Der Film »Online für Anfänger« kommt am 28. 10. 21 in Deutschland in die Kinos. Er ist eine Komödie über das Leben in Absurdistan. Gedreht in Frankreich und Belgien noch in der Zeit bevor die Menschen Masken trugen, erschien er 2020 in Frankreich trotz wegen Corona überwiegend geschlossener Kinos mit großem Erfolg, weil er so gut unsere Ohnmacht und Verzweiflung im Umgang mit Handys und Internet abbildet. Er tut das nicht auf eine wütende Weise, sondern eher zärtlich mitfühlend beschreibt er (schon hier im Trailer) die Conditio humana als ein Leben in Absurdistan, einen Kampf Ohnmächtiger gegen Windmühlenflügel.
Ganz normal
Der Film beginnt milde. Da sieht man Menschen in Frankreich zwischen Landleben und Einfamilienhaus-Vororten so, wie wir es kennen: zerrissene Beziehungen, Generationenkonflikt, Patchwork. In PKWs fahren sie durch die Gegend und streiten oder langweilen sich in zeitgemäß eingerichteten oder zugemüllten Wohnungen. Meist sind sie mit ihren Handys beschäftigt oder am Telefonieren, aber eigentlich noch ganz normal. Allmählich steigern sich die Konflikte mit Internet und Handys jedoch immer mehr ins zwar noch immer gut Bekannte, aber in seiner Übertriebenheit Absurde. Beispielhaft überspitzt etwa die kurze Einblendung eines indischen Großraumbüros mit dort dicht an dicht über Laptops gebeugt sitzenden Menschen, die mit flinken Händen in Zeitraffergeschwindigkeit auf ihre Tastaturen einhämmern, um für Auftraggeber im Westen die bestellten Klickzahlen zu liefern.
Eine der Internet-Rebellen fliegt nach Kalifornien, um dort in Palo Alto in einem riesigen Rechenzentrum den Speicher zu zerstören, auf dem sie das Video vermutet, das ihr Stalker während des Sex mit ihr aufgenommen hat, als sie betrunken war, und mit dem er sie nun erpresst. Ein anderer der drei Rebellen fliegt nach Mauritius, um dort eine Großraumbüroarbeiterin zu treffen, die ihn, wie schon so viele andere, auf Provision Arbeitende, mit ihrer süßen Stimme verliebt gemacht und zum Kauf überflüssiger Dinge verführt hat.
Systemkritik
Ist die Kritik der drei Rebellen von »Online für Anfänger« am System unseres Umgangs mit Internet und Mobilgeräten grundsätzlich richtig? Von dem sowieso chancenlosen Versuch der von einem Stalker verfolgten Frau mal abgesehen, an den Datenspeichern in Palo Alto etwas zu zerstören, weil dort das Video ihres Erpressers gespeichert liegt.
Während ich noch darüber nachdenke, ob die Kritik dieses Films am uns beherrschenden System grundsätzlich richtig ist, lese ich, dass aktuell mehr als 800 Millionen Menschen hungern – 810 Mio. gibt die UNO hierzu an. Das sind 100 Millionen mehr als im vergangenen Jahr, während in ungefähr dieser Zeit das Vermögen der 400 gemäß der Forbes-Liste reichsten Menschen der Welt um 40% zugenommen hat.
»15.000 Kinder sterben jeden Tag«, sagt BRD-Minister Gerd Müller, und fügt hinzu: »Hunger ist Mord, denn wir haben das Wissen und die Technologie, alle Menschen satt zu machen.«
In der Coronazeit sind jedoch nicht nur die Reichen reicher und die Armen ärmer geworden, auch der ewige Run der führenden Ökonomen und Politiker aufs Wachsen der Wirtschaft hat nicht nachgelassen, und die Chancen auf ein Lindern der Klimakrise und des Artensterbens sind währenddessen gesunken.
Doch nicht nur das. In der Zeit, in der Corona das Medienthema Nummer eins war, hat sich der Umgang des unsere Gesundheitssysteme beherrschenden pharmakologisch-medizinischen Komplexes mit Gesundheit, Krankheit und Tod nicht gebessert. Eher im Gegenteil. Auf die Bilanzierung, ob die getroffenen Maßnahmen – gesundheitlich (auch psychisch und vorbeugend), kulturell, politisch und wirtschaftlich – nicht etwa insgesamt mehr genützt als geschadet haben, warten wir noch.
Während auf den Intensivstationen der reichen Länder mit exorbitanten finanziellen Mitteln prozentual gesehen nur ‚ein paar alten Menschen‘ ein paar mehr Monate des Lebens ‚geschenkt‘ wurden – ich persönlich würde ein solches ‚Geschenk‘ nicht haben wollen – erhöhte sich in den armen Ländern die Zahl der Hungernden um 100 Millionen. Mit einem Bruchteil der Gelder, die da ‚gegen Corona‘ ausgegeben wurden, hätte ein Ansteigen des Hungers, der Fehlernährung und der Verarmung vermieden werden können. 40 Milliarden pro Jahr würden gegen den Hunger genügen, sagt Minister Müller. Das sind Peanuts im Vergleich mit dem, was »im Kampf gegen Corona« schon ausgegeben wurde, und wir wissen dabei nicht einmal, ob der Nutzen den Schaden übersteigt.
Zudem können die Ökonomen während all dieser Nachrichten nach wie vor kaum an was Anderes denken als daran, wie die Megamaschine der Weltwirtschaft nun wieder auf Vor-Corona-Niveau zu kriegen ist. Vergessen, dass diese Maschine nicht nur die letzten Urwälder rodet, den Permafrost Sibiriens auftaut und die Gletscher der Welt abfließen lässt, was bald die Küstenregionen der Welt fluten wird, sondern auch – siehe »Online für Anfänger« – unsere Psyche vereinnahmt bis hin zur Versklavung (Harari 2020 in Davos: We are hackable!).
Optimismus?
Ja, wir leben in Absurdistan.
Gibt es einen Ausweg?
Ist es fünf vor oder schon fünf nach zwölf?
Wie ich schon so oft in diesem Blog schrieb: Ich bin Optimist nicht etwa, weil ich Optimismus für realistischer hielte als Pessimismus, sondern aus gesundheitlichen Gründen. Es tut mir nicht gut, an kommende Katastrophen zu denken. Wenn ich mich von den kommenden Katastrophen faszinieren lasse, sei es wie beim Gruseln in einem Horrorfilm oder mit wirklich tiefem Erschrecken, bin ich eher Teil der Problems als Teil der Lösung. Ich möchte Teil der Lösung sein.
Deshalb schweige ich nicht, so wie Kurt Tucholsky 1935, der damals nicht »gegen einen Ozean anpfeifen« wollte, sondern pflanze lieber ein Apfelbäumen.
Mein aktuelles Apfelbäumchen ist der Bachelor of Being. Am 30. Oktober beginnt dieses 5-Monats-Retreat mit 25 jungen Erwachsenen auf der Suche nach sich selbst und einem verantwortbaren Bezug zur Welt.
P.S. vom 23. Oktober: Im „Sinn-Newsletter“ von ZEIT-online las ich gerade:
Der amerikanische Internetkonzern Facebook will nicht mehr Facebook heißen. Das meldet das amerikanische Onlinemagazin The Verge. Ende Oktober soll Gründer Mark Zuckerberg den neuen Namen präsentieren. Was bislang niemand weiß: Wir von ZEIT Sinn haben exklusive Informationen über den Ablauf von Zuckerbergs Auftritt: Er wird von Sicherheitskräften hineingeführt, ohne dass man ihn erkennt, denn ein schwarzes, weites Tuch umhüllt seinen Körper. Sobald er in der Mitte der Bühne angekommen ist, beginnt eine tiefe Männerstimme aus dem Off einen Countdown, 5,4,3,2,1, dann reißt sich Zuckerberg das Tuch vom Leib und breitet seine Arme aus. Er ist oberkörperfrei, seine Brust ziert das neue Logo: eine neongelbe Krake auf schwarzem Grund. Zuckerberg bekommt ein Mikro gereicht, in das er den neuen Namen haucht: “Datenkrake.” Er setzt zu einer Erklärung an: “Wir haben uns für diesen Schritt entschieden, weil wir glauben, dass nur die Wahrheit uns auf das nächste Level bringt. Ja, wir sind eine Datenkrake, wir sammeln das Persönlichste unserer Nutzer, werten es aus, verkaufen es an Werbepartner und werden dadurch unfassbar reich.” Seine Stimme wird lauter: “Schluss mit dem Versteckspiel! Schluss mit unseren Lügen!” Er brüllt: “Wir sind die Kraken! Wir sind schlau wie sie! Wir umschlingen die Welt mit unserem Netzwerk!” Zuckerberg wirft sich auf den Boden, das Licht erlischt und nur das neongelbe Logo auf seiner Brust leuchtet grell in den Saal, in dem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nun aufspringen und tosen. Was für eine Show. |
Ganz schön übertrieben, diese Story mit „Das Sinnloseste der Woche“ zu überschreiben, finde ich. Angesichts all des anderen, was so in der Welt passiert. Eigentlich wäre eine solche Namensänderung von Facebook sehr, sehr sinnvoll! Aber das dürfen die Redakteure von der ZEIT vielleicht nicht so sagen und verstecken es deshalb in dieser kleinen Satire. Der Narr darf alles sagen, so sei es früher an den Königshöfen gewesen, heißt es – für mich nicht ganz glaubhaft, aber immerhin eine schöne Story. So wie diese hier. Wenn der Narr zu viel sagt, wird er um einen Kopf kürzer gemacht. Oder muss, so wie Edward Snowden, ins russische Exil.
„Ja, wir leben in Absurdistan.
Gibt es einen Ausweg?“
Der traditionelle Vedanta würde sagen:
Absurdistan ist in uns (Bewusstsein).
Wir, Bewusstsein, ist so etwas wie (eine Metapher) unendlicher Raum.
Insofern brauchen wir keinen Ausweg, weil wir nicht drin sind!