Charles Darwin 1859, Gustave Courbet 1866

L’origine da la vie et du monde 

Wo wir herkommen

 

Im Morgengrauen jogge ich barfuß die Grenze entlang zwischen Wasser und Land. Zwischen dem Ozean, aus dem wir stammen und der Erde, auf der wir atmen, seit wir Individuen sind. Dabei leckt sie, die Große, an meinen Füßen. Sie, la Source, der Ursprung, die große Mutter. Sie atmet aus mit jeder Welle, die sich an den Strand ergießt, sie atmet ein mit jedem Rückzug der mir Heimat bedeutenden Wassers in das tiefe, große Ganze des Weltozeans. Beim Ausatmen hat sie Schaum vorm Mund, weiß glänzt er in der Morgendämmerung und bespült damit warm meine Füße, die mit jedem ihrer Rückzüge wieder der Kälte ausgesetzt sind, dem Wind des Landlebens, in dem ich als Einzelner ein- und ausatmen muss, so lang ich lebe, so lange ich als Individuum getrennt bin vom großen Ganzen der organischen Materie.

Wer warst du vor deiner Geburt, fragt ein Koan des Zen. Ein Wasserwesen war ich, im Bauch meiner Mutter, noch ungetrennt von dem, was mich umgab. Ein Individuum bin ich erst seit dem Schnitt durch die Nabelschnur, seitdem ich draußen in der Kälte Luft atmen muss, allein.

Gefühle beiderseits

Schaum vorm Mund hat sie bei jedem ihrer Atemzüge, weil sie mich vermisst und sich wieder einverleiben will. So emotional! So gefühlsgetrieben wie sie bin auch ich, sowohl im ihr Entkommen wie in meiner Sehnsucht nach Heimkehr. Noch ist es dunkel. Ǚber mir funkeln die Sterne, und vor mir leuchtet weiß der Schaum der Mutter. Während ich barfuß die Grenze beschreite, betanke, betapse wechselt allmählich der Himmel hinüber ins Dunkelblau des Morgens, im Osten heller werdend. Patsch, patsch, tanzen meine Schritte voran, stapfend in den dunklen, nassen Sand, in dem sich grad noch die Lichter der Hafenpromenade spiegelten, nun mehr und mehr das dämmernde Himmelsblau. Es wird Tag, es wird Zivilisation, bald gestaltet sich wieder das Mit- und Gegeneinander der Einzelwesen in der Gesellschaft da draußen, an Land, jenseits des großen Ozeans.

Von wegen Ich

Ein In-dividuum? Das bin ich nie wirklich. Ich bin doch weder unteilbar noch unabhängig. Was ich über den Mund einnehme, muss über Anus, Atem und Körpergewebe wieder raus, nichts davon ist ganz anders als das Drumrum. So ähnlich ist auch das Ich meiner sozialen Existenz ein zusammengesetztes Gebilde aus vorher schon vorhandenen Teilen, den Worten meiner Sprache, mir eingeprägten Bildern und anderen Partikeln von »ich bin«. Identifizierung kommt und geht wie die Atemzüge, meine und die der großen Mutter, la grande source. Mal bin ich dies, mal das, mal atme ich ein, mal aus, und so wie das Atmen mich körperlich am Leben hält, so halten mich meine Identifizierungen psychosozial eingebunden ins Leben der Gesellschaft. Bis zu meinem Tod? Nein, auch noch danach, bis die Gesellschaft mich vergessen hat, so wie sie alle meine Vorfahren vergessen hat, alle die einzelnen, die damals halfen, die Neandertaler zu verdrängen oder zu vertreiben. Niemand weiß mehr von den Individuen, die das getan haben, nicht einmal von den Stämmen weiß man, die da Täter waren, kaum können wir uns sicher sein, dass unsere Spezies es war, die den Neandertaler verdrängt hat und nicht etwa eine Veränderung der nichtmenschlichen Umwelt.

Ursprung und Ende

Merkwürdig, dass Darwins »The origin of Species« sieben Jahre vor dem Entstehen von Gustave Courbet »L’origine du Monde« erschien. So als gäbe es da einen Durchbruch in der Entwicklung des Bewusstseins: Darwin belegte, dass wir aus dem Urozean stammen, und Courbet hob den Schleier vor der Tatsache, dass wir aus dem mütterlichen, warmen Wasser stammen und das Tor zu dieser Welt im Inneren der Frau auch der Eingang zum Paradies der männlichen Lust ist – für den Auftraggeber dieses Bildes, den türkischen Diplomaten und Kunstsammler Halil Şerif Paşa, war es das. Der Ursprung unseres individuellen Lebens ähnelt dem Ursprung unserer Spezies. Beide Entwicklungslinien beginnen im warmen, salzigen Wasser, das genauso salzig ist wie unser Blut. 

Wo kommen wir her? Das wäre damit beantwortet. Und wo gehen wir hin? Dort hinein will der Hetero-Mann sich mit seinem Samen ergießen und dabei den kleinen Tod sterben. Dort, im origin of species, im Wasser des (Ur)Meeres wünschten sich Seeleute traditionell bestattet zu werden, nicht in der Erde.