Stehen wir angesichts der Person von Adolf Hitler vor einem »mysterium tremendum et fascinosum« oder ’nur‘ vor einer Ausprägung des Menschenmöglichen, wenn die – v.a. historischen und biografischen – Umstände so waren, wie sie eben waren? 

Wie wird ein Mensch überhaupt zu dem, der er ist? Warum werden die einen zu Wohltätern, die anderen zu Massenmördern? Es gibt genetische Voraussetzungen, ja, die gibt es. Dann kommen die biografischen Einflüsse hinzu, aber diese beiden Ursachen erklären noch nicht alles. Wie kann ein begeisterter Wagneropernfan und gescheiterter Künstler, für die meisten seiner Zeitgenossen ein Langweiler, der sich vor dem Ersten Weltkrieg durch das Malen von Postkarten für Touristen in München über Wasser hielt, nach dem Krieg binnen weniger Jahre erst zum Medienstar einer rebellischen Alternativbewegung und dann zum gefeierten charismatischen Führer einer großen Kultur- und Industrienation werden – wie ist das möglich?

Die bisherigen Biografien von Adolf Hitler haben diesem Übergang kaum Beachtung geschenkt oder gaben Erklärungen ab, psychoanalytische oder historisch-materialistische, die nicht wirklich befriedigen. Hitler blieb ein Mysterium. Der Übergang von der einen Persönlichkeit zu einer ganz anderen im Körper desselben Menschen blieb unerklärlich. Trotz der Berge an Literatur, die das Phänomen dieses Menschen schon in den Bibliotheken hinterlassen hatte, widmete sich die Tagung der deutschen Historiker in Tübingen im September 2016 nur einem Thema: Hitler – und nannte ihn ein »mysterium tremendum et fascinosum«. Also ein Geheimnis, das fasziniert und zugleich Furcht und Zittern auslöst. 

Claus Hant hat sich nun nach »Young Hitler«, seinem viel gelobten ersten Buch über diesen Menschen, aufgrund neuer Fakten zum zweiten Mal dem Mysterium gewidmet, das diesen Menschen umweht. Mit, wie ich finde, überzeugenden Ergebnissen. Zum einen klärt dieses Buch über diesen neben Stalin und Mao vielleicht größten Massenmörder aller Zeiten auf, der unsere heutige Welt so sehr geprägt hat. Zum andern, und das erscheint mir als ebenso wichtig, sagt es etwas aus über die Entstehung der menschlichen Persönlichkeit in der Interaktion von Selbst- und Fremdbild, Ich und sozialem Resonanzkörper. Ein Egomane allein ist noch nichts, wie groß sein Größenwahn auch immer sein mag, wenn er nicht in seiner sozialen Umgebung einen dazu passenden Resonanzkörper findet. 

Und man könnte dem noch ein Drittes hinzufügen, und das ist die Schilderung anhand dieses berühmten Einzelfalls, wie starke Erschütterungen eine Persönlichkeit verändern können, sei es zum Guten oder zum Schlechten. Im negativen Fall nennen wir solche Erschütterungen Traumata. Im Positiven werden sie gerne als »Erwachen« bezeichen, ein sich Öffnen des Bewusstseins hin zu einer neuen Wahrheit und das Verabschieden eines alten Selbst- und Weltbildes, das nun als Illusion gilt. Mutter Teresa wurde von dem von ihr vergötterten Jesus gerufen, ihrem Heiland, und widmete sich dann jahrzehntelang einer karitativen Tätigkeit. Viele empfanden sie nach dieser Berufung als eine Heilige, die massenhaft Gutes tat. Auf der anderen Seite steht ein Adolf Hitler, der sich ebenfalls berufen fühlte, was auch ihm Charisma verlieh. Dieses wurde ihm auch außerhalb des durch den Ersten Weltkrieg gedemütigten Deutschland von vielen hohen Persönlichkeiten in Kultur und Politik zugestanden, es gab ihm jedoch die Macht zum Massenmörder zu werden.

Nach den schier unfassbaren Katastrophen des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust haben viele Menschen – ich gehöre zu ihnen – sich innerlich ein »Nie wieder!« geschworen. Nie wieder darf so etwas geschehen, und ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um die Anfänge einer solchen Katastrophe zu verhindern, wenn sie sich denn irgendwo wieder bemerkbar machen. So wird man mit der Devise »Wehret den Anfängen« zum Antifaschisten und hochsensiblen Aufspürer rechtsradikaler Tendenzen. Die man dann aber doch leider fast überall findet, wenn man nur genau genug hinschaut; sogar, und das tut weh, in sich selbst.

Claus Hant hat sich in seinem Buch der Frage genähert, ob prinzipiell jeder von uns zum Massenmörder werden kann, wenn nur die historischen Umstände dazu passen. Auf jeden Fall braucht es dazu einen Schock, der die alte Persönlichkeit zutiefst in Frage stellt, sie vielleicht sogar ganz oder nahezu auslöscht. Für Hitler war das ein Giftgasangriff am Ende des Ersten Weltkriegs, der ihn vorübergehend erblinden ließ. Die Ärzte im Lazarett diagnostizierten bei ihm allerdings kurz darauf keine physischen Schäden mehr, sondern psychische, und schickten ihn weit weg von der Front in die psychiatrische Klinik in Pasewalk, sodass er andere Soldaten mit seinem Irresein nicht würde anstecken können. 

Aus Furcht vor dem, was eine psychiatrische Diagnose seiner politischen Karriere antun könnte, ließ Hitler alle Dokumente aus dieser Zeit vernichten und Mitwisser ermorden. Dennoch lässt sich heute per Indizien einiges aus dieser Zeit rekonstruieren. Hart entlang der historischen Fakten rekonstruiert Drehbuchautor Claus Hant diese Zeit des jungen Hitler, und es entsteht das Bild einer zu innerer und äußerer Größe »erwachenden« Persönlichkeit, die sich gemäß Vorbildern in den von ihm so sehr geliebten Wagneropern politisch inszenierte in einer Weise, die hinreichend bekannt ist. 

Hitlers »Erwachen« mag man vielleicht nicht nur ein mysteriöses nennen, sondern sogar mystisches, also religiöses, das kleine Ich weit überschreitendes Erwachen. In seiner Verschmelzung mit dem Wahn, einer überlegenen Rasse und einer Lebensraum suchenden Nation anzugehören, müsste man es psychologisch oder religionswissenschaftlich eher als ein unvollständiges Erwachen bezeichnen, weil es ja einen Schatten hat, den Gegner. Jeder Drehbuchautor weiß jedoch, dass der Held einen Gegner braucht, damit sich das Drama entfalten kann. Hitler war zwar nach seinem »Erwachen« mit der Aufgabe, die Deutschen zu führen, quasi mystisch verschmolzen, aber nicht mit dem Ganzen. Er brauchte einen Feind, dem er ursächlich alles das zuschieben konnte, was in der Wirklichkeit nicht so war, wie die Helden der überlegenen Rasse es wollten, obwohl sie doch so stark waren, und das waren die »rassisch Unterlegenen«, die Juden, Roma und Homosexuellen und das »unwerte Leben«, das ausgemerzt werden musste. So zeigt sich, dass der junge Adolf Hitler, wie in Hants Biografie plausibel nachverfolgbar ist, in seiner Wiener Zeit noch mit Juden gut befreundet war. Erst nach seiner »Berufung« zum Führer bildete sich, politisch und zeitgeschichtlich opportun und psychobiografisch passend, »der Jude« als sein Feinbild. 

Viel überzeugender als ich es hier in dieser Rezension darstelle, belegt Claus Hant in seiner Biografie diesen Übergang der Persönlichkeit des Adolf Hitler von der Zeit vor 1918 zu seiner politischen Karriere in den Jahren danach. Deshalb möchte ich dieses Buch nicht nur jedem an der Geschichte des 20. Jahrunderts Interessierten ans Herz legen, sondern auch allen, die sich mit dem spirituellen Erwachen beschäftigen, das ja leider, wie wir alle wissen, nicht durchweg zu Wohltätern und Heiligen führt.