Nach der weltlichen Identität, die viele der so genannten spirituellen Sucher (spiritual seekers) überwinden wollten, haben viele von ihnen in einer spirituellen Identität eine neue Heimat gefunden. Wenn sich dieses neue, vermeintlich bessere Ich sich jedoch dem des verletzbaren, liebesbedürftigen Menschen überlagert und diesen Teil der Seele verleugnet oder unterdrückt, entstehen Probleme, die der amerikanische Psychologe und Buddhist John Welwood mit dem Begriff des »Spirituellen Überspringens« (spiritual bypassing) beschrieben hat. empfiehlt.
Zur Heilung dieser Probleme dürfen wir bei der Entwicklung des Transpersonalen, die des Personalen nicht außer acht lassen. Wir haben einen Buddha in uns, der alles ganz entspannt betrachtet. Wir haben aber auch einen Menschen in uns, der verletzbar ist und bedürftig. Beide Seiten sollten sich entwickeln, denn der Mensch ist ein Ganzes.
John Welwood (1943-2019) war einer der führenden transpersonalen Psychotherapeuten der USA. Er ist Autor vieler Bücher und Zeitschriftenartikel und ein Pionier in der Erforschung der Beziehung zwischen westlicher Psychologie und östlicher Weisheit.
Das folgende Interview mit ihm führte die Psychotherapeutin Tina Fossella für die buddhistische Zeitschrift Tricycle. Ich habe es für meine Zeitschrift Connection im Jahr 2011 aus dem Amerikanischen übersetzt. Das Interview erschien dort in zwei Teilen. Der erste in der Sept/Okt Ausgabe mit dem Schwerpunkt »Heimat«, der zweite in der Nov/Dez-Ausgabe mit dem Schwerpunkt »Treue«.
Du hast vor dreißig Jahren den Begriff des »spirituellen Überspringens« (spiritual bypassing) geprägt. Für diejenigen, die diesen Begriff noch nicht kennen, würdest du ihn bitte definieren und erklären?
Das spirituelle Überspringen ist ein Begriff, den ich geprägt habe, um einen Vorgang zu beschreiben, den ich in meiner buddhistischen Gemeinschaft beobachtet hatte, also auch in mir. Obwohl die meisten von uns ernsthaft damit beschäftigt waren, an sich selbst zu arbeiten, fand ich dort eine weit verbreitete Tendenz, spirituelle Ideen und Praktiken dazu zu benutzen, ungeklärte emotionale Themen zu vermeiden, seelische Wunden und Unvollendetes in der eigenen Entwicklung.
Wenn wir »spirituell überspringen« (bypassing), benutzen wir oft das Ziel des Erwachens oder der Befreiung, um das zu erreichen, was ich »verfrühte Transzendenz« nenne: der Versuch, sich über die raue und ungeklärte Seite unserer menschlichen Natur zu erheben, bevor wir ihr wirklich gegenüber getreten sind und unseren Frieden damit gemacht haben. Und dann neigen wir dazu, die absolute Wahrheit dazu zu benutzen, relative menschliche Bedürfnisse zu verunglimpfen, ebenso Gefühle, psychologische Probleme, Schwierigkeiten in der Beziehung und Entwicklungsdefizite. Ich betrachte das als im spirituellen Weg innewohnende Gefahr, weil Spiritualität die Vision enthält, über unsere gegenwärtige karmische Situation hinaus zu gehen.
Was für eine Gefahr meinst du da?
Die seelischen und emotionalen Themen überwinden wollen, indem man ihnen ausweicht, das ist gefährlich. Es entzweit uns innerlich in eine menschliche und eine Buddhanatur. Und es führt zu einer theoretischen, einseitigen Spiritualität, bei der der eine Pol auf Kosten des anderen erhoben wird: Die absolute Wahrheit wird der relativen vorgezogen, das Unpersönliche dem Persönlichen, die Leere der Form, die Transzendenz der Verkörperung und die Gelassenheit dem Gefühl. Man könnte zum Beispiel Gelassenheit praktizieren, indem man das eigene Bedürfnis nach Liebe übergeht, aber das treibt das Bedürfnis nur in den Untergrund, woes dann oft unbewusst ausagiert wird in verborgener und eventuell schädlicher Weise.
Könnte das Durcheinander in einigen unserer Sangha Gemeinschaften so zu erklären sein?
Sicherlich. Es ist so leicht, die Wahrheit der Leere einseitig zu benutzen: »Gedanken und Gefühle sind leer, es sind nur Erscheinungen, beachte sie deshalb nicht weiter. Erkenne ihre Natur als leer, durchschneide die Illusion auf der Stelle!« Im Bereich der spirituellen Praxis kann das ein hilfreicher Rat sein. In Alltagssituationen aber können dieselben Worte auch benutzt werden, um Gefühle und anderes, was unsere Aufmerksamkeit verlangt, zu unterdrücken oder zu leugnen.
Was interessiert dich in Bezug auf das spirituelle Überspringen heute am meisten?
Ich bin daran interessiert, wie sich das auf Beziehungen auswirkt. Dort richtet es häufig am meisten Schaden an. Wenn du ein Yogi bist in einer Höhle und dort ein jahreslanges Einzelretreat machst, zeigen sich deine seelischen Wunden vielleicht nicht so sehr, weil dein Fokus ganz auf deiner spirituellen Praxis liegt, in einer Umgebung, die deine Beziehungswunden vielleicht nicht reizt. Wo unsere ungelösten seelischen Wunden sich am meisten zeigen, das sind unsere Beziehungen. Seelische Wunden sind immer Beziehungswunden – sie haben sich in den Beziehungen mit denen gebildet, die uns als kleine Kinder betreut haben.
Die fundamentale menschliche Wunde, die in der modernen Welt grassiert, ist die, sich ungeliebt oder nicht liebenswert zu fühlen, so wie wir sind. Unangemessene Liebe oder Hinwendung gegenüber einem Kind schockiert und traumatisiert die Entwicklung dieses hochempfindlichen Nervensystems. In dem Maße wie wir die Art, wie wir erzogen werden verinnerlichen, wird die Fähigkeit uns selbst wertzuschätzen geschädigt, die auch die Basis dafür ist, andere wertzuschätzen. Ich nenne das eine »Beziehungswunde« oder »Wunde des Herzens«.
Das kennen wir ja alle…
Es gibt in der westlichen Psychologie eine Menge an Forschungsergebnissen, die zeigen, wie sehr nahe Bindungen auf jeden Aspekt unserer Entwicklung mächtig einwirken. Sichere Bindungen haben eine enorme Wirkung auf viele Bereiche unserer Gesundheit, unseres Wohlbefindens und unsere Fähigkeit, ind er Welt gut zu funktionieren: Wir unser Gehirn sich bildet, wie gut unsere Endokrin- und Immunsysteme funktionieren, wie wir Gefühle handhaben, wie sehr wir zu Depressionen neigen, wie unser Nervensystem Stress handhabt und wie wir uns auf andere beziehen.
Im Gegensatz zu den traditionellen asiatischen Kulturen hinterlässt die moderne Kindererziehung die meisten Menschen mit Symptomen von Bindungsunsicherheit: Selbsthass, mangelnde Körperlichkeit und Erdung, chronische Unsicherheit und Angst, ein überaktiver Verstand, Mangel an Urvertrauen und ein tiefes Gefühl inneren Ungenügens. Deshalb leiden die meisten von an starker Entfremdung und einem früher unbekannten Gefühl von Getrennheit – getrennt von der Gesellschaft, Gemeinschaft, Familie, älteren Generationen, Natur, Religion, unserem Körper, unseren Gefühlen und unserer Menschlichkeit.
Wir wirkt sich das auf unsere spirituelle Praxis aus?
Viele von uns – ich gehöre auch dazu – haben sich ursprünglich zummindests teilweise deshalb der Spiritualität zugewandt, weil wir so die Schmerzen unserer seelischen und Beziehungswunden überwinden zu können glaubten. Wir sind der Art oder des Ausmaßes dieser Wunden jedoch oft nicht bewusst oder verleugnen sie. Wir wissen nur, dass irgendetwas nicht stimmt, und wir wolllen uns vom Leiden befreien.
Wir wenden uns der Spiritualität von einer Stelle aus zu, die verwundet ist und merken das noch nicht einmal?
Ja. Wir wenden uns der Spiritualität zu, um uns besser zu fühlen. Dann kann es uns passieren, ohne dass wir das richtig mitkriegen, dass wir die spirituelle Praxis verwenden, um unsere psychischen Themen nicht konfrontieren zu müssen.
Wie beeinflusst unsere seelische Verwundung die spirituelle Praxis?
Ein guter spirituell Praktizierender zu sein kann das werden, was ich die Ersatz-Identität nenne, die sich verteidigt gegen eine zugrundeliegende, von ihr verborgene defiziente Identität, in der wir uns schlecht fühlen uns selbst gegenüber, nicht gut genug, mangelhaft. Obwohl wir fleißig praktizieren, kann unsere spirituelle Praxis denn der Verleugnung und Verteidigung dienen. Wenn die spirituelle Praxis dann benutzt wird, um die Themen aus unserem realen menschlichen Leben zu übergehen, dann verkapselt sie sich in einem separaten Teil unseres Lebens und integriert sich nicht mit dem, wer wir insgesamt sind.
Kannst du noch ein paar mehr Beispiele nennen, wie das sich in westlichen Praktizierenden zeigt?
In meiner psychotherapeutischen Praxis arbeite ich oft mit Studenten des Buddhismus, die seit Jahrzehnten spirituell praktizieren. Ich respektiere, wie ihre spirituelle Praxis für sie hilfreich war. Trotz der Ernsthaftigkeit ihres Ansatzes durchdringt ihre Praxis jedoch nicht ihr gesamtes Leben. Sie kommen zur psychischen Arbeit, weil sie verwundet geblieben sind, weil sie auf der persönlichen, emotionalen und Beziehungsebene noch Entwicklungsbedarf haben und die Gefahr besteht, dass sie ihre Wunden in schädlicher Weise ausleben.
Es ist nicht ungewöhnlich, über die zugrundeliegende Güte und innere Vollkommenheit unserer wahren Natur zu sprechen. Der zu vertrauen aber wird schwierig, wenn die eigenen psychischen Wunden als Auslöser fungieren. Studenten des Buddhismus, die einige Güte und einiges Mitgefühl für andere entwickelt haben, sind sehr hart im Umgang mit sich selbst, wenn sie merken, dass sie ihren eigenen spirituellen Idealen nicht genügen. Die Folge davon ist, dass ihre spirituelle Praxis öde und feierlich wird. Oder der Dienst an anderen wird zur Pflicht oder es dient dazu, sich besser zu fühlen als andere. Anderen mag es passieren, dass ihre spirituelle Brillianz dazu dient, ihren Narzissmus zu füttern und andere herabzusetzen oder zu manipulieren.
Menschen mit depressiven Tendenzen oder die in der Kindheit zu wenig Liebe erfahren haben und denen es deshalb schwerfällt, sich selbst wertzuschätzen, kann es passieren, die Lehren des Nicht-Ich zu benutzen, um sich selbst zu entwerten. Sich fühlen sich nicht nur sich selbst gegenüber schlecht, sondern betrachten ihre Unsicherheit diesbezüglich als weiteren Mangel – was eine Art von Ich-Fixierung ist, also gerade das Gegenteil der Lehre vom Nicht-Ich – war ihre Scham oder ihrem Schuldgefühl noch schürt. Sie sind gefangen in einem schmerzhaften Kampf mit dem Selbst, das sie doch gerade dekonstruieren wollten.
Spirituelle Gemeinschaften werden oft zu einer Arena für das Ausagieren ungeklärter Familiengeschichten. Es ist so leicht, auf Lehrer oder Gurus zu projizieren, in ihnen Elternfiguren zu sehen und dann zu versuchen ihre Liebe zu gewinnen oder gegen sie zu rebellieren. Weit verbreitet ist auch die Geschwisterrivalität und der Wettbewerb mit anderen Mitgliedern der Gemeinschaft, wer des Lehrers Liebling ist.
Auch Meditation wird oft verwendet, um unbequeme Gefühle und ungeklärte Lebenssituationen zu vermeiden. Wer seine persönlichen Gefühle und Wunden leugnet, dem kann es passieren, dass die Meditationspraxis eine Tendenz zur Kälte, zum Rückzug und zur persönlichen Distanz verstärkt. Solche Leute fühlen sich verloren, wenn es darum geht, sich direkt auf die eigenen Gefühle zu beziehen oder diese zwischen Personen in transparenter Weise auszudrücken. Für sie kann es sehr bedrohlich sein, auf dem spirituellen Weg Verwundungen, emotionaler Abhängigkeit oder einem grundlegendes Bedürfnis nach Liebe zu begegnen.
Ich habe es oft erlebt, dass Versuche gelassen und unabhängig zu sein benutzt werden, um Menschen von ihrer menschlichen und emotionalen Verletzlichkeit abzutrennen. Sich selbst als spirituell Praktizierenden zu sehen wird benutzt, um eine Tiefe an persönlichem Engagement zu vermeiden, die alte Wunden oder die Sehnsucht nach Liebe aufkommen lassen könnten. Es tut weh Menschen zu sehen, die nach außen eine Haltung der Distanziertheit aufrechterhalten, während sie darunter vergehen vor Sehnsucht nach positiven Gefühlen der Zugehörigkeit und Verbindung.
Wie kann es uns also gelingen, das Ideal der Losgelösheit mit dem Bedürfnis nach menschlicher Bindung zu versöhnen?
Gute Frage! Wenn der Buddhismus sich in der westlichen Seele wirklich verwurzeln will, muss er sich meines Erachtens mehr schlau machen, was die Dynamik der westlichen Psyche anbelangt. Die ist nämlich ganz anders als die asiatische. Wie brauchen eine erweiterte Perspektive, die zwei sehr verschiedene Spuren menschlicher Entwicklung erkennen und vereinbaren kann – wir könnten sie aufwachsen und aufwachen nennen, oder heilen und erwachen oder eine echte menschliche Person werden und die Person an sich transzendieren. Wir sind nicht bloß Menschen, die versuchen ein Buddha zu werden, sondern auch Buddhas, die in menschlicher Form aufwachen und lernen ganz Mensch zu sein. Diese beiden Entwicklungslinien können sich gegenseitig bereichern.
Während der spirituelle Weg sich im Erwachen vollendet, besteht die Vollendung der voll entfalteten Person in der Fähigkeit sich auf Ich-Du Beziehungen einzulassen. Das bedeutet, mit anderen voll offen und transparent zu sein, während man sie voll wertschätzt und sich dafür interessiert, was sie erleben und wie sie von einem selbst verschieden sind. Die Fähigkeit für offenen Ausdruck und tiefes sich Einlassen ist sehr selten. Besonders schwierigt ist es, wenn du beziehungsmäßig verwundet bist.
Zu oft wird Spiritualität dazu benutzt, um unsere menschliche Seite zu leugnen. Ein westlicher Zen-Lehrer, der in der New York Times portraitiert wurde, sagte, dass einer seiner Lehrer ihm geraten habe, alle Gefühle beiseite zu lassen. Als er ein paar Jahrzehnte später sich in eine Psychotherapie begab, erkannte er, dass das kein hilfreicher Rat gewesen war, und es hatte ihn Jahrzehnte gekostet, das zu verstehen.
Wenn wir aber eine Perspektive pflegen, die beide Entwicklungsaufgaben beinhaltet, dann werden wir nicht die absolute Wahrheit benutzen, um die relative herabzusetzen. Anstelle der Entweder/Oder-Logik von »Deine Gefühle sind leer, lass sie also gehen«, könnten wir den Sowohl-als-auch Ansatz wählen: »Gefühle sind leer, und manchmal müssen wir sie genau beachten«. Im Licht der absoluten Wahrheit sind persönliche Bedürfnisse Trugbilder, sich auf sie zu fixieren verursacht Leiden. Ja, und wenn ein relatives Bedürfnis aufsteigt, es dann beiseite zu schieben kann weitere Probleme verursachen. In Begriffen der relativen Wahrheit ist eines der wichtigsten Prinzipien gesunder Kommunikation in Beziehungen: klar zu sein, wo du stehst und was du brauchst.
Das große Paradox des Menschseins und Buddhaseins ist, dass wir sowohl abhängig sind wie unabhängig. Ein Teil von uns ist total abhängig von anderen Menschen, wegen allem – angefangen von der Nahrung und Kleidung bis hin zur Liebe, Verbundenheit, Inspiration und Hilfe bei der Entwicklung. Obwohl unsere Buddhanatur unabhängig ist – das ist die absolute Wahrheit – ist unsere Verkörperung das nicht, das ist die relative Wahrheit.
Im weitesten Sinn sind natürlich die absolute und die relative Wahrheit miteinander dicht verwoben und können nicht getrennt werden: Je mehr wir die absolute Offenheit dessen realisieren, wer wir sind, umso tiefer erkennen wir unsere relative Verbundenheit mit allem.
Wir können also sowohl losgelöst wie gebunden sein?
Ja. Gelöstheit ist eine Lehre, die unsere ultimative Wahrheit betrifft. Unsere Buddhanatur ist total und zutiefst frei. »Gebundenheit« hat in der buddhistischen Lehre die Bedeutung von »sich an etwas Festhalten«. Unsere Buddhanatur ist frei und offen, sie braucht sich an nichts festzuhalten.
Um aber ein gesundes menschliches Wesen zu werden, brauchen wir als Basis etwas, worin wir gehalten sind, im positiven, psychologischen Sinn: nahe, emotionale Bindungen mit anderen Menschen, die Verbundenheit und Wohlbefinden fördern. So wie der Naturalist John Muir es sagte: »Wenn wir versuchen, etwas für sich herauszupicken, finden wir, dass es mit tausend unsichtbaren Fäden, die nicht zerrissen werden können, an allem anderen im Universum befestigt ist«. So kann die Hand nicht funktionieren, wenn sie nicht mit dem Arm fest verbunden ist – das ist die positive Bedeutung von fester Bindung. Wir sind verbunden und verwoben mit allem im Universum und davon abhängig. Und auf der menschlichen Ebene können wir nicht anders als uns in gewisser Hinsicht gebunden zu fühlen mit Menschen, denen wir nahe sind.
Deshalb ist es natürlich, tief zu trauern, wenn wir jemand verloren haben, dem wir nahe sind. Als Chögyam Trungpa an der Trauerfeier für seinen Kollegen und Freund Suzuki Roshi teilnahm, stieß er einen durchdringenden Schrei aus und weinte. Er stand zu seiner engen Bindung an Suzuki Roshi, und es war sehr schön, dass er seine Gefühle so zeigen konnte.
Weil wir eine gewisse Bindung an andere nicht vermeiden können, stellt sich die Frage so: Sind das gesunde oder ungesunde Bindungen? Ungesund ist eine unsichere Bindung, denn sie führt dazu, entweder Angst vor zu naher Bindung zu haben oder davon besessen zu sein. Interessanterweise sind Menschen, die in sicheren Bindungen aufgewachsen sind, vertrauensvoller, was dazu führt, dass sie sich weniger stark an andere klammern. Vielleicht können wir das »gelöste Gebundenheit« nennen.
Ich fürchte, dass das, was viele westliche Buddhisten im Bereich der Beziehungen praktizieren keine Gelöstheit ist, sondern das Vermeiden von Beziehungen. Ein solches Vermeiden bedeuted aber nicht, frei davon zu sein. Es ist immer noch eine Form des Festhaltens – ein Festhalten an der Verleugnung deiner menschlichen Bindungsbedürfnisse, aus Mangel an Vertrauen, dass Liebe verlässlich sein kann.
Das Vermeiden von Bindungsbedürfnissen ist also eine andere Form von Gebundenheit?
Ja. In der Entwicklungspsychologie gibt es eine Bindungstheorie, in der eine Art der unsicheren Gebundenheit »Vermeidungsbindung« genannt wird. Dieser Bindungsstil entsteht bei Kindern, deren Eltern durchgehend emotional unerreichbar sind. Diese Kinder lernen auf sich selbst aufzupassen und von niemandem etwas zu brauchen. Das ist ihre Anpassungsstrategie, und die ist intelligent und nützlich. Wenn du deine Bedürfnisse nicht erfüllt werden, ist es natürlich schmerzhaft, sie weiterhin zu fühlen. Dann ist es besser, sich von ihnen abzuwenden und als Ersatz eine losgelöste Do-it-yourself Persönlichkeit zu entwickeln.
Es gibt also eine Tendenz, buddhistische Ideen dazu zu benutzen, um unsere natürliche Neigung zu Bindungen zurückzuweisen?
Ja. Viele von uns, die sich zum Buddhismus hingezogen fühlen, sind zunächst Bindungsvermeider. Wenn wir Lehren über Ungebundenheit hören, fühlen wir uns sehr vertraut damit, wir fühlen uns damit zuhause. In dieser Weise wird eine wertvolle buddhistische Lehre benutzt, um unsere Blockaden zu unterstützen.
Es ist mir aber wichtig zu betonen, dass ich niemanden pathologisieren möchte. Alles das sollte mit Wohlwollen und Mitgefühl verstanden werden. Es ist eben einer der Wege, wie wir mit der Wunde unseres Herzens umgehen. Niemand zu brauchen erlaubt uns, in einer emotionalen Wüste zu überleben und zurecht zu kommen. Später, als Erwachsener, tut sich der Vermeidungstyp schwerm tiefe Bindungen einzugehen, und das kann zu einem tiefen Gefühl von Isolation und Entfremdung führen, das sehr schwerzhaft ist.
Was passiert in einer spirituellen Gemeinschaft, wenn dort die Mehrheit Vermeidungstypen sind?
Vermeidungstypen neigen dazu, die Bedürfnisse anderer abzulehen – warum wohl: Weil sie ihre eigenen Bedürfnisse ablehnen.
Was passiert dann?
Die Leute glauben dann, wenn sie ihre Gefühle und Bedürfnisse nicht respektieren, damit richtig zu liegen. So wird »Bedürfnis« in vielen Gemeinschaften zu einem Schimpfwort.
Und die Leute fühlen sich nicht frei zu sagen, was sie brauchen.
Stimmt. Du sagst nicht was du brauchst, weil du nicht als bedürftig angesehen werden willst. Du versuchst bedürfnislos zu sein. Aber das ist wie eine unreife Frucht, die versucht, sich vorzeitig vom Zweig zu lösen und sich auf den Boden zu werfen, anstatt allmählich zu reifen bis hin zu dem Punkt, wo es ganz natürlich ist, sich zu lösen.
Die Frage, die sich den spirituell Praktizierenden stellt, ist, wie eine Frucht so reifen kann, dass es ganz natürlich ist, sich nicht mehr an das Selbst zu klammern, so wie eine reife Frucht sich vom Zweig löst und zu Boden fällt. Unsere buddhistischen Praktiken der Weisheit und des Mitgefühls helfen sicherlich bei diesem Reifeprozess. Wenn wir unsere Praxis aber benützen, um unser Gefühlsleben zu vermeiden, dann wird das ganz sicher den Reifeprozess beeinträchtigen anstatt ihn zu fördern.
Zu einem vollständigen menschliches Wesen werden. Ist es das, was du unter »reifen« verstehst?
Ja. Ein echtes menschliches Wesen werden, indem wir uns durch die emotionalen, seelischen Beziehungsthemen ehrlich durcharbeiten, die uns daran hindern, in unserer Menschlichkeit voll präsent zu sein. Ein echter Mensch zu sein bedeutet, sich auf sich selbst und andere in offener und transparenter Weise zu beziehen.
Wenn zwischen unserer Praxis und unserer menschlichen Seite eine große Lücke klafft, dann sind wir unreif. Dann mag unsere Praxis reifen, aber nicht unser Leben. Und ab einen bestimmten Punkt ist diese Lücke sehr schmerzhaft.
Du sagst also, dass das spirituelle Überspringen nicht nur unsere spirituelle Praxis korrumpiert, sondern auch unsere menschliche Reifung?
Ja. Eine Art den Reifungsprozess zu behindern ist, indem es aus spirituellen Lehren Vorschriften macht, die sagen, was du tun sollst. Was du denken sollst, sprechen sollst, fühlen sollst. Dann wird unsere spirituelle Praxis von dem übernommen, was ich das »spirituelle Superego« nenne – die Stimme, die das »du sollst« in unser Ohr flüstert. Das ist ein großes Hindernis für den Reifungsvorgang, denn es füttert unser Gefühl nicht genug zu sein.
Ein indischer Lehrer, Swami Prajnapad, dessen Arbeit ich bewundere, sagte: »Idealismus ist ein Akt der Gewalt«. Der Versuch, einem Ideal gemäß zu leben anstatt authentisch dort zu sein, wo du bist, kann eine Art der inneren Gewalt sein – wenn du dich dabei entzwei spaltest und sich eine Seite gegen die andere stellt. Wenn wir die spirituelle Praxis benutzen, um »gut« zu sein und so einen inneren Mangel oder ein Gefühl der Wertlosigkeit abzuwehren, dann wird daraus ein Kreuzzug.
Nicht ernst zu nehmen, wie du dich fühlst, kann sehr gefährlich sein.
Ja. Und wenn das Ethos einer spirituellen Organisation dazu führt, deine Gefühle oder Beziehungsbedürfnisse nicht ernst zu nehmen, dann kann das zu großen Kommunikationsproblemen führen, um das mindeste zu sagen. Es ist außerdem kein großartiger Rahmen für eine Ehe, wenn einer der beiden Partner emotionale Bedürfnisse nicht ernst nimmt. Es ist deshalb nicht überraschend, dass buddhistische Organisationen und Ehen genauso dysfunktional sind wie nichtbuddhistische. Marshall Rosenberg lehrt, dass der offene und ungeschminkte Ausdruck von Gefühlen und Bedürfnissen ebenso wie das offenherzige Zuhören, wenn der Partner das tut, die Basis ist für eine gewaltfreie Lösung zwischenmenschlicher Konflikte, und ich stimme ihm darin zu.
Aus meiner Perspektive eines Existenzial-Psychologen ist das Fühlen eine Art von Intelligenz. Es ist die direkte, ganzheitliche, intuitive Art des Körpers, etwas zu wissen und zu beantworten. Es ist zutiefst stimmend und intelligent. Im Gegensatz zu unserem begrifflichen Verstand, der nur eines nach dem anderen verarbeiten kann, berücksichtigt es viele Faktoren zugleich. Im Gegensatz zur Emotionalität, die die eine Art ist, nach außen zu reagieren, hilft das Fühlen oft, in Kontakt mit tiefen inneren Wahrheiten zu kommen. Unglücklicherweise trifft der traditionelle Buddhismus keine klare Unterscheidung zwischen dem Fühlen und der Emotion, beides wird dort als etwas zu Überwindendes in einen Topf geworfen.
Man wird davon abgehalten, Gefühle ernst zu nehmen. So dass wir zum Beispiel das dann nicht erforschen, was mit uns passiert, wenn der Partner etwas in uns ausgelöst hat.
Ja. Tatsache ist ja, dass für die meisten von uns nichts so sehr die Knöpfe drückt, wie unsere Intimbeziehungen. Wenn wir also das spirituelle Überspringen benutzen, um unsere Beziehungswunden nicht konfrontieren zu müssen, dann entgeht uns ein riesiges Feld der Praxis. Beziehungspraxis hilft uns, »im Schützengraben« Mitgefühl zu entwickeln, dort wo unsere Wunden stärker aktiviert werden als irgendwo sonst.
Jenseits den Mitgefühls müssen wir auch die Fähigkeit uns einzustimmen entwickeln: die Fähigkeit zu sehen und zu fühlen, was jemand anders durchmacht. Wir könnten es »sorgfältige Empathie« nennen. Einstimmung ist wesentlich für die Ich-Du Verbindung, aber sie ist nur möglich, wenn wenn wir uns zu allererst auf uns selbst einstimmen können, auf das, was wir selbst durchmachen.
Mit was für Werkzeugen und Methoden hast du im Umgang mit schwierigen Gefühlen und Beziehungsthemen gute Erfahrungen gemacht?
Ich habe einen Prozess entwickelt, den ich »bedingungslose Präsenz« nenne. Er beinhaltet das Kontaktieren dessen, was wir gerade erfahren, es erlauben, sich dem öffnen und dann sogar die Hingabe an diese Erfahrung. Dieser Prozess erwuchs aus meiner Vajrayana- und Dzogchen-Praxis ebenso wie aus meiner psychologischen Ausbildung. Er geht davon aus, dass alles, was wir erfahren, sogar das schlimmste Leiden, seine eigene Intelligenz in sich hat. Wenn wir der Erfahrung voll und direkt begegnen, dann können wir die darin versteckte Intelligenz aufdecken und sie von entstellten Arten des Ausdrucks unterscheiden.
Wenn wir zum Beispiel tief in die Erfahrung des Ego-Aufblähens gehen, dann finden wir darin vielleicht einen echteren Impuls – es könnte eine verwundete Art sein, die eigene Güte zu proklamieren, uns daran zu erinnern und uns darin zu bestätigen, dass wir im Grunde gut sind. So ähnlich befindet sich im Kern der dunkelsten menschlichen Gefühle und Erfahrungen ein Keim der Intelligenz, die, wenn sie aufgedeckt wird, in Richtung Freiheit weist.
Kannst du noch etwas mehr über diese Methode sagen?
Das Ergebnis davon ist, dass wir fähig werden, an Orten präsent zu sein, wo wir bisher abwesend und verbindungslos zu unserer eigenen Erfahrung waren. Indem wir mit Teilen von uns selbst Kontakt aufnehmen, die unsere Hilfe brauchen, entwickeln wir eine intime, geerdete Art von innerer Einstimmung mit uns selbst, die uns helfen kann, uns dort leichter auf andere zu beziehen, wo sie selbst stecken geblieben sind.
Ich habe festgestellt, dass, wenn Menschen sich sowohl auf eine psychologische wie auch auf eine meditative Praxis einlassen, dass sich dann diese beiden Seiten gegenseitig ergänzen können in vorteilhafter, synergetischer Weise. Diese beiden Seiten liefern eine Entwicklungsreise, die sowohl heilend wie erweckend ist. Manchmal ist die eine Art zu arbeiten sinnvoller im Umgang mit einer gegebenen Situation, manchmal die andere.
Ich finde in diesem Ansatz Ermutigung durch die Worte des 17. Gyalwang Karmapa, dem es wichtig war, zu sagen, dass wir uns, um fühlenden Wesen zu helfen, jede Methode zunutze machen sollten, sei sie weltlich oder religiös, buddhistisch oder nichtbuddhistisch. Er geht sogar so weit zu sagen, dass du, wenn du geeignete Methoden nicht anwendest, nur weil sie nicht der buddhistischen Philosophie entsprechen, du an der Stelle deine Bodhisattvapflicht (allen fühlenden Wesen zu helfen) verletzt.
Es geht also bei alledem um Mitgefühl.
Ja. Das Wort »Mitgefühl« bedeutet ja wörtlich, mit jemandem zu fühlen. Du kannst kein Mitgefühl haben, wenn du nicht zu allererst bereit bist, das zu fühlen, was du fühlst. Das eröffnet eine gewisse Rauheit und Zärtlichkeit – Tschögyam Trungpa hat es den »weichen Punkt« genannt, den Keim von Bodhicitta (der Fähigkeit, Erleuchtung zu erlangen).
Der verletzliche Punkt …
Ja. Verletzlichkeit ist das Zeichen, dass du dich Bodhicitta näherst. Diese Rauheit ist auch sehr demütigend, sie lässt uns bescheidener werden. Selbst wenn wir seit Jahrzehnten spirituell praktizieren, stellen wir immer noch fest, dass diese großen, rohen, unordentlichen Gefühle aufkommen – vielleicht aus einem tiefen Reservoir von Kummer oder Hilflosigkeit. Wenn wir uns diese Gefühle aber eingestehen können und uns ihnen nackt aussetzen, dann bewegen wir uns in Richtung einer größeren Offenheit, in einer Weise, die in unserer Menschlichkeit begründet ist. Wir reifen. Indem wir der ganzen Bandbreite an Erfahrungen Platz machen, die wir durchmachen, werden wir zu einem echten Menschen.
Wenn man in Gefühlen schwelgt und darin versumpft, wie erkennt man das?
Diese Frage stellt sich in solchen Fällen immer. Das Schwelgen in Gefühlen tritt auf, wenn man auf sie fixiert ist und sie immer wieder mit immer denselben Geschichten füttert. Bedingungslose Präsenz ist etwas anders: Da tritt man einem Gefühl offen und nackt gegenüber, anstatt sich von Geschichten über das Gefühl fangen zu lassen. Indem man nicht um das Gefühl herum eine Story erfindet.
Wenn das Gefühl zum Beispiel Traurigkeit ist, kann das Schwelgen drin ein Fixieren auf eine Story von »ich Arme/r« beinhalten. Die Alternative wäre, sich tatsächlich auf die aktuelle Traurigkeit zu beziehen, was dazu führen könnte, dass sie sich löst. Das Eintauchen in Gefühle kann so aussehen, als würde man sie verhätscheln. Ich würde eher sagen, dass die Bereitschaft, einer Erfahrung nackt zu begegnen, eine Art der Furchtlosigkeit ist. Trungpa Rinpoche hat gelehrt, dass Furchtlosigkeit die Bereitschaft ist, der eigenen Angst zu begegnen und sie zu fühlen. Wir könnten das ausdehnen und sagen, dass Furchtlosigkeit die Bereitschaft ist, uns dem, was auch immer wir erfahren, zu stellen, es zu konfrontieren, zu integrieren, dafür Raum zu schaffen, es willkommen zu heißen, uns dafür zu öffnen und dem hinzugeben. Es braucht tatsächlich einigen Mut, sich das eigene Bedürfnis nach einer gesunden Beziehung und Verbundenheit einzugestehen, es zu fühlen und sich dafür zu öffnen – vor allem dann, wenn du in deinen Beziehungen verwundet bist. Das Verhätscheln andererseits bedeutet, sich auf das Bedürfnis zu fixieren und sich davon steuern zu lassen.
Dieses Eingestehen und sich dem Stellen bringt eine gewisse Freiheit.
Ja, die relative Freiheit des »Ich bin bereit zu fühlen, was auch immer ich fühle. Ich bin bereit zu erfahren, was auch immer ich erfahre.« Manchmal nenne ich das »angewandte Präsenz« – die Präsenz, die wir in der Meditation erfahren haben, auf unsere gefühlte Erfahrung anwenden.
In unserer Nach-Meditationspraxis …
So ist es. Das hilft, die Verwirklichung der Leere als völlige Offenheit in unser Leben zu integrieren. Das »Spirituelle Überspringen« versäumt es, die Leere mit dem Gefühlsleben zu integrieren, und entwickelt dann eine unpersönliche Art, bei der wir uns selbst nicht richtig fühlen können.
Was würde unseren spirituellen Gemeinschaften helfen, sich emotional ehrlicher zu entwickeln?
Wir müssen an den Beziehungen arbeiten. Sonst werden alle unsere Beziehungswunden in der Gemeinschaft unbewusst ausgelebt. Wir müssen erkennen, dass alles, worauf wir in anderen reagieren, ein Spiegel dessen ist, was wir in uns selbst nicht anerkennen. Diese unbewussten Projektionen und Reaktionen werden in Gruppen immer ausagiert.
Wenn ich zum Beispiel nicht fähig bin, zu meinen eigenen Bedürfnissen zu stehen, dann werde ich dazu neigen, die Bedürfnisse anderer abzulehnen und sie als Bedrohung zu empfinden, denn deren Bedürftigkeit erinnert mich unbewusst an meine eigenen verdrängten Bedürfnisse. Dann werde ich andere verurteilen und irgendeine spirituelle Logik benutzen, um diese anderen ins Unrecht zu setzen und mich selbst ihnen überlegen zu fühlen.
Die Leute müssen also persönlich an sich arbeiten?
In Verbindung mit ihrer spirituellen Praxis. Leider ist es nicht leicht, Psychotherapeuten zu finden, die mit den gegenwärtigen, körperlichen Erfahrungen arbeiten und nicht nur begrifflich. Vielleicht sollten wir einige einfache Methoden entwickeln, wie wir in westlichen spirituellen Gemeinschaften den Menschen mit ihrem persönlichen Material helfen können.
Wie können wir in unseren Gemeinschaften bewusster werden?
Wir könnten damit anfangen zu erkennen, dass spirituelle Gemeinschaften denselben Gruppendynamiken unterworfen sind wie andere Gruppen. Die traurige Wahrheit ist, dass spirituelle Praxis in vielen Fällen die tiefen Wunden im Bereich der Liebe nicht heilt und auch nicht zu einer hilfreichen Kommunikation darüber führt oder einem zwischenmenschlichen sich aufeinander Einstimmen.
Ich sehe in den Beziehungen die Vorhut der menschlichen Evolution in unserer Zeit. Obwohl die Menschheit vor Jahrtausenden die Erleuchtung entdeckt hat, haben wir dieses Licht noch nicht in seiner Fülle in den Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen eingebracht.
Gruppendynamik ist ein besonders schwieriger Bereich, weil dort unvermeidlich die Beziehungswunden der Leute berührt und ihre Reaktionen darauf ausgelöst werden. Dies ehrlich anzuerkennen, könnte uns helfen, mit den Kommunikationsproblemen in den spirituellen Gemeinschaften besser umzugehen.
Wie können wir damit arbeiten?
Uns bewusst zu machen, dass wir es nicht vermeiden können, unser unbewusstes Material auf andere Gruppenmitglieder zu projizieren, das wäre ein guter Start. Wir müssen auch lernen, miteinander persönlich und ehrlich zu sprechen, ausgehend von unserer gegenwärtigen Erfahrung, anstatt das nachzuplappern, was wir gemäß der Lehren meinen erfahren zu sollen. Und wir brauchen das, was Thich Nhat Hanh »tiefes Zuhören« nennt, auf der Basis eines uns selbst Zuhörens. Zuhören ist eine heilige Praxis – eine Form der Hingabe, des Empfangens und sich Einlassens. Wir sollten erkennen, dass sie zu unserer spirituellen Arbeit dazu gehört.
Thich Nhat Hanh sagte, dass Lieben Zuhören bedeutet.
Ja. Wir brauchen auch eine enorme Toleranz und Wertschätzung für die verschiedenen persönlichen Stile im Verkörpern des Dharma (der spirituellen Lehren). Wenn wir uns mit nur einer Art der Lehre arrangieren, die auf alle passen muss, dann sind wir zu endlosen ich-bin-heiliger-als-du Wettbewerben und zur spirituellen Arroganz verdammt.
Wir verehren ja alle die spirituellen Lehren, aber wir haben sehr verschiedene Arten, sie zu verkörpern und auszudrücken. So wie Swami Prajnapad sagt: »Alles ist unterschiedlich, aber nichts ist separat.« Deshalb: Vive la différence, es lebe der Unterschied! Individuelle Unterschiede zu würdigen, wäre schon ein großer Schritt auf dem Weg zu einer Reduzierung der Konflikte innerhalb der Gemeinschaften.
Noch eine letzte Frage zum Thema der Anhaftung (attachment) in Beziehungen: Würdest du sagen, dass man, um wirklich frei (non-attached) zu sein, man vorher gebunden (attached) sein muss?
Was die Evolution des Menschen anbelangt, ist Ungebundenheit (non-attachment) eine Lehre für Fortgeschrittene. Ich meine, dass wir fähig sein müssen, befriedigende menschliche Bindungen einzugehen, bevor wir echte Ungebundenheit realisieren können. Andernfalls wird jemand, der unter unsicheren Bindungen leidet, wahrscheinlich die echte Ungebundenheit mit der Vermeidung von Bindungen verwechseln.
Vermeidungstypen fühlen sich von Bindungen bedroht. Für diese Typen beinhaltet eine ganzheitliche Heilung die Bereitschaft und Fähigkeit, ihr Bedürfnis nach menschlicher Verbundenheit zu fühlen, anstatt es spirituell zu überspringen. Sobald das passiert, macht das Streben nach Ungebundenheit mehr Sinn.
Der verstorbene Dzogchen-Meister Chagdud Tulku hat über das Verhältnis von Ungebundenheit und Bindungen einmal eine starke Aussage gemacht. Er sagte: »Die Leute fragen mich oft, ob Lamas Bindungen haben. Ich weiß nicht, wie andere Lamas das beantworten, aber für mich muss ich sagen: Ja! Ich erkenne, dass meine Studenten, meine Familie und mein Land keine echte Realität haben« (Hier spricht er von der absoluten Wahrheit). »Dennoch bin ich mit ihnen tief verbunden« (Hier spricht er die relative Wahrheit aus). »Ich erkenne, dass meine Verbundenheit mit ihnen keine echte Realität hat« (Hier spricht er wieder von der absoluten Wahrheit). »Dennoch kann ich nicht leugnen, dass ich diese Verbundenheit erfahre« (relative Wahrheit). Und er schließt mit den Worten: »Auch wenn ich um die Leerheit der Bindungen weiß, so weiß ich doch auch, dass meine Motivation, fühlenden Wesen Gutes zu tun, diese überragen muss.«
Ich empfinde das als eine wunderschöne Beschreibung der ungebundenen Bindungen und des sowohl-als-auch-Ansatzes. Chagdud Tulku verbindet hier die absolute mit der relativen Wahrheit und platziert beide in einem weitestmöglichen Kontext. Da ist alles mit drin.
Neben unserem Streben, über uns selbst hinauszugehen, auch unsere Menschlichkeit anzuerkennen und mit einzubeziehen, das ist es, was in spirituellen Gemeinschaften oft fehlt. Beides zusammenzubringen, kann sehr kraftvoll sein.
Starker Text, lieber Wolf ! Danke !