Als ich in der 8. Klasse Gymnasium das Wahlfach “Philosophie” belegte, wurde ich zum ersten Mal mit der Möglichkeit konfrontiert, dass Menschen sehr unterschiedliche Wahrnehmungen der gleichen Realität haben. Der Lehrer wählte damals als Beispiel einen typischen Stuhl, wie er in vielen Klassenzimmern zu finden ist. Er behauptete, es könne sein, dass jedem von uns dieser Stuhl völlig unterschiedlich erscheint.

Ich fand das absurd: Bisher hatten die anderen immer gewusst, welchen Gegenstand ich meinte, wenn ich von einem Stuhl sprach! Es gab auch keine Missverständnis über seine Farb- und Formgebung. Warum sollte ich daran zweifeln, dass wir alle in der gleichen Realität lebten?      

Subjektive Realitäten

Mittlerweile hat sich das sehr geändert. Ich gehe davon aus, dass es so etwas wie eine “objektive Realität” nicht unabhängig von einem “wahrnehmenden Subjekt” geben kann: In dem Moment, wo einer über irgendeine Wirklichkeit berichtet, erzählt er von einer Beziehung, die seine (subjektive) Innenwelt mit einer (vermeintlich objektiven) Außenwelt aufnimmt. Solche Beschreibungen beruhen immer auf einer Trennung oder Unterscheidung, die wir zwischen einem Ich (Subjekt) und einer Gegebenheit machen, die als Nicht-Ich erlebt wird. Das Nicht-Ich könnte man – aus der Perspektive des erkennenden Subjekts – auch als “Erscheinung” bezeichnen. Im Buddhismus wird sehr betont, dass alles was uns erscheint, nur eine Illusion unseres Verhaftet-Seins an den Ich-Gedanken ist. Angestrebt werden Bewusstseinserfahrungen, in denen diese Spaltung nicht mehr existiert. Sie werden “Einheitserfahrungen” genannt. Manche Menschen, die solche Erfahrungen gemacht haben, halten sich nun für “erleuchtet”. Die subjektive Realität eines “Erleuchteten” scheint zu sein, dass es keine Trennung mehr zwischen (erkennendem) Ich und einer (vermeintlichen) Außenwelt gibt.

Innen und Außen

In mystischen Erfahrungen heben sich die Unterschiede zwischen Innen- und Außenwelt auf: Das Subjekt erlebt sich nicht mehr getrennt von einer äußeren Realität. Wie ist es nun wirklich? Ist nun die Einheit wahr, oder die Vielheit? Oder bin ich besonders weise, wenn ich beides als Erscheinungsformen des gleichen (ungeteilten) Seins deute? Ich ziehe im Moment die nüchterne Betrachtungsweise vor, dass unsere menschliche Erlebnisfähigkeit in der Regel auf einer Subjekt/Objekt-Spaltung basiert und damit meistens eine Trennung zwischen Innen und Außen, zwischen Subjekt und Objekt erzeugt. Es ist für mich gut zu wissen, wieviele Variablen in diesen Vorgang hineinwirken, die zu höchst unterschiedlichen inneren und äußeren (Wahrnehmungs-) Realitäten führen können.

Übereinstimmende (Konsensus-)Realität

Dabei gehe ich von einigen Übereinstimmungen zwischen meinen Wahrnehmungen und der meiner Mitmenschen aus. Den Stuhl und seine Form muss ich heute nicht mehr in Frage stellen, auch nicht die Farbe des Himmels und das Aussehen einer Eiche. Über die Dinge, die ich anfassen, wiegen, messen und fotografieren kann, muss ich mich nicht mit anderen streiten. Und dennoch: Was sagt ein Foto schon wirklich über das abgebildete Objekt aus? Hat das noch etwas mit mir zu tun, was auf dem winzigen bunten Papierstück erscheint, das in meinem Personalausweis eingeschweißt ist? Der Magnetstreifen ist heutzutage vermutlich viel aussagekräftiger!

Deutungen von Unterschieden

Schon das Erleben eines Baumes kann mit höchst unterschiedlichen subjektiven Realitäten verbunden sein. Stellen wir uns zum Beispiel vor, jemand ist schon einmal – bei rutschiger Straße – unfreiwillig mit seinem Auto gegen einen solchen geknallt. Dieser Person wird jeder Baum am Straßenrand völlig anders erscheinen als mir. In der Psychotherapie habe ich ständig mit solchen unterschiedlichen (traumatisch geprägten) Erlebnisweisen zu tun. Sie weichen manchmal sehr stark von meinen eigenen ab. Konsens lässt sich darüber nicht erzielen. Ich strebe das auch nicht an. Wenn Menschen Dinge wahrnehmen, die die meisten von uns nicht erkennen können und damit in psychiatrischer Behandlung landen, dann wird das Erleben in der Regel als “wahnhaft” gedeutet. Durch Psychopharmaka versucht man dann, auf diese Erscheinungen Einfluss zu nehmen. Aber auch im ganz normalen Alltagsleben, besonders in emotional aufgeladenen zwischenmenschlichen Erfahrungen, kann ich davon ausgehen, dass die gleiche Situation von den verschiedenen Beteiligten höchst unterschiedlich erlebt und wahrgenommen wird. Sehr deutlich wird das, wenn wir Menschen befragen, die ihre zwischenmenschlichen Konflikte nicht mehr einvernehmlich lösen können. Jeder von ihnen hat eine völlig andere “Wahrheit” über die gleiche (gemeinsame) Wirklichkeit.

Esoterische Übereinstimmungen

In manchen esoterischen Kreisen und auch an anderen Orten in unserer Gesellschaft, werden solche abweichenden Wahrnehmungen wieder zu einer Konsensus-Realität erklärt. Man ist sich dann zum Beispiel einig darüber, dass ein Haus von einem Geist bewohnt oder ein Mensch von einem Dämon besetzt ist. Es werden “Lichtwesen” angerufen, oder die Botschaften “himmlischer Meister” gechannelt. Damit lässt sich in der heutigen Zeit viel Geld verdienen. Es braucht nur zwei Menschen, die sagen, sie würden das gleiche Phänomen erkennen und schon scheint es Realitätscharakter anzunehmen. Hier fühlen sich die, denen das (vermeintlich) besondere Wissen zugänglich ist in der Regel den anderen überlegen. Vor einigen Jahren nahm ich einmal an einer Therapiedemonstration auf einem Kongress teil, der von einer schamanisch arbeitenden Psychotherapeutin geleitet wurde. In der Nachbesprechung sagte sie: “Das war ein Inkarnations-Prozess, wer hat’s gemerkt?” Die Finger ihrer “Groupies” schnellten in die Höhe. Als ich eine nüchternere Deutung versuchte, erntete ich abweisende Blicke von ihr. Sie wollte nicht darauf eingehen.

Bewertungslosigkeit

Ich versuche heute, alle Unterschiede in unseren Erlebnisweisen möglichst als vielfältige Phänomene hinzunehmen und nicht zu bewerten. Wenn sie Leid erzeugen, dann erforsche ich, wodurch dieses Leid entsteht. Häufig verursachen die Bewertungen der Umwelt mehr Leidensdruck, als das Empfinden selbst. Es scheint mir fragwürdig, das Erleben von Menschen in (bewertende) Kategorien von “krank” und “gesund” einzuteilen. Viele der so genannten “Gesunden” unterscheiden sich von den “Kranken” vor allem dadurch, dass sie wissen, in welchen gesellschaftlichen Zusammenhängen man besser nichts über die Besonderheiten der eigenen Wahrnehmungs- und Erlebniswelt berichtet.

Verwirrung und Verständnis unter den Menschen

Durch die falsche Vorannahme, dass die subjektive Realität des einen mit irgendeiner objektiven Realität, bzw. der subjektiven Realität anderer Menschen übereinstimmt, entsteht eine babylonische Sprachverwirrung: Jeder versucht den anderen von der eigenen (vermeintlich richtigen) Wahrheit zu überzeugen. Es regiert die Rechthaberei! Wenn ich hingegen von der Vorannahme ausgehe, dass es ganz vielfältige und verschiedene “innere Wahrheiten” gibt, dann beginne ich mich wieder für mein Gegenüber zu interessieren. Ich verstehe, dass ich mich ihm zuwenden, ihn befragen, mich in “seine Welt” einfühlen muss, wenn ich ihn erkennen und erspüren möchte. Nur so entsteht wirklich Verständnis und Übereinstimmung (Konsens) zwischen uns.