Kann »der Mainstream« sich irren? 

 

Anfang dieses Jahres schrieb ich für eine hoch angesehene Zeitschrift über Genies am Rande der Gesellschaft. Über Menschen, die als Angehörige von unkonventionellen oder sogar stark diskreditiertten Minderheiten einen Blick auf die Welt und die Gesellschaft werfen konnten, der ihnen ermöglichte, Klischees zu durchschauen und wirklich innovativ zu sein, was den Mitläufern der Hauptströmungen viel seltener gelingt. Die Redaktion, mit der ich sonst ein gutes und leichtes Einvernehmen habe, bat mich, in meinem Text das Wort »Mainstream« nicht zu verwenden, um nicht in die Querdenkerecke gestellt zu werden. 

Bei all der Verrücktheit so mancher der heutigen Systemkritik von Andersdenkenden – Systemvertreter nennen sie gerne »Querdenker« – bleibe ich dabei: Auch der Hauptstrom einer Gesellschaft kann sich irren, nicht nur seine Subsysteme und Nebenströmungen. Es ist eben eine Eigenschaft von uns Menschen, sich selbst und das eigene Kollektiv, in dem wir uns jeweils gerade beheimaten, für den Inhaber der Wahrheit zu halten. 

 

Aderlass und Massenbombardierungen

Was haben der Aderlass und die Massenbombardierungen von Zivilisten zwischen 1940 und 1975 gemein? Beides sind Irrtümer des wissenschaftlichen und politischen Mainstreams. Und noch ein drittes Beispiel für einen Irrtum des Mainstreams mit furchtbaren Folgen: Die vom Volk mehrheitlich unterstützte politische und militärische Führung Italiens irrte sich, als sie im 1. Weltkrieg etwa eine Million Soldaten in den Isonzoschlachten opferte, die am Ende von Österreich gewonnen wurden. 

Für den medizinischen Mainstream Europas war der Aderlass bis ins 19. Jahrhundert »eine der wichtigsten, wenn auch nicht unumstrittenen medizinischen Therapieformen« (so die dt. Wikipedia). Im 2. Weltkrieg hielt der wissenschaftliche Mainstream den Terror gegen die Zivilbevölkerung für nötig und angemessen, wenn ein Akteur auf der politischen Bühne den Kampfgeist des Gegners brechen wollte. Das war die Grundlage von Hitlers »Blitz on London« und der Bombardierungen der deutschen Städte gegen Ende des Krieges. In beiden Fällen war, wie man inzwischen weiß, das Gegenteil der Fall: Der Kampfgeist des Gegners wurde gestärkt. Hätten die Kriegsparteien das gewusst, wären ein paar Millionen Menschen weniger gestorben. Im Falle von Hiroshima und Nagasaki schockierte die Massenvernichtung von Zivilisten immerhin die Militärführung des Gegners und führte so zur Kapitulation. 

Auch im Korea- und Vietnamkrieg wurden Flächenbombardements zur Einschüchterung der Zivilbevölkerung des Gegners eingesetzt. Weitere Millionen starben dabei, und bis heute ist das südliche Laos noch immer voller Minenfelder. Selbst diejenigen, die an gute und gerechte Kriege glauben, müssen zugeben, dass in diesem Falle die Opfer »umsonst« waren, d.h. sie erfüllten die Absichten der sie befehlenden Militärs nicht, deren Wissen sich auf einen Konsens des wissenschaftlichen Mainstreams gründete. 

 

Schlafschafe allüberall

Diese historischen Beispiele werden mir den Jubel von Coronamaßnahmengegnern einbringen. Neben den meisten von ihnen würde ich mich jedoch auf einer Demo nicht wohlfühlen. Noch viel weniger möchte ich mit ihnen eingesperrt werden in die bereitgestellten Schubladen, in die der jeweils gerade regierende Mainstream seine Gegner sperrt. Mit denen glaubt er beweisen zu können, dass er recht hat. Wie schafft er das? Indem er sich die Irrsten unter seinen Gegnern herauspickt und sie als typisch darstellt. Einzelschicksale berühren uns ja viel mehr als anonyme Zahlen. Auch gegen sehr große Zahlen sind wir emotional fast immun. Mag sein, dass ‚der Kopf‘ die Zahlen versteht, aber ‚das Herz‘, unser Gefühl versteht sie einfach nicht. Gute Propagandisten picken sich deshalb unter ihren Gegnern die unfassbar Dämlichsten raus und sagen: »Schaut, so sehen sie aus, meine Gegner! Willst du zu ihnen gehören?«

Andererseits können auch Abtrünnige, Rebellen, Minderheiten, Ausgegrenzte, Diffamierte und Abgehängte irren. Opfer von Mainstream-Arroganz oder -Tyrannei zu sein, heißt noch lange nicht, auf der Seite der Wahrheit zu stehen. Auch die vom Mainstream abtrünnigen, ‚alternativen‘ Subkulturen schauen lieber auf die Splitter im Auge der anderen als die Balken in den eigenen Augen. Auch die Subkulturen sind Herden, in denen Mitläufer ihren Anführern folgen. Autoritätsgläubige Schlafschafe gibt es auch dort. Sie folgen dort eben den alternativen Gurus, nicht mehr denen des Mainstreams. Sie leben in einer anderen Blase, sie sind in einem anderen Glaubenssystem zuhause. 

 

Experten sind die Priester von heute

Zwischen den Befürwortern und den Gegnern der Coronamaßnahmen ist es heute nicht viel anders als früher zwischen den Religionen. Unsere Vorfahren verwiesen in ihren Weltanschauungskämpfen auf die Bibel und den Koran (viele tun das ja sogar heute noch). Heute verweisen wir auf die Statistiken unserer jeweiligen Gurus, und die heißen natürlich nicht Gurus, sondern Experten. Experten sind die Priester der heutigen Religionen.

»Selbsternannte Experten«? Hoffentlich sind die tonangebenden Gurus von heute nicht nur »ernannte« Experten, die den Glauben an den Wert ihrer Expertise aus ihrer Ernennung ziehen. Einen militärischen Orden möchte ich nicht haben, wie hochrangig auch immer ich dadurch ernannt werde, und auch von den meisten anderen Institutionen der alten Welt möchte ich nicht ernannt, gelobt oder gefeiert werden. Lieber sind mir weniger autoritätsgläubige Experten, die wirklich wissen, was sie tun und sagen und worauf das fußt.

Warum habe ich mich trotzdem impfen lassen? Weil auch der Mainstream manchmal Recht hat. In diesem Falle habe ich nur wenig autoritätsgläubiger Mensch mich nach einiger Abwägung entschieden, dem Rat der ‚Scientific Community‘ zu folgen. Die Politik der Coronamaßnahmen ist wirr, oft inadäquat, kurzsichtig und folgt keiner gerechten, nachvollziehbaren Ethik. Der wissenschaftliche Mainstream aber hält trotz aller Rückschläge im »Kampf gegen das Virus«, der zeitweilig sogar als Krieg bezeichnet wurde, die Impfungen noch immer für sinnvoll. Auch das Boostern? Tendenziell auch das Boostern. Bisher jedenfalls. Was mit Omikron auf uns zukommt, ist ja noch kaum voraussehbar. 

 

Wer ist es wert, gerettet zu werden?

Wen wollen wir denn retten, und welcher Aufwand ist dafür angemessen? Zurzeit leiden mehr als 800 Millionen Menschen Hunger, das sind 11% der Menschheit (Quelle: UN). Sie vom Hunger zu befreien würde nur einen winzigen Bruchteil der Gelder erfordern, die zum Schutz vor Corona und zum Ausgleich der wirtschaftlichen Folgen der Coronamaßnahmen ausgegeben wurden. Nach meiner Schätzung hätte weit weniger als 1% der Corona-Ausgaben die ganze Welt vom Hunger befreit.  

Circa 5,2 Millionen Menschen sind in den vergangenen 1 3/4 Jahren, seit Corona bekannt ist, an oder mit diesem Virus gestorben. In einem Jahr allein sterben zurzeit 7 bis 8 Millionen Menschen an den Folgen von Tabakkonsum (Quelle: u.a. statista). Warum verbieten wir nicht einfach das Rauchen, anstatt die ganze Weltkultur (und -wirtschaft, -gesundheit, Naturschutz, Bildung und Menschenrechte) aufs Spiel zu setzen, mit nicht nur finanziellen immensen Folgen für die nächsten Generationen?

Die Zahl der jährlichen Todesfälle durch Malaria stieg im vergangenen Jahr nach einem langen Rückgang durch Corona wieder an. Ebenso die nicht erkannten und gemeldeten Fälle an Tuberkulose. Auch die AIDS-Prophylaxe wird durch die Coronamaßnahmen behindert. Corona ist nach Einschätzung von UNICEF die größte Krise für Kinder seit Gründung der Organisation. Mehr als 100 Millionen Minderjährige seien in Armut abgerutscht, 1,6 Milliarden konnten zeitweise nicht zur Schule gehen (Quelle: Tagesschau). Warum rufen ’wir’ wegen Corona zur Panik auf, aber nicht wegen all dem anderen? 

Es gab jedoch in der Regierung Merkel wenigsten einen, der die Corona-Panikmache für falsch hielt: Bundesentwicklungsminister Gerd Müller von der CSU. Im Interview mit dem »Handelsblatt« sagte er schon im September 2020: »An den Folgen der Lockdowns werden weit mehr Menschen sterben als am Virus«. Wenn in den Geschichtsbüchern der Zukunft einst die weltweiten Schäden der Coronamaßnahmen bilanziert werden, wird er vielleicht als einer der wenigen dastehen, die diese als eine zutiefst unsolidarische Verstärkung der Privilegien der Reichen erkannt haben. 

 

Ausscheren ist nicht leicht

Herdenverhalten gibt es allüberall. Auch hier sollten sich die diversen Kollektive, Kulturen und Subkulturen in ihren jeweiligen Blasen und Echokammern erstmal an die eigene Nase fassen. Warum gab es unter den 58.000 Angestellten von Facebook (2020) nur eine – Frances Haugen – die 2021 zum Whistleblower wurde? Nur eine unter fast 60.000 konnte es nicht mehr ertragen, wie sehr Facebook aus geschäftlichen Gründen den Hass zwischen Menschen verstärkt. 

Warum sind die Edward Snowdens in Agenturen und Behörden wie der NSA (National Security Agency der USA) so selten? Für die NSA arbeiten immerhin 40.000 Menschen. Warum gab es unter ihnen nur einen Edward Snowden? Und in der Regierung Merkel mit Gerd Müller nur einen, dessen Ethik nicht aufs Nationale beschränkt war? Und den kennt kaum jemand. Spahn und Drosten kennen alle.

Ausscheren ist nicht leicht. Das gilt nicht nur für die diversen Mainstreams, sondern auch für alle Subgruppen von Gesellschaften, denn auch in diesen Untergruppen suchen Menschen nach Bestätigung durch andere Menschen. Allein gegen »die Corona-Politik«? Das brächte vielleicht eine unter 10.000 fertig. Die meisten Menschen brauchen Subgruppen, in denen ihr Renegatentum bestätigt wird, sonst brechen sie nicht aus. Edward Snowden und Frances Haugen sind in der Hinsicht Ausnahmen. Beide sind hochintelligente, mutige Menschen, die lange mit ihrem Gewissen kämpften, ehe sie ausscherten. Frances Haugen geht es jetzt auf Puerto Rico anscheinend nicht schlecht. Edward Snowden in Russland? Vermutlich weniger gut. Whistle-Blowing wird im allgemeinen nicht belohnt. 

 

Was tun?

Was können wir bei all dem massenhaften Wahnsinn tun? Inmitten all der Herden, die wir so gerne für intelligente Schwärme halten würden. In einer Welt, die ich hier im Blog so oft als ein »Leben in Absurdistan« bezeichnet habe. Ein bisschen schüchtern und zögerlich, um nicht zu einem Missionar zu werden unter all den anderen Missionaren, möchte ich hierzu nur zwei kurze Anmerkungen machen, von denen ich meine, dass sie oft (meistens?) zu kurz kommen: 

1. Trau’ nicht per se einer Statistik. Auch wenn sie – vielleicht – faktisch wahr ist, gibt sie immer nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit wieder. Wie relevant ist dieser? Statistiken lenken unsere Aufmerksamkeit nicht viel anders als ein Zauberkünstler auf der Bühne, der ein Kaninchen in seinem Zylinder verschwinden lässt und es kurz darauf wieder daraus hervorholt. Er lenkt unsere Aufmerksamkeit. 

2. Auch wenn ein Narrativ überzeugend ist und – vielleicht – wenigstens etwas Gutes will und dadurch – manchmal – auch etwas Gutes bewirkt: Es ist nur ein Narrativ. Es ist nur eine Geschichte, eine Erzählung, die uns »die Welt erklärt«, was immer nur mehr oder weniger gut gelingt. So vieles wird von deiner gerade favorisierten Welterklärung nicht erfasst. Bleib deshalb mit einem Teil deines Bewusstseins im Transnarrativen verankert, im Hintergrund, in der Leinwand, auf der sich diese Geschichte abspielt. Das ist eine gute Basis für Frieden, Perspektivwechsel und die Fähigkeit zum Verständnis anders Überzeugter, anders Beheimateter, Andersgläubiger.

Viele weitere gute Ratschläge zu diesen Themen sind schon an anderen Stellen gesagt worden. 

 

Zum Abschluss noch ein Zitat von dem 1958verrstorrbenen Aphoristiker Hans Krailsheimerr; 

»Um sich frei zu fühlen gibt es ein ganz einfaches Mittel: nicht an der Leine zerren.«

Und ein P.S., weil mir Hartmut Frank, ein Leser und Kommentator dieses Blogs, mir gerade einen Ausschnitt aus der „Welt am Sonntag“ vom 12. Dezember schickte. Also aus einer für Mainstream hoch seriösen Quelle (und die WaS gibt als Quelle das Divi Intensivregister an). Die Grafik zeigt den Verlauf der Anzahl der Intensivbetten in Deutschland in den vergangenen drei Monaten.  

Hartmut ist Professor für Toxikologie an der Universität Bayreuth und ein weltweit anerkannter Toxikologe. Er fragt sich angesichts dieser Grafik: »Wer polarisiert hier eigentlich? Die „Querdenker“ – oder die Populisten, die seit Wochen die Behauptung gebetsmühlenartig wiederholen, die Impfunwilligen seien Schuld an der Intensivbettenmisere? Sie scheren sich nicht darum, was die objektive Evidenz ist. Wer produziert hier eigentlich die Fake News?«

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