»Du bist ja sowas von im Kopf!« Dieser in den spirituellen Szenen oft ausgesprochene Vorwurf hat großen Schaden angerichtet. Sowohl den so Angeklagten wie den ihn Aussprechenden hat er geschadet, und für die Beobachter außerhalb dieser Szenen hat es den Zugang zu den herzorientierten Szenen erschwert. 

Dabei ist der Anspruch, nicht so sehr im Kopf zu sein, eigentlich etwas Gutes. Übersetzt bedeutet er ja die Aufforderung, sich nicht zu sehr in Denkroutinen zu drehen, zu grübeln und Gefühle gering zu schätzen. Mit dem Anspruch: Sei herzlich!
Was aber ist unter Herzlichkeit zu verstehen? 

Damit haben wir das zweite große Problem: Keiner weiß so recht, was das Wort »herzlich« bedeutet. Da Herzlichkeit aber, kulturübergreifend und weltweit, als etwas Positives verstanden wird, verwendet die Produktwerbung es ausgiebig. Kaum eine Anzeige der großen Vermarkter kommt merh ohne Worte wie Liebe und Herz aus. Nicht zu vergessen die Briefunterschriften, die sich von »Mit freundlichen Grüßen« über »Herzlich« bis zu »Herzlichst« steigern können. 

Denken als Vorstufe zum Grübeln

Und was sagt der vermaledeite Kopf dazu? Darf ich nun gar nichts mehr denken? Die Anforderung, beim Meditieren keine Gedanken haben zu dürfen, verschlimmert die Situation noch. Nachdenklichkeit gilt nun als Vorstufe zum pathologischen Grübeln, und wer für oder gegen irgendwas gute Argumente hat, gilt als »zu sehr im Kopf«. In Kreisen, die sich auf ihre Herzlichkeit was einbilden, ist »Intellektueller« ein Schimpfwort.

Nochmal zurück zum guten Kern oder hohen Anspruch dieser spirituellen Attitüde: Um sich selbst kreisende Gedanken sind kein Bonus. Emotionale, partnerschaftliche Probleme löst man nicht durch Denken, sondern auf der Gefühlsebene. Auch politische Konflikte lösen sich kaum je durch klares Denken und triftige Argumente. In der Regel sind politische Haltungen gefühlsbasiert und immun gegen Argumente. Bei den Wahlen in den Demokratien sollte eigentlich die klügere Partei mit dem besseren Programm gewinnen. Fakt ist, das Wahlen durch Emotionen gewonnen oder verloren werden. Was das Volk fühlt, ist für das Ergebnis entscheidend, nicht wer die besseren Argumente hat.

Mitte der 1930er Jahre waren die meisten Deutschen Hitler herzlich zugetan, die Mehrheit liebte ihn. Auch andere Autokraten wie Erdogan, Putin und Trump gewannen, weil es ihnen gelang, das Herz der Mehrheit für sich zu gewinnen. 

Herz, was soll das bedeuten?

Was aber soll »das Herz gewinnen« bedeuten? Für den Verstand ist das nicht leicht zu fassen. Die Wissenschaft drückt sich darum, das zu erforschen, für sie das alles zu wischiwaschi, zu subjektiv. Maik Hosang, der an der Universität Görlitz Kulturwissenschaften lehrt, versucht seit Jahren die Erforschung der Liebe in der akademischen Welt zu etablieren und erntet dabei doch oft schräge Blicke. Ist es Forschern peinlich, Liebe und Herzlichkeit zu untersuchen? Obwohl doch alle Welt das Herzliche liebt und das es ist, was uns, jedenfalls im Positiven, mehr motiviert als alles andere. 

Zum wahrscheinlich sexuellen Ursprung des Herzsymbols habe ich an anderer Stelle geschrieben. Hier jetzt nur meine Gedanken zum Emotionalen. Jemanden oder etwas »in sein Herz aufnehmen« bedeutet, sich zugehörig fühlen, sich darin beheimaten, sich ‚damit identifizieren können‘. In der innigsten Bedeutung schließlich bedeutet es, sich mit etwas tatsächlich zu identifizieren, im Sinne von »Auch das bin ich; du bist / es ist ein Teil von mir«. Die spirituelle Praxis der Selbstausdehnung übt das.

Siddharta konnte klar denken

Und was die Fähigkeit des Denkens anbelangt, ist diese grundsätzlich etwas Gutes. Nicht von ungefähr ist klares Denken eine der drei Eigenschaften des Siddharta in der viel beachteten Erzählung von Hermann Hesse (von 1922). Die anderen beiden sind meiner Erinnerung nach warten Können und Fasten.

Nicht klar denken zu können hilft dem Herzen nicht. Im Gegenteil: Diffuses oder verwirrtes Denken ist kein Bonus für das Herz, verstanden als emotionale Intelligenz. Kopf und Herz ergänzen einander, so sollte es sein. Bei C.G.Jung etwa sind die vier Grundfunktionen des Bewusstseins: Denken, Fühlen, Intuieren und Empfinden. Kopf und Herz (alias Denken und Fühlen) stehen sich dabei polar gegenüber, können einander aber auch gut ergänzen. Ebenso Intuition und Sinnlichkeit. Die entwickelte Persönlichkeit nutzt alle vier.

Beschämung der Denkenden

Die Anforderung nicht im Kopf sein zu dürfen wird in vielen spirituellen Gruppen genutzt, um Adepten auf Linie zu bringen. Der Denkende wird beschämt, und wenn die Beschämung gelingt, ist es ihm peinlich. Möge er doch bitte die richtigen Emotionen haben, »so wie wir«. Herzlichkeit bedeutet dabei die emotionale Zugehörigkeit zur jeweils angesagten Subgruppe oder herrschenden Clique. Man zeigt sie zum Beispiel durch Lachen an der richtigen Stelle und das Ausgrenzen derer mit den falschen Gefühlen und Gedanken. 

Gefühle & Gedanken

Gefühle und Gedanken hängen eng zusammen. Kein Gefühl kann bestehen ohne dazu passende, es unterstützende Gedanken. »Empörung« zum Beispiel ist immer eine Gedankenroutine, verbunden mit einem Gefühl. Tendenziell ist das Gefühl dabei Aggression, es kann aber auch in Angst kippen, mit Bereitschaft zur Flucht. Und wenn Liebe denn ein Gefühl ist, sind damit positive Gedanken verbunden, gerichtet auf das Objekt der Liebe.

Erzählung versus Analyse

Und noch so viel mehr lässt sich dazu sagen! Und auch erzählen. Etwa wie ich als junger Autor in spirituellen Kreisen allein aufgrund der Tatsache, dass schreibe – und das auch noch in aller Öffentlichkeit – als herzlos und im Kopf denunziert wurde. Oder ich selbst mir eine Zeitlang das reflektierende Tagebuchschreiben verbot, um »ganz im Herzen« zu sein. Liebesbriefe zu schreiben war die einzige Ausnahme, die ich mir in dieser Zeit des Schreibfastens erlaubte. Auch aus den Jahren, in denen ich das Herzsymbol nicht verwendete, weil es mir als zu schlitzohrig oder sentimental vorkam, und Worte wie »Herz« und »Liebe« für mich Wieselworte waren, die ich mir in der privaten Kommunikation nur mit Gänsehaut erlaubte, hätte ich viel zu erzählen. 

Ist denn Erzählung die Sprache des Herzens und Analyse die des Kopfes? Ach, mein Herz will immer beides! Mein Kopf auch.

Vom Salat lernen

Als Schlusswort ein Zitat von dem deutschen Architekten und Autoren E.W.Heine (1940–2023): »Wir müssen vom Salat lernen – er hat sein Herz im Kopf«. (Gefunden im Newsletter »Roter Faden Consulting« von Hermann Häfele).