Heute vor einer Woche hatten wir unser Tanzfest – »Freitanz« haben wir es genannt, in Anlehnung an die »Freitänzer«-Events aus München und anderen Städten, die es auch mal bei uns in der Region gab, hier Nähe von Vilsbiburg.
Bis auf einen der Afghanen haben alle mitgetanzt. Dieser eine, scheue Tanz-Abstinenzler sagte, er habe in Afghanistan einen Lehrer gehabt (»my leader«, er zeigte mir das Foto auf seinem Handy und war dabei den Tränen nahe), der seiner Anhängerschaft das Tanzen untersagt hatte und von den Taliban erschossen wurde. Sonst waren alle da, die Syrer und die Afghanen, auch die Kinder, der dreijährige Amir und der neunjährige Zain, und es waren einige unserer Freunde aus Niedertaufkirchen, Mühldorf und Töging gekommen. Die Erfahrung war so ermutigend, dass wir das wieder machen werden: am 2. April (mit Angela Raymann als DJ) und am 30. April (mit Devendro als DJ). Jeweils wieder ab 20 h.
Männertänze
Auch wenn wir Deutschen gegenüber den Flüchtlingen in so vieler Hinsicht die Gastgeber sind – der deutsche Staat mit seiner finanziellen Unterstützung und die vielen Ehrenamtlichen, die den Flüchtlingen ihre Zeit und Zuwendung schenken – diese Einwanderer in spe geben uns was zurück. Beim Tanzen spüre ich das zum Beispiel in dem, wie hier Männer mit Männern tanzen, aber auch im – trotz einiger Konflikte – überwiegend sehr solidarischen Umgang der Männer untereinander in der WG. Das fehlt unserer Kultur, wo Männer mit Männern am Arbeitsplatz konkurrieren und am Stammtisch über »die da oben« lästern, meist ohne an ihrem eigenen Leben etwas zu ändern. Als Maulhelden am Stammtisch, Stimmvieh bei den Wahlen und Geist-ist-Geil-Konsumenten im Discounter werden wir »die große Politik« nicht ändern können. Die Männerkulturen des Orients sind in ihrem Umgang mit Frauen in so vieler Hinsicht verächtlich und repressiv, aber sie haben im Umgang der Männer untereinander etwas, wovon wir hier, im egalitären Westen, lernen können, finde ich.
Hier nochmal eine kurze Einspielung (wieder ein Film von Maxems Handy), die den alten Syrer Ali aus Homs, den Großvater von Zain, beim Tanzen zeigt, dann mich, dann Inge.
Dankbarkeit
Die meisten der Flüchtlinge, die bei uns in den vergangenen Monaten in Deutschland aufgenommen wurden, fühlen sich Deutschland gegenüber sehr dankbar. Das gilt auch für unsere Hausbewohner. Auch wenn sie im Gefühl der Dankbarkeit vielleicht nicht so tief oder so kontinuierlich verankert sind, wie man als Gastgeber sich das zuweilen wünscht. Aber was ist mit uns, den durch »die Gnade der Geburt« in diesem reichen und friedlichen Land zur Welt Gekommenen? Da müssten wir uns doch mindestens so sehr bei Gott, Allah oder dem Himmel bedanken, dass wir bislang von Krieg und Flucht verschont wurden.
Zu Gast bei Gästen
In Otterndorf, einem kleinen Ort bei Hamburg, haben ein paar Syrer zusammen mit dem Hotelbesitzer Christoph Sohnrey sich ein Event ausgedacht, bei dem unter dem Motto »zu Gast bei Gästen« die Gäste ihren Gastgebern etwas zurückgeben können. Das wollen wir in ähnlicher Weise nun auch, hier in Niedertaufkirchen. Maxem aus Homs in Syrien, der bei uns wohnt, wird kochen, May freut sich aufs Bedienen. Das wird nicht so aufwändig sein wie in Otterndorf, aber wir machen das so gut wir können. Wir wollen dazu 25 der Mitbewohner unseres oberbayerischen Dorfs einladen, sich bei uns mit einen syrischen Abendessen verwöhnen zu lassen. Das wird die Gäste nichts kosten, und es soll, ebenso wie in Otterndorf, die Möglichkeit geben, etwas zu spenden. Wenn das gut ankommt, wollen wir das mit den Afghanen wiederholen.
Und hier unser neujähriger Zain, der zusammen mit May und Maxem und seinem Opa zu uns kam. Er ist von der zweiten Klasse in Niedertaufkirchen so überwältigend herzlich aufgenommen worden und dort nun schon ein integraler und beliebter Teil seiner Schulklasse:
Brain- und Courage-Drain
Mein Eindruck ist, dass das Gemeinschaftsgefühl unter den Flüchtlingen generell stärker ist als bei uns in Deutschland. Das hatte ich so nicht erwartet. Sie kommen ja aus zerrissenen Ländern, teils geradezu aus »failed states« zu uns, aber das Gemeinschaftsgefühl in der Familie und in Gruppen von Freunden scheint mir bei ihnen stärker zu sein, als ich das aus unserer so stark individualisierten deutschen Gesellschaft kenne.
Das bringt mich, trotz der Geschichte von Mike, die ich in meinen vorigen Blogeinträgen erzählt habe, manchmal geradezu ins Schwärmen. Dann habe ich den Eindruck, dass wir hier in Deutschland durch die zu uns kommenden Flüchtlinge nicht nur einen gewissen Brain-Drain ausüben, sondern auch einen Courage-Drain: Es kommen die Klügsten und Mutigsten zu uns. Schlimm für die Länder, denen sie dann fehlen; gut für das Einwanderungsland. Die USA wurden im 20. Jahrhundert wohl auch deshalb zum mächtigsten und reichsten Land der Erde, weil sie auf den Rest der Welt einen solchen Brain- und Courage-Drain ausübten. Ich will damit nicht sagen, dass Deutschland durch die Flüchtlinge in der Hinsicht den USA nacheifern sollte, keineswegs. Das könnte im Fall von Deutschland ja noch schlimmer werden als mit den USA als Weltmacht. Sondern ich will damit auf den Vorteil hinweisen, den unser Land dadurch haben könnte. Die Patrioten müsste das doch eigentlich freuen, hehe. Und ich will mich selbst damit vor dem Schwärmen bewahren, in den »guten Flüchtlingen« etwas zu sehen, was der Indianer- und Naturvölkerkitsch einst bei Winntou & Co zu finden glaubte, bei den »guten, edlen Wilden«.
Werden wie wir?
Nein, so ist es nicht. Die zu uns kommenden Flüchtlinge sind Menschen mit Stärken und Schwächen, nicht viel anders als wir. Ihr noch vorhandenes Gemeinschaftsgefühl könnte uns allerdings darauf hinweisen, dass unsere Gesellschaft eine gewisse Tendenz in sich hat, uns zu Einzelnen zu machen, die möglichst viel konsumieren. Bald werden die Afghanen und Syrer vielleicht nicht nur Deutsch können und unser Grundgesetz achten oder sogar lieben und es verteidigen. Sie werden vielleicht bald auch in der Hinsicht nach uns geformt sein, dass unsere Konsumgesellschaft ihnen das Gemeinschaftsgefühl ausgetrieben und sie zu Singles gemacht haben wird, mit einem hohen individuellen Konsum und großem ökologischen Fußabdruck.
Lieber Wolf, danke für die regelmäßigen und lebendigen Berichte eures Zusammenlebens. Gestern hat mir mein Mann von einer alten Dame erzählt, die nach dem Tod ihres Mannes eine syrische Familie in ihr Reihenhäuschen aufgenommen hat und nun schon seit zwei Jahren mit ihnen lebt – es geht ihnen gut miteinander. Ja, es wird uns wohl alle verändern, wenn wir uns aufeinander einlassen und unsere Fremdenangst überwinden. Niemand wird dann der bleiben, der er mal war – die Gastgeber nicht und auch nicht die Gäste. Da passt mal wieder – wie so oft – das bekannte Gedicht von Rumi: Das Gasthaus… Weiterlesen »
Liebe Marianne,
danke für dieses schöne Gedicht! Ja, ich kenne es und mag es sehr.
Das Leben mit unseren Gästen und Mitbewohnern, den aus- wie inländischen, wird bewegt bleiben und voller Überraschungen. Auch wenn ich manchmal ‚aus meiner Haut fahren‘ möchte, bin ich doch froh geboren zu sein und in diesem Leben dies und das erfahren zu dürfen. Zum Beispiel jetzt das Leben mit unseren ausländischen Mitbewohnern, die mir und uns menschlich schon so nahe gekommen sind, teilweise fast wie Familie.
LG
Wolf
Mir kommt es glatt vor, als hätte „Connection“ sich neu erfunden – und sich auf einer höheren Ebene der Spirale des Seins wieder gefunden. Das Haus dient nicht mehr der Bespaßung der Spiriszene, sondern alle bewährten Ressourcen werden jetzt der krassesten realgesellschaftlichen Herausforderung gewidmet, die wir seit langem haben!
Großartig! Weiter so!