Als ich die Diskussion zu Wolfs letztem Beitrag hier verfolgte, fiel mir folgendes Zitat ein, das man uns angehenden person-zentrierten Psychotherapeutinnen in unserer Ausbildung geradezu »eingebläut« hat: »Empathisch zu sein bedeutet, den inneren Bezugsrahmen des anderen möglichst exakt wahrzunehmen, mit allen seinen Komponenten und Bedeutungen, gerade so ‚als ob‘ man die andere Person wäre, jedoch ohne jemals die ‚Als-ob-Position‘ aufzugeben« (Carl Rogers, 1959/87).
»Verliert man diese ‚als ob‘-Position, befindet man sich im Zustand der Identifizierung« (ders. 1989). Identifiziert-Sein mit dem Leid der anderen wurde als Verlust von professioneller Distanz gewertet und sollte daher möglichst vermieden werden. Wir wurden davor gewarnt, in die psychischen Abgründe unserer Klient(inn)en mit hinab zu tauchen. Man riet uns, am »Brunnenrand« sitzen zu bleiben und von dort aus eine helfende Hand zu reichen.
Karussell-Fahrt »Mit-Fühlen«
Damals (etwa 25 Jahre alt) fiel es mir relativ leicht, solchen Anweisungen zu folgen. Offensichtlich verfügte ich zu dieser Zeit über eine gewisse Möglichkeit, mein Gefühlsleben zu regulieren: Wenn etwas nicht zu nahe kommen sollte, konnte ich es auf Abstand halten.
Irgendwann kam mir diese Fähigkeit dann gründlich abhanden: Beim Wahrnehmen und Mit-Fühlen leidvoller Erfahrungen anderer Menschen zog es mich manchmal unwillkürlich ins Mit-Leiden hinein. Gelegentlich fühlte es sich sogar so an, als würde ich »Symptome« übernehmen, die gar nicht meine eigenen waren. Kummer anderer wurde so zu einer leidvoll erlebten eigenen Gefühlswelt.
Für solche Erfahrungen fand ich in buddhistischen Büchern einiges an Verständnis. Irgendwo las ich mal die Geschichte eines Mönches, der beobachtete, wie ein Mann seine Frau mit einem Gürtel schlug. Statt sich einzumischen, erstarrte er und fühlte sowohl den physischen Schmerz des Opfers als auch das verhärtete Herz des Täters wie eigenes Leid. Am Ende hatte er selbst – nur vom Beobachten – rote Striemen am Rücken.
Grenzen des Einfühlen-Wollens …
Ebenso erging es mir auch oft mit Tieren und Pflanzen, die schlecht behandelt wurden. Die buddhistischen Lehren von der tausendfachen Wiedergeburt in allen Formen der Inkarnation befeuerten das noch – zum Beispiel die Vorstellung, dass jede zertretene Ameise die Wiedergeburt der eigenen Großmutter gewesen sein könnte. Es gab eine längere Phase, da konnte ich sprichwörtlich keiner Fliege etwas zu Leide tun.
Diese endete allerdings abrupt, als eine Plage von Lebensmittel-Motten meine Küche befallen hatte und ich mir nur noch durch vielfachen Insekten-Mord zu helfen wusste. Eine Freundin unterstützte mich damals in meinem moralischen Umschwung mit einer Geschichte über die Mäuse in ihrem Ferienhaus: Sie hatte sie immer als freundliche Mitbewohner behandelt und ihre Vorräte fressen lassen, bis sie eines Tages anfingen, in ihrem dort befindlichen Konzertflügel zu nisten und diesen dabei mit ihren spitzen Nagezähnen völlig ruinierten.
… angesichts des Terrorismus
An ähnliche Grenzen meines mitfühlenden Verstehens gerate ich im Moment, wenn ich die Taten der IS-Terroristen auf mich wirken lasse: Öffentliche Hinrichtungen, menschliche Köpfe, die als Trophäen auf Zäunen aufgespießt werden, wahlloses Töten von unschuldigen Zivilisten und auch der achtlose Umgang mit dem eigenen Leben sind für mich nicht mehr verstehend einfühlbar.
Auf den Gegenseiten spielen sich allerdings auch so manche Ereignisse ab, wo mir ein mitfühlendes Annehmen nicht mehr möglich ist, zum Beispiel bei den ungebremsten Waffenlieferungen in Kriegsgebiete und dem gezielten Töten vermeintlicher Terror-Anführer durch Drohnen, wie in einem Computerspiel.
Ich erlebe es als sehr schmerzhaft, dort hin zu spüren – ein Schmerz, der offensichtlich von den Akteuren dieser Szenarien nicht wahrgenommen wird, sonst könnten sie nicht einfach so weiter machen.
Die neue ‚Als ob‘-Qualität
In der buddhistischen Metta-Meditation wird manchmal die Formel verwendet: »Möge(st) ich/du frei sein von Leid und frei von den Wurzeln des Leids«. Man praktiziert sie dort sowohl für sich selbst als auch für andere und steigert nach und nach den Schwierigkeitsgrad – die problematischen »Fälle« im eigenen Erleben kommen zuletzt.
Im Mit-Leiden bin ich emotional gefangen und dadurch auch nicht mehr frei in meinen Handlungen. Den Wunsch der Leidfreiheit für alle wirklich zu fühlen bedeutet, dem tatsächlich vorhandenen Schmerz nicht auszuweichen und dennoch eine eigene Gelassenheit dazu bewahren zu können.
Metta-Empathie verschafft mir den Freiraum, herzoffen und selbstbestimmt handeln zu können – auch angesichts von Gewalterfahrungen und wahrgenommenem Leid.
Liebe Marianne, dieses Thema beschäftigt mich auch zur Zeit immer wieder, und es ist nicht leicht, für sich die Balance zu finden. Ich für meinen Teil meide die grausamen Bilder so gut ich kann. Dennoch möchte ich am Zeitgeschehen teilnehmen und informiere mich. Tauche ich zu sehr dort ein, kommt eine immense Traurigkeit hoch. Ich fühle sie, und fühle auch meine Ohnmacht. In meinen Meditationen mache ich Heilgebete für die Erde und ihre Bewohner. Mitgefühl steigt immer wieder auf, und ich nehme es mit in die Stille. Es ist kein Trost, aber in meiner Wahrnehmung ist die Wirklichkeit die, dass… Weiterlesen »
Herzlichen Dank für diesen Kommentar, liebe Gabriele! ♥
Liebe Marianne, was du da über die Als-ob-Position schreibst, das Zitat von Rogers und dein Umgang damit: super! Ich finde das eine sehr gute Methode, sowohl für die therapeutische Arbeit, wie auch im Umgang miteinander.
Ja habe ich auch gelesen Marianne…und ich stelle gerade dabei fest, dass diese Seite ja an Fahrtwind gewinnt…wurde ja schon einiges geschrieben. Ich mache mir gerade auch über das Thema „Mitgefühl“ einige Gedanken, gerade momentan und aktuell….deinen Beitrag dazu finde ich sehr gut…weil er verschiedene Perspektiven beleuchtet. Nach einem Ausflug ins Advaita bin ich ziemlich ernüchtert ( positiv)…was mehrere Effekte hat. Der eine Effekt ist, dass ich mir eine zeitlang erlaube, komplett „antiautoritär“ zum buddhistischen Index zu stehen…auch aus dem Grund, um in innere Revision zu gehen…wo stehe ich eigentlich? Seitdem ich mir das erlaube , entdecke ich die Steigerung… Weiterlesen »
Danke, liebe Birgitt, für die ausführlichen Assoziationen zum Thema … viele noch andere, ergänzende Aspekte … inspirierend!
Herzlich
Marianne
sicheres Herkunftsland
todsicher
peng…
Augen zu
und durch…
„Es ist kein Trost, aber in meiner Wahrnehmung ist die Wirklichkeit die, dass all das Tragische und Schmerzhafte kosmisch gesehen keine Rolle spielt. Aus der Sicht des LEBENS geht es einzig nur um Evolution. Und in diesem Zusammenhang ist Leid ein Katalysator, eine transformative Kraft..“ Irgendwie klingt das wahnsinnig abgehoben. Für die Leute , die da am Boden knien u. wissen, dass sie gleich enthauptet werden sicherlich ein großer Trost…man muß aufpassen, dass man nicht zynisch klingt wenn man selbst überhaupt nicht betroffen ist von Bedrohung aller Art. Teilweise sind Eure Beiträge recht esoterisch finde ich und ich vermisse echte… Weiterlesen »
Diese Metta-Empathie, die habe ich auch bei meinem Therapeuten erlebt, der meine irrationalen Ängste nicht wirklich an sich ranlies, da sie ihm selbst zuviel Angst machten. Stattdessen ging er auf andere Themen los und lies dieses wichtige Gebiet unbearbeitet!
Wie schön!
Hallo Gerhard,
in meinem Verständnis und Erleben schließt Metta-Empathie nichts aus, auch keine Ängste.
Wenn Therapeuten auf schwierige Gefühle nicht wahrnehmend reagieren können, dann ist nach meinem Dafürhalten, eine eigene (Angst-)Abwehr-Struktur aktiviert.
Ein weises (offenes) Herz lässt sich von allem berühren, weiß aber auch, dass das meiste Leid „hausgemacht“ ist.
Mit herzlichem Gruß
Marianne