Erleuchtung als Ausrede?

In diesen politisch bewegten Zeiten könnte man denken, dass spirituelle Selbsterkenntnis, die darauf abzielt, unser getrenntes Ich als Illusion zu entlarven, wenig mit der uns umgebenden Wirklichkeit zu tun hat. Sollte man sich als spirituell orientierter Mensch nicht besser handfest in der Flüchtlingsfrage einbringen? Wäre es nicht angebracht, politische Aufklärungsarbeit über Ursachen globaler Krisen zu leisten und nach konstruktiven Lösungen zu suchen? Ist es nicht erforderlich, sich auf die eine oder andere Weise im Außen für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen? Es gibt viele Themen, die Handlungsbedarf einfordern. Da kann die mystische Erkenntnis der Ich-Transzendenz, auf die zum Beispiel im modernen Advaita hingewiesen wird, schnell weltfremd wirken. Dort hört man Aussagen wie: „Alles geschieht von alleine.“ „Die Idee eines Ichs, das etwas tut, ist Illusion.“ „Hingabe an das Nicht-Tun befreit Dich.“ Können solche Botschaften nicht auch zur Weltflucht verführen? Öffnen sie nicht Tür und Tor für rücksichtslosen Egoismus oder zu viel Passivität? Kann das nicht alles als Ausrede dienen, sich aus der Verantwortung zu ziehen, egal was wir tun oder wo wir wichtiges Tun unterlassen?

Meiner Erfahrung nach ist das durchaus möglich. Es stimmt: Spirituelle Wahrheiten können als Ausrede für offensichtlich egoistisches Handeln missbraucht werden. In der heutigen Neo-Advaita-Szene scheint mir dies manchmal zu geschehen. Das finde ich persönlich bedauerlich. Denn ich schätze durchaus die Tiefe, die sich dort auftut. Daneben aber findet man eine absonderliche Mischung aus echter Erfahrung und einem Abdriften in ein – jetzt als „non-dual“ tituliertes – Konzeptwissen. Eli Jaxon-Bear, ein amerikanischer spiritueller Lehrer mit viel Erfahrung in diesen Kreisen, bezeichnet dies als „konzeptionelle Erleuchtung“. Dabei handelt es sich nicht mehr um die direkte Erfahrung echter mystischer Wahrheit, sondern um deren verzerrte Konzeptualisierung. Die Worte mögen dann zwar stimmen, aber oft fehlt Herz, Lebendigkeit, Einfühlung und Weitsicht.

Das ändert allerdings nichts daran, dass es die Erfahrung mystischer Ich-Transzendenz tatsächlich gibt. Und dass sie, wenn sie lebendig bleibt, zu umfassendem Mitgefühl und einem verantwortungsvollem weltlichen Handeln führt. Erfassen wir nämlich innerlich, dass es kein persönliches Ich gibt, machen wir zugleich die unmittelbare Erfahrung des alles verbindenden Einsseins. Daraus ergibt sich das was ich „natürliche Ethik“ nenne.

Verbindendes Sein

Der buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh erläutert dies anhand einer Geschichte. Er schilderte diese übrigens bei einem Workshop für Mitglieder des amerikanischen Kongress in Washington nach den Anschlägen auf das World Trade Centers vom 11. September 2001. Damit deutet er schon damals an, dass er den „Krieg gegen den Terror“ für einen gefährlichen Fehler hielt.

Stellen wir uns vor, wir nehmen einen Nagel in die linke und einen Hammer in die rechte Hand. Wir wollen den Nagel einschlagen. Doch ein Missgeschick geschieht. Die rechte Hand zielt ungenau und trifft mit dem Hammer den Daumen der linken Hand. Das tut weh. Was geschieht weiter? Wird die linke Hand zur rechten sagen: „Du gemeiner Hund, warum hast du mir das angetan! Ich werde mich an dir rächen. Gib mir den Hammer. Ich werde dasselbe mit dir machen!“? Nein. Das würde keinen Sinn machen. Die Hände wissen und spüren, dass sie zum selben Organismus gehören. Sie sind Teil desselben Körpers. Sie arbeiten gut zusammen. Sie sind feinfühlig füreinander. Die rechte Hand wird mit einer streichelnden Geste die Linke trösten und den verletzen Daumen achtsam versorgen.

In diesem Beispiel könnte man sagen: Die linke und rechte Hand haben kein eigenständiges Ich. Sie werden von einer wesentlicheren, sie verbindenden Instanz gesteuert. Entdecken wir durch Selbsterforschung das transzendente Sein, das uns alle verbindet, werden wir auf ganz natürliche Art und Weise Mitgefühl, Rücksichtnahme und Wohlwollen untereinander entwickeln. Da brauchen wir nicht mehr auf die bisher üblichen moralischen Richtlinien zurückgreifen, die oft mit unserem herkömmlichen Verständnis von „Verantwortung“ verknüpft sind. Diese bestehen in langen überlieferten Listen. Sie schreiben uns vor, was richtig oder falsch, tugendhaft oder sündig ist; wie wir sittsam handeln sollten oder uns schuldig machen. Für einen erwachten Geist sind diese Listen nicht mehr notwendig. Er spürt von innen heraus, was ethisch verantwortlich ist und was nicht.

Natürliche Verantwortung

Eine hilfreiche Sichtweise auf den Begriff „Verantwortung“ vermittelte mir auch meine amerikanische Lehrerin Gangaji. Im Englisch-Amerikanischen wird „Verantwortung“ mit „responsability“ übersetzt. Das setzt sich aus „response“ (Antwort) und „ability“ (Fähigkeit) zusammen. „Verantwortung“ meint hier also „die Fähigkeit zu Antworten“. Die Fähigkeit auf die Aufgaben des Lebens eine angemessene Antwort zu finden. Dann können wir uns Fragen: Wann sind wir am besten in der Lage, auf die Herausforderungen des Lebens klar und gut zu antworten? Wenn wir uns mit Schuldgefühlen und moralischem Druck unseres herkömmlichen Ich-Verständnisses belasten? Wenn wir uns bemühen alles nach strengen Richtlinien, perfekt zu machen, weil wir sonst Bestrafung fürchten? Wenn wir Verantwortung als Last unseres persönlichen Ichs verstehen, mit der Gefahr uns schuldig zu machen? Oder können wir Antworten, die das Leben von uns fordert, nicht viel leichter finden, wenn wir uns von der Idee, wir würden persönliche Schuld tragen, lossagen? Wenn wir uns befreit zurück entspannen in den Frieden der Ich-Losigkeit und des Nicht-Tuns?

Gerade in der deutschen Kultur gibt es eine große Angst, unser gewohntes, mit Schuld verknüpftes, Verständnis von Verantwortung loszulassen. Historisch ist das aufgrund der in Deutschland geschehenen Völkermorde durchaus verständlich. Vielleicht glauben wir, die Aussage, dass es kein Ich gibt, als Ausrede zu neuen Gräueltaten und Verursachung von Leiden zu missbrauchen. Doch die direkte Erfahrung jedes Menschen, der seiner eigenen Ichlosigkeit auf den Grund geht und darin ruht, ist eine andere: In der Regel wird dadurch das eigene Erleben und Verhalten sehr viel einfühlsamer, liebevoller und auch ethisch verantwortlicher als je zuvor.