsen, sagt  Katrina Spade aus dem US-Staat Washington und hat hierzu ein Start-up gegründet. Ein Grund mehr sich gut zu ernähren, finde ich, dann wird daraus guter Humus und ‚ich‘ muss nicht auf die Sondermülldeponie.

Veranstaltungen mit mir

Auf dem Eigensinn-Kongress der Rebels-Academy ist das Interview von Imke-Marie und mir über den Bachelor of Being noch bis 22.6. 16 h freigeschaltet.

In dem Orgasmusworkshop am 26./27. in Berlin von der Kulturwissenschaftlerin Steffi Rinke und mir ist heute noch ein Paarplatz frei!

Vom 1. bis 8. Juli bin ich im BeFree-Sommertreff in Tirol (kein Platz mehr frei).

Am WE 10./11. Juli bin ich zum BoB-Infotreff auf dem Kragenhof bei Kassel. Wer 18-25 Jahre alt ist und überlegt unserem 5-Monats-Orientierunssemester, genannt BoB, teilzunehmen, kann dort hinkommen. 

Am WE 10.-12. September bin ich auf dem Lebensgut Pommritz zum Anukan-meets-BecomeLove-Festival mit einem Vortrag und einem Workshop zum Thema Berührung. 

Ende Oktober beginnt auf dem Kragenhof bei Kassel der erste 5-Monats-Kurs des Bachelor of Being.