Mit kritischem Blick schaut dieser Nachbar zu uns herüber. Aber das ist nur ein Symbolbild, nicht mein echter Nachbar.

»Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt«, schrieb Friedrich Schiller in seinem Theaterstück »Wilhelm Tell«. Nun habe ich das Glück oder Pech einen solchen Nachbarn zu haben, dem es gelungen ist, unser Jurtenprojekt vorläufig zu blockieren. Wo auch ich immer ich davon erzähle, werde ich sofort verstanden und bedauert, auch ohne dieses Klassiker-Zitat. Überdies existiert dieser Nachbar gutmöglich nur in meiner Phantasie. Der eigentlich Böse bin ich selbst, haha! Zu diesem philosophischen Teil meiner Überlegungen später mehr.
Realität ist jedenfalls, dass das Bauamt meiner Kleinstadt Greven mir meine wunderschöne Jurte verboten hat. Erst wurde ich aufgefordert, sie wieder abzubauen. Nach einer Begegnung mit dem dort zuständigen Juristen sagte dieser jedoch, es gäbe auch die Möglichkeit, Milde walten zu lassen im Umgang mit mir und meiner Jurte. Das hätte zur Folge, dass die Aufforderung zum Abbau der Jurte in ein Verbot ihrer Nutzung verwandelt würde. Als ich von meinem Nachbarn sprach, der anscheinend der Grund für die Strenge meines örtlichen Bauamtes im Umgang mit mir war, grinste der Verwaltungsbeamte, berief sich auf Datenschutz und sagte: »Sie können sich da ja selbst was zusammenreimen.«
Ich bin mitten dabei.

Die Wunde der Ungeliebten

Als erstes fiel mir zu diesem Nachbarn, der leider an unseren fröhlichen Events nicht teilnehmen wollte und lieber über den Zaun über uns spottet, das Buch »Die Wunde der Ungeliebten« von Peter Schellenbaum ein. Er nennt mich einen Gutmenschen und droht ab und an, in die Jurte zu kommen, um den dort Anwesenden zu sagen, was für ein Scheißkerl ich sei. Warum tut er das? Hält er sich selbst denn für einen Schlechtmenschen? Es ist doch er, der diese Wertungen ausspricht, nicht ich. Warum schaut er nur über den Zaun, anstatt mitzumachen? Im Bewusstsein seiner Macht, mich »beim Amt« zu denunzieren, die er oft angedeutet hat, forderte er von mir Sachen, die durch meine freundliche Nachgiebigkeit zu eskalierenden Demütigungen wurden. Warum tut er das? Es muss in ihm eine tief verletzte Seele wohnen, die emotionalen Missbrauch oder Schlimmeres erlebt hat, spektuliere ich. 
Menschen, die sich selbst als ungeliebt empfinden, können es manchmal kaum ertragen, wenn nebenan getanzt wird, geliebt und gelacht und einem selbst das nicht vergönnt ist. »Ich kann es mir nicht erlauben, dann sollen es auch die anderen nicht dürfen«, und diese anderen werden dann dafür gehasst, dass sie es dennoch tun.

Die emotionale Pest

Dann fiel mir auch der Begriff der »emotionalen Pest« des Sigmund Freud Schülers Wilhelm Reich wieder ein, zu dem der Filmemacher Timo Schlichenmacher schrieb:
»Es gibt in der Geschichte ein Muster, das unter wechselnden Kostümen immer wiederkehrt. Wilhelm Reich nannte es die emotionale Pest. Kein Keim und kein Mythos, sondern eine gesellschaftliche Charakterstörung: erstarrte Menschen, die Lebendigkeit nicht ertragen — und sie deshalb bekämpfen. Reich betont, der Begriff sei nicht als Schmähung gemeint: Er beschreibt eine Funktionsstörung, die entsteht, wenn natürliche Lebensäußerungen früh und chronisch blockiert werden.«
Auch wenn ich hier den von mir herbeifantasierten Nachbarn beschreibe (und damit mich selbst) meine ich das nicht als Schmähung. Was kann er denn dafür, dass in seinem Leben »natürliche Lebensäußerungen früh und chronisch blockiert« wurden? Falls das so gewesen sein sollte. In seinem alias meinem Leben.

Schluss mit Jurte?

Was interpretiere ich hier, und was ist Tatsache? Fakt ist, das ich per eingeschriebenem Brief aufgefordert wurde, unsere Jurte abzubauen, das Herzstück unseres Gemeinschaftsprojektes »Aldruper Jurtengarten«. Woanders werden Jurten geduldet, oft stehen sie dort jahrelang, sogar in Naturschutz- und Wasserschutzgebieten und im von Juristen so genannten »Außenbereich« der Siedlungen, wo sie de facto keinen stören – keinen Menschen und auch die Natur nicht. Anders ist es in meinem Falle. Da hat ein Nachbar den zuständigen Verwaltungsbeamten in der Abteilung Bauordnung im Rathaus der Kleinstadt Greven, wo ich wohne, offenbar so lange belästigt, bis dieser mir per Einschreiben die offizielle Aufforderung schickte, die Jurte abzubauen.
Fakt ist die Aufforderung des Bauamtes Greven. Fiktiv ist meine Interpretation dieses Nachbarn, die ich aus mehreren Gründen fiktiv halten möchte: 1. Ich will nun, nachdem er mich denunziert hat, nicht ihn denunzieren. 2. Ich kann wirklich nicht wissen, was in ihm vorgeht. 3. Ich will Frieden. Meinen Nachbarn als boshaft zu beschreiben führt nicht zum Frieden – nicht zu unserem nachbarschaftlichen Frieden und trotz seiner vermutlich aktuellen Genugtuung über das Jurtenverbot auch nicht zu seinem Seelenfrieden.

Das Leben feiern

Warum ich das hier so ausführlich beschreibe, ist, dass es vielen anderen Menschen in ihren gut gemeinten Projekten ähnlich geht. »Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt«, diese Mahatma Gandhi zugeschriebene Aussage hat viele Menschen inspiriert, statt über den Zustand der Welt zu klagen lieber eine positive Alternative in die Welt zu setzen. Um dann in vielen Fällen dabei von Nachbarn gestört zu werden, die solche »Gutmenschen« nicht ertragen können und dann versuchen, das Projekt zu zerstören, weil in dessen Licht das eigene Leben als noch unglücklicher erscheint, als es eh schon ist.

Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.

Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.

Dieses Gedicht von Rilke wurde 1899 in der Gedichtsammlung »Mir zur Feier« veröffentlicht. Selbstfürsorge würde man das heute vielleicht nennen – sich selbst feiern, um so auch anderen zu gönnen, dass sie das Leben feiern und genießen und nicht ungenießbar werden, weil sie sich das Genießen nicht gönnen.

Georges Brassens

Nach Rilke möchte ich hier noch auf einen anderen Dichter verweisen, den französischen Chansonnier Georges Brassens. Insbesondere auf seine Lieder La mauvaise reputation und Brave Margot. Seine anarchisch-lebenslustigen Lieder erzählen von auf sympathische Weise genügsamen Helden, die aufgrund ihrer Nonkonformität scheitern, deshalb würde ich sie zur Schokoladensorte zartbitter bis bitter rechnen.
In La mauvaise réputation beschreibt sich der Sänger in verschiedenen Situationen als friedlichen Menschen, der niemand etwas zu Leide tut, aber aneckt, weil er anders ist als ‚die braven Leut‘. Mit dem Refrain: Doch die braven Leut‘ mögen es nie, geht man andere Wege als sie.
Im Lied Brave Margot gab eine junge Frau dem ihr zugelaufenen jungen Kätzchen, das seine Mutter verloren hatte, die Brust. Daraufhin kamen die Jungs und Männer des Dorfs und weideten sich an dem schönen Anblick. In ihrer Unschuld dachte Margot, es sei ihr Kätzchen, was da bewundert wurde und freute sich. Die Frauen des Dorfs jedoch konnten nicht ertragen, dass ihre Männer sich an Margots schöner Brust entzückten und erschlugen das Kätzchen. Daraufhin passte Margot sich an und führte von nun an ein Leben so wie die anderen ‚braven Leut‘.
Wie geht eine Liebeskultur mit ihren Neidern um? Margos Flucht in die Normalität ist ja weder für sie noch für ihre Neider und die in ihrer Wut zuschlagenden Frauen eine gute Lösung. Das Leid bleibt.

Arschengel unterstützen uns

Zu Beginn dieses Textes habe ich vom »Glück oder Pech« einen bösen Nachbarn zu haben gesprochen. »Es ist doch wohl eher Pech«, würden die meisten Leser dieses Blogeintrags wohl sagen. Die finanzielle Schädigung für mich ist beträchtlich, was soll daran denn gut sein? Zudem hat ja auch der Nachbar außer ein bisschen Genugtuung nichts davon, mich so geschädigt zu haben.
Andererseits zwingt mich dieser Nachbar nun, in meiner Grevener Umgebung Unterstützung zu holen. Das bringt mich mit vielen interessanten Leuten in Kontakt, die ich sonst nicht getroffen und die mich nicht kennengelernt hätten. Zudem lesen vielleicht ein paar Tausend Menschen diesen Blogeintrag und fühlen sich in ihrem eigenen Leid mit ihren jeweiligen bösen Nachbarn verstanden und getröstet und lernen so besser, damit umzugehen. Etwa, indem sie in ihrem Nachbarn einen Arschengel sehen, der zwar Böses will, im größeren Kontext betrachtet aber doch Gutes bewirken könnnte, diese Hoffnung lass ich mir nicht nehmen.

Sehnsucht nach einem anderen Leben

Ich bin jedenfalls nicht der einzige auf der Welt, der gerade Ärger mit einem bösen Nachbarn hat. Indem ich dies hier veröffentliche, mache ich damit nicht nur mich und unser Projekt sichtbar, sondern auch die vielen Anderen, die ein liebes- und lebenslustiges Leben außerhalb der tristen Mainstreamkultur wagen. Möge die Sehnsucht danach sich ausbreiten! Wie viel schöner wäre es doch, in einer Gesellschaft zu leben, in der die von Rilke beschriebene Daseinsfreude gutgeheißen würde. Eine Freude, die unter uns Erwachsenen ja nicht mehr naiv kindlich ist, sondern lebensweise, weil sie nicht mehr versucht, das Leben zu verstehen, sondern es wie ein Kind zu feiern. Damit wir uns an den Ereignissen freuen, die das Leben uns zuspielt, so wie das Kind sich an den Blüten in seinen Haaren freut.

Noch leben wir in Gesellschaften, in denen solch eine lebensfrohe Haltung beneidet wird und der Neid der »Ungeliebten«, die sich selbst und andere nicht lieben können, sich gegenüber ihren Nachbarn manchmal zerstörerisch äußert. Das gilt für Individuen ebenso wie für Nationen.
Wer sich bedroht fühlt, hat Angst. Das ist auch dann der Fall, wenn die Bedrohung, wie so oft, keine reale ist. Dann taumeln die Verängstigten in einen Aufrüstungswahn hinein, dem auch eine innere Aufrüstung entspricht, ein Blockieren von Lebensenergie und Vermeiden von Lebenslust, das sich in Hass gegenüber denen äußern kann, die sich trotz allem erlauben, lebendig zu bleiben, zu lieben und in ihrem Wirkungsbereich trotz widriger Umstände freundlich zu bleiben.

Das Gute und das Böse

Sicherheitshalber wiederhole ich hier nochmal, dass meine Interpretation des Nachbarschaftlichen, jedenfalls insofern damit eine Person des realen Lebens gemeint sein könnte, eine Fiktion ist. Was ich hier geschrieben habe, ist eine Parabel, ein Gleichnis. Wir suchen Frieden und doch lauert dabei irgendwo nebenan das Böse, sei es in uns selbst oder außerhalb davon. Das gilt für mich, dich und uns alle. Für mich umso mehr, als mir »nichts Menschliches fremd« ist, wie ich in diesem Blog schon so oft geschrieben habe, und diese Webseite die Verbundenheit zelebriert.
Soll ich die Bezeichnung »Gutmensch« vielleicht lieber als Ehrentitel annehmen und nicht, wie er von meinem (fiktiven) Nachbarn gemeint, als Beleidigung? Immerhin bin ich egoistisch genug, mein Glück in der Verbundenheit zu sehen und in meiner Zugehörigkeit zu Nahem wie Fernem. Sonst hätte ich diese Webseite nicht Connection genannt.

Die Hölle, das sind die anderen

»L’enfer, c’est les autres – die Hölle, das sind die anderen«. Das ist das wohl berühmteste Zitat des französische Philosophen und Romanciers Jean-Paul Sartre und die Kernaussage seines Dramas Geschlossene Gesellschaft, das 1944 unter der Naziherrschaft in Paris uraufgeführt wurde. Bei meinem aktuellen Nachbarn wäre es naheliegend, solch eine Nachbarschaft als Hölle zu empfinden. Das aber wäre ein Othering, über das ich hier im Blog schon mehrfach geschrieben habe. Für den sich selbst Erkennenden ist die Welt ja nicht außen, sondern »Weltinnenraum«, wie Rilke es in einem seiner Gedichte nennt: »Die Vögel fliegen durch mich durch, und in mir wächst ein Baum.« Und da wächst eben nicht nur ein Baum, sondern auch ein Nachbar, der mich hasst. Wäre das für mich die Hölle, würde ich mir damit meinen Weltinnenraum zur Hölle machen.

Etwas (trans)persönlich nehmen

»Nimm’s nicht persönlich«, sagen mir die klugen Leute. Oder: »Dein Nachbar spinnt«. Es gibt jedoch eine Ebene, die ist persönlich, und das ist gut so. Auch Liebe ist zunächst etwas Persönliches. Sie geschieht zwischen einem Ich und einen Du, erst davon ausgehend kann sie größer werden. Auch Freundschaft und Feindschaft sind persönliche Phänomene und auch Verantwortung ist etwas auf eine Person Bezogenes. »Drüber stehen« kann auch eine Flucht sein.
Erst die Einsicht, dass mein Nachbar auch andere lebens- und liebesfrohe Genießer hassen würde, wenn es mich nicht gäbe, ist eine Erkenntnis, die mich befreit. Er meint nicht mich, sondern letztlich sich selbst. Wie widersprüchlich diese Zuwendung von ihm gegen mich auch immer sein mag, sie ist da und richtet Schaden an.

»Es braucht immer einen Bösewicht«

Ein professionell Drehbücher schreibender Freund und Co-Autor von mir hat mal gesagt: Es braucht immer einen Bösewicht! In jedem Hollywood Kassenknüller gibt es einen Gegner der Heldenfigur, durch den diese erst ihr Profil gewinnt. So ähnlich sei es auch in allen guten Romanen, wobei da manchmal der Gegner ein innerer Schweinehund ist oder, wie bei Kafka, etwas noch Abstrakteres. In meinem Falle darf ich mich schon mal über einen äußeren (wie gesagt eingebildeten) Schweinehund freuen, das dazu passende Kafkaeske bietet mir netterweise das Bauamt. Bingo! Das perfekte Drama.

Möge Kultur uns retten!

Zur Rehabilitation meiner … äh, wie sage ich es am besten … in mancher Hinsicht nicht optimal lebensfrohen Provinzstadt Greven will ich keinesfalls verheimlichen, dass mich neben vielen mir freundlich bis begeistert gesonnenen Grevenern auch unsere hiesige Kulturabteilung sehr unterstützt.

Die Kulturverantwortlichen meiner Stadt wollen das Verbot der Jurte nicht, sie wollen mich als Kulturschaffenden hier behalten. Ich solle mich durch meinen »bösen Nachbarn« nicht irritieren lassen, sagen sie. Mit Geduld würde sich ein Weg finden. Einer von ihnen bedauerte sogar, dass ein Nachbar überhaupt so viel Macht über einen anderen ausüben könne. Da müsse man sich die Frage stellen, ob da nicht die Gesetze geändert werden müssten. Aber das sei ein langer Weg, seufz. Zu lang für einen über 70-Jährigen; zudem deckt sich die Fähigkeit dazu weder mit meiner Kernkompetenz noch mit meiner Leidenschaft.

Gestohlene Lebenszeit

Manchmal denke ich: Was mir mein Nachbar vor allem gestohlen hat, ist nicht das Geld, das ich durch ihn verloren habe. Das Bedauerlichere ist die Lebenszeit, die ich dabei verschwendet habe, mich mit diesem blöden Konflikt zu beschäftigen und allem, was da dranhängt. Andererseits vervollständigt mich dieser Angriff. Etwas in mir war zu naiv, zu weich, zu offen oder gutgläubig. Auch wenn ich mit dieser Lektion in ‚Humor für Fortgeschrittene‘ noch nicht ganz durch bin, den Gewinn kann ich bereits ahnen. Und so kann ich mich schon jetzt nicht nur bei den vielen bedanken, die mir ein glückliches und inzwischen ganz schön langes Leben ermöglicht haben, sondern auch bei diesem Arschengel.

Wie immer bei meinen Blogeinträgen auf connection.de gilt auch hier: Ihr könnte sie kommentieren. Vermeintlich oder real böse Nachbarn gibt es ja auch an anderen Orten, wie ich höre, und auch der Neid auf ein gut gelebtes Leben sollte uns nicht in Schockstarre versetzen.