Ich & du und das Ganze

Heutzutage ist viel von Teams die Rede, von Kokreativität und Dialog. Warum wird das zur Zeit so gehypt? Und was die Dialoge anbelangt, wie können die mehr sein als nur Verständigung: sogar heilsam? 

Mir scheint, dass alles das damit zu tun hat, dass unsere Zeit allmählich den Individualismus in Frage stellt und das Paradigma, dass wir Einzelwesen sind. Dass wir körperlich wie psychisch einzelne sind, ausgestattet mit einem freien Willen, die für sich Entscheidungen treffen. Wenn sich diese Wesen nur tief genug selbst erkennen, authentisch sind und sich selbst treu, dann wird für sie alles gut. Und mit ein bisschen Glück und der »unsichtbaren Hand« (Adam Smith) des Marktes auch für die Welt drumrum, die der anderen Einzelwesen und Dinge in ihrer Umgebung. Nach dem Motto: Sorge jeder gut für sich, dann ist für alle gesorgt.

Wir sind Fließgleichgewichte

Dass wir Einzelne sind, ist jedoch eine Illusion. Was das Körperliche anbelangt, sind wir Fließgleichgewichte. Da tut man was rein, und es kommt was raus, das dazwischen ist der atmende, manchmal auch sprechende Mensch. Im Geistigen ist das nicht viel anders: Da tut man per Erziehung was rein, und manchmal kommt auch was dabei raus. Aber ist das einzigartig, was da rauskommt? Nicht wirklich, oder doch nur sehr, sehr selten. 

Wer da nur genau genug hinschaut, entdeckt bald, dass die Identitäten der Einzelnen, bei den Lebewesen ebenso wie bei den Dingen, sich aus Teilen zusammensetzen, die von woanders herkommen. Sie mögen in diesem Einzelnen auf einzigartige oder immerhin nur selten vorkommende Weise zusammengesetzt sein, aber die Teile, aus denen du bestehst, sind nicht dein Ureigenstes.

In-dividuum, von lat. dividere, teilen, heißt übersetzt »Un-teilbares«. Das sind wir aber nicht. Wir sind mindestens Di-viduen, eher Multi-viduen. Wir sind vielfach teilbar, und je nachdem, welcher Teil bei uns gerade getriggert wird, so reagieren wir auf den Auslöser. Souveränität? Selbstständigkeit? Vergiss es! Dieser Haufen von Wirkungsmechanismen bildet sich zwar gerne ein, ein integres Ganzes zu sein. Die ihn kennen, wissen es jedoch besser. 

Vom Eingeständnis zum Ausweg

Deshalb sollten wir uns mit unserem Stolz auf unsere Unvergleichlichkeit besser ein bisschen zurückhalten und hier lieber ein paar Tropfen Weisheit einfließen lassen. Das Eingeständnis, dass wir nicht allein sind, nicht einzigartig und nicht unabhängig ist erstens der Wahrheit viel näher. Zweitens weist es einen Ausweg, und das ist der Dialog mit den anderen dieser seltsamen, durchaus vergleichlichen Multividuen. Den anderen geht es nämlich auch so. Auch sie sind vielfältige Mischwesen in Bewegung, heute anders als gestern, wie das bei »chaotischen Systemen zweiter Ordnung« (das sind Systeme, die auf sich selbst einwirken) eben so ist.  

Wenn wir uns im Bewusstsein von »Ich bin wie du« miteinander verbinden, miteinander connecten, wie man das heutzutage nennt, dann sind wir ein Paar, ein Team, ein Schwarm, eine Herde oder eine Gesellschaft. Also Teil von einem Kollektiv, einem größeren Ganzen. Wir sind »Holons«, so hat Ken Wilber das genannt in seiner »Theorie von allem«. Wir sind teilbare Ganzheiten, die wiederum Teile von größeren, ebenfalls teilbaren Ganzheiten sind, ein In- und Miteinander von Holons. Als lebendige Wesen sind wir schließlich auch Teil von Gaia, der Biosphäre der Erde. Jeder von uns ist ein winziger Teil von ihr, auch wenn das zivilisatorische Kollektiv der Menschheit gerade dabei ist, Gaia zugleich auszuplündern und zuzumüllen, so als seien wir hier Fremde. Dabei ist das doch unser Haus, unsere Heimat und Herkunft und sollte auch unsere Zukunft sein und die derer, die nach uns kommen.

Schwarm oder Herde?

Gemeinsam sind wir blöd, zu oft ist das so. Das muss aber nicht sein. Gemeinsamkeit kann auch die Intelligenz des Ganzen erhöhen, das ist dann die viel gepriesene Schwarmintelligenz. Herden sind ebenfalls Kollektive, stehen aber als Metapher für eine intelligente Art der Gemeinsamkeit nicht so gut da. Es gibt in den Kollektiven nämlich auch das Bedürfnis nach Anpassung, bei den stärker tabuisierten No-gos gehört auch Zwang mit dazu. Das führt dann zur Herdenmentalität der Mainstreams, der großen Ströme. Gegen die anzuschwimmen ist schwer. Wer zur Quelle will, muss stromaufwärts schwimmen? Ja, aber mitschwimmen ist leichter. 

Wann ist ein Kollektiv eher ein intelligenter Schwarm als eine Herde von Mitläufern? Das hat mit dem Bewusstsein der Einzelnen zu tun. Wenn sie wissen, dass sie allein hilflos sind, als Menge von lauter Hilflosen aber gefährlich, dann ist das schon mal ein erster Schritt. Der zweite muss wohl in einer Anerkennung der Qualitäten anderer bestehen: Du bist zwar wie ich, aber doch nicht ganz so wie ich. Du weißt etwas, was ich nicht weiß. Du kannst etwas, was ich nicht kann. Eine Begegnung in diesem Sinne ist kein Anrempeln in einer Herde, auch kein sich aneinander Kuscheln von Lemmingen, sondern der Beginn des Webens eines Netzwerks. 

Die Gesellschaft als Holon

Aus einem solchen Netzwerk kann eine Gesellschaft werden, die sich ihrer selbst bewusst ist. Die sich bewusst ist, dass darin alle Teile einander bedingen und so ein Wirkungsgefüge entsteht. Zu diesem gehört auch die Umwelt mit dem Wasser und der Luft, den Pflanzen und Tieren, der ganzen Biosphäre unseres Planeten. Dazu gehört auch der Erdboden, auf dem wir stehen, wenn er nicht schon von Asphalt oder Beton versiegelt wurde. Oder von schweren Landwirtschaftsmaschinen zerdrückt wurde, weil unsere Wirtschaft ihn wie einen leblosen Rohstoff behandelt, obwohl die Erde doch Teil der Zyklen des Lebendigen ist: Über das Essen nehmen wir sie in uns auf, und wenn unser Körper zerfällt, kehren wir dorthin zurück, sei es per Beerdigung oder per Asche, die in den Wind gestreut wird oder ins Meer, in Regionen, wo die Behörden noch so viel Freiheit und Zugehörigkeit erlauben. 

Und das Weben dieses Ganzen geschieht nicht nur außen, sondern auch innen, im Verweben unserer inneren Teile zu einem lebbaren, möglichst sogar integren, integralen Ganzen. Wie wir außen miteinander verbunden sind, beschreibt die Ökologie. Wie wir es innen sind, die systemische Psychologie.

Das Weben des Ganzen

Ob der Dialog ein innerer ist in der Zwiesprache mit mir selbst oder ein äußerer mit dir: Der Dialog ist der Ort, wo dieses Ganze gewoben wird. Vielleicht so, wie die zwei Nadeln beim Häkeln aus zwei Fäden eine Masche bilden, aus der schließlich ein ganzer Pullover wird. Hoffentlich ein weicher, wärmender Pullover und nicht eine Zwangsjacke für die Psychiatrie oder eine Uniform fürs Militär. Kommt drauf an, wie wir häkeln, stricken, weben und so unser kleines Leben gestalten. Jede Masche zählt. Auch die größten und schönsten Teppiche bestehen vielen kleinen Verknüpfungen, und jedes komplexere Lebewesen besteht aus vielen einzelnen Zellen, die zwar Einheiten sind, aber nicht vereinzelt. 

Wenn nun du und ich miteinander sprechen, tanzen oder Liebe machen, miteinander kooperieren oder konstruktiv streiten, einander lesen oder schreiben, ausweichen oder standhalten, dann sind das alles Dialoge. Verbale, körperliche oder abstrakt strukturelle. lm Prozess des Verwebens wissen wir oft noch nicht, wie aus meiner These und deiner Antithese je eine Synthese hervorgehen soll, und wie aus unseren so verschiedenen Schritten je ein Tanz entstehen kann. Im Bewusstsein, dass wir im Grunde nicht verschieden sind, gelingt das jedoch. Wir könnten es Dialog nennen. Ist er heilsam? Wenn ich dich nicht als etwas Fremdes verstehe und behandle, ja, dann ist der Dialog heilsam.

(Erstveröffentlichung dieses Textes im Print bei KGSBerlin und auf KGSBerlin.de)