Welches unter den drei großen Werken von Yuval Noah Harari würde ich einem Noch-nicht-Harari-Fan als erstes empfehlen? Schwierig, denn die sind alle drei sehr gut. (Sapiens, das neueste, ist eine ‚graphic novel‘, die lasse ich jetzt mal weg.) Meist geht es mir so, dass ich unter diesen drei Büchern von ihm das, in dem ich gerade lese, für das Beste halte. Wo aber soll der Harari-Neuling beginnen? 

Vielleicht am besten mit »Homo Deus – eine Geschichte von morgen«. Hier tritt der Mensch auf die Bühne als das Tier, das sich selbst zum Gott gemacht hat. Auf Deutsch ist das Buch 2017 im C.H.Beck Verlag erschienen, mit verbesserten Fassungen 2018 und 2019. Die Urfassung erschien 2015 in Israel auf Hebräisch.

Der Mensch ein Tier? Ja, ein Tier. Es ist eines der Kennzeichen von Hararis Büchern, dass er Homo sapiens als ein Tier, also eine in der biologischen Evolution entstandene Spezies mit ein paar besonderen Eigenschaften beschreibt. Darin ist er nicht der erste. In der Zeit seit 1859, als Darwins »Origin of Species« erschien, haben sich viele Menschen mit der Einordnung von uns Menschen als nur eine unter den Tausenden, ja Millionen von Spezies im Tierreich befasst, aber keiner von ihnen hat diese »Darwinsche Wende« in der Kulturgeschichte so gut verstanden und so gut in Worte gefasst wie Yuval Noah Harari.

Noch sprechen mehr Menschen von der »Kopernikanischen Wende«, welche die Sonne ins Zentrum unseres Weltbildes gesetzt hat, die Erde ist dort seitdem nur ein Trabant. Es könnte angemessen sein, mindestens so oft von der Darwinschen Wende zu sprechen, die den Menschen als von den Tieren abstammend beschreibt. Unsere Arroganz als von Gott eingesetzte Wesen, die über der gesamten Natur thronen und über die Tiere zu herrschen haben, ist damit enthüllt und so vielleicht ein Weg eröffnet zu einem ganz neuen Naturbezug, den wir doch so dringend brauchen.

Ethik und Darstellungstheorie

In der deutschen Wikipedia findet man eine kurze, einigermaßen passende Zusammenfassung der Inhalte von Homo Deus. Um das nicht zu wiederholen – die Wikipedia genießt ja großes Vertrauen –, beschreibe ich hier meinen persönlichen Zugang zu diesem Buch. 

Als erstes zur Themenwahl, dem Fokus des Buchs. Als ich nach acht Semestern des Studiums von Naturwissenschaften, Philosophie und Wissenschaftstheorie an der LMU München nach einem Thema für meine Abschlussarbeit (Magister oder Dissertation) suchte, fand ich keinen Professor, der sich für das interessierte, was mich am meisten bewegte: Ethik und Darstellungstheorie. Jedenfalls nicht so interessierte, dass ich auf diesem Gebiet von diesem Menschen hätte lernen wollen, um damit die Mühen einer akademischen Abschlussarbeit durchzustehen. Beides sind Themen, die in Hararis Büchern einen zentralen Platz einnehmen und dort in so großem Maße Antworten finden, dass das Lesen von Hararis Büchern mir jetzt wie eine Fortsetzung meines damals abgebrochenen Studiums erscheint. 

Einschnitt durch Vipassana

Weil ich für diese Themen damals in München und auch in den Vorlesungsverzeichnissen der anderen deutschen Universitäten keinen Anknüpfungspunkt fand, entschied ich mich damals, mein Studium erstmal für eine Tramp-Reise nach Asien zu unterbrechen. Die war für ein Jahr gedacht, dauerte dann aber mehr als doppelt so lang, und als ich schließlich nach Deutschland zurückkehrte, hatte ich kein Interesse mehr an akademischen Lorbeeren. Auf dieser Reise nahm ich im Alter von 23 Jahren im Frühjahr 1976 an einem Vipassana-Retreat in Thailand teil, was mein Leben komplett umkrempelte. Nach dieser einschneidenden Erfahrung wollte ich nur noch das: reifer werden, Weisheit erlangen, Erleuchtung und nahm deshalb kurz darauf im renommierten Wat Bovorn in Bangkok, wo auch der König von Thailand seine Mönchszeit verbracht hatte, die Initiation zum Samanera. Eine Regenzeit lang ging ich morgens auf Pindabat (Almosengang), aß nur noch bis mittags etwas und verbrachte den Rest des Tages weitgehend in Stille, mit Meditation, Selbstbetrachtung und Dharmastudium.

24 Jahre später nahm der 24-jährige Yuval Harari als Student im britischen Oxford an einem Vipassana-Retreat teil, von dem er sagt, das habe sein Leben transformiert. Seinem Kursleiter, dem 2013 verstorbenen Meditationslehrer S. N. Goenka, widmet er das Buch »Homo Deus« und schreibt dort, er habe »dieses Buch nicht schreiben können ohne den Fokus, den Frieden und die Einsicht, die ich durch Vipassana bekommen habe«. 

Bruder im Geiste

Noch ein paar weitere Tatsachen, die mir wie seltsame Zufälle erscheinen, verbinden mich mit Harari, so dass er mir heute wie ein jüngerer Bruder vorkommt, der mir allerdings geistig überlegen ist und mir durch das Lesen seiner Bücher zum Lehrer wurde. Eine dieser seltsamen Tatsachen ist, dass mir, als ich 1971 in München mein Studium an der LMU begann, als vom British Council erwähltem »Hochbegabtem« in meinem Wunschfach »Science and Philosophy« ein Studienplatz an der Universität Oxford zugesagt worden war, also dort, wie Harari studiert hatte. Mein Studium dort sollte 1972 beginnen. Die Anmeldung hierfür hatte der dafür Zuständige allerdings versäumt abzuschicken, wurde mir ein Jahr später gesagt, und da war ich schon in München in das Fach Wissenschaftstheorie eingetaucht und wollte die Bewerbung für Oxford nicht noch einmal beginnen.

Wirkmächtige Fiktionen 

Das sind doch nur Geschichten. Ja, Geschichten … das heißt Fiktionen. Allerdings sind Geschichten das, was Menschen miteinander verbindet. So funktioniert Kultur. Fiktionen verbinden uns zunächst nicht faktisch, sondern nur »anscheinend«, aber dieser Schein ist faktisch höchst wirkungsvoll. In mächtiger, geistig magischer Weise verbinden uns die Fiktionen unserer Art Homo sapiens, Ethnie für Ethnie, Individuum für Individuum. Ja, auch die Individuen brauchen in ihrem inneren Chaos einen Zusammenhalt, und dazu dient ihnen die Fiktion eines Ich. Individuen, von lat. individuum, ‚Unteilbares‘, müssten eigentlich Dividuen heißen, schreibt Harari, teilbare Wesen. Oder Multividen, sage ich, denn sie sind so vielfach teilbar. Das innere Team zusammenzuhalten ist dementsprechend genauso schwierig wie ein äußeres. Und eben dazu dienen die Fiktionen, die wir im Außen einander und innen uns selbst erzählen.
Diese Fiktionen verbinden uns Tiere mit dem großen Gehirn, deren Sprache aus Tratsch entstanden ist. Größere Stämme, ab circa 150 Mitglieder, können nicht mehr durch starke persönliche Bande zusammengehalten werden, das zeigt die Erfahrung und wird auch von der Wissenschaft bestätigt. Teams, Belegschaften von Firmen, Kollektive aller Art, ganze Gesellschaften brauchen gemeinsame Fiktionen – heute ‚Narrative’ genannt – um als Einheit zu fungieren, sonst könnten sie nicht wirkungsvoll kooperieren. 

Der Humanismus als Religion

Und damit bin ich schon mitten im Teil 2 von Hararis Buch »Homo Deus«, in dem er erklärt, wie der Mensch der Welt einen Sinn gibt. Sinngebende Welterklärungsmodelle nennt Harari Religionen, egal, ob in ihnen Götter vorkommen. So ist für ihn auch der Humanismus eine Religion, weil die Spezies Homo sapiens sich selbst als ein allen anderen Teilen der Natur überlegenes Etwas als einzigartig wertvoll inthronisiert. Egal wie viele Tiere für uns Menschen in Fleischfabriken leiden müssen, nur wir selbst, der Mensch, gilt uns als schützenswert. Nur der Genuss und die Leidfreiheit der eigenen Spezies zählen für diese Religion. Über unsere Haustiere inklusive der gerade aktuellen Lieblingstiere unserer Spezies wie Delphine und Koalabären können wir Tränen vergießen. Die Milliarden hochintelligenter Schweine hingegen, die wir in Fleischfabriken halten und zu Wurst verarbeiten, die zählen für Homo carnivoro, den normalen Fleischesser, nicht.  

Werteskala

Und da der Schutz des Lebens unserer Spezies für uns das höchste Ziel ist, müssen wir auch dem Tod gegenüber für das Leben kämpfen. Auch für seine Verlängerung. Egal wie alt der einzelne ist und ob er vielleicht schon genug hat vom Leben, wir müssen für die Verlängerung seines Lebens kämpfen, jedenfalls dann, wenn der Tod einen wohlhabenden Sapiens eines reichen Landes bedroht. Dafür opfert unser Gesundheitssystem einen ökonomischen Aufwand, mit dem es in der Sahelzone Tausenden derselben Spezies ein würdiges Leben ermöglichen könnte. Oder Millionen von Schweinen. Leidvermeidung wäre doch ein schönes Ziel, wenn sie denn mit ein bisschen mehr Gerechtigkeit gehandhabt würde. Aus zwei Gründen wird das jedoch verhindert: Erstens von der Inthronisierung unserer Spezies zum Herrn der Schöpfung und einzigen Wertträger; zweitens, gemäß dem Neoliberalismus, von deren »erfolgreichsten« Individuen, die nun nicht mehr nur an der Spitze der Nahrungskette stehen, sondern an der Spitze der ethischen Werteskala. 

Die Macht der Narrative

Nicht nur im tiefen Verstehen von Darwins umstürzender Entdeckung der biologischen Evolution ist Harari ein Pionier, auf dessen Schultern ich nur zu gerne stehen möchte, sondern auch in Bezug auf die Macht der Narrative. Dass Mythen und Ideologien unser Denken, Fühlen und Handeln machtvoll bestimmen, das pfeifen längst die Spatzen von den Dächern unserer Kultur. Dass es dabei aber fast irrelevant ist, ob diese Erzählungen – heute »Narrative« genannt – faktisch wahr sind, ist im Mainstream unserer Kultur noch nicht angekommen. Als die Faktenchecker der Washington Times vier Jahre lang täglich die Lügen und Irrtümer von Donald Trump aufzählten, waren sie vom Glauben beseelt, dass es eine Rolle spielt, ob eine Aussage wahr ist oder nicht. Wenn eine Aussage jedoch massenhaft verbreitet wird, spielt ihre Faktizität kaum mehr eine Rolle. Dann zählen fast nur noch die Größe und Macht der diese Überzeugungen verbreitenden Masse für das Ausmaß, wie sehr sie Wirklichkeit gestaltet. 

Brot und Spiele

Auf Grund meines Büchleins »Kleines Lexikon estorischer Irrtümer«, das 2008 im vom Mainstream geschätzten Gütersloher Verlagshaus erschienen ist, wurde ich 2016 von dem TV-Sender RTL als »Faktenchecker« für eine Sendung eingeladen, die sich mit einem breiten Spektrum esoterischer Mythen beschäftigte. Für jeden dieser Mythen sollte ich als Experte dem staunenden Publikum die Fakten, d.h. die Wahrheit verkünden. Dem Publikum ist allerdings fast egal, ob etwas faktisch wahr ist oder nur im eigenen Kollektiv glaubhaft oder wenigstens plausibel. Schön, wenn mensch, im Falle dass sie auf ein wissenschaftliches Weltbild Wert legt, Fakt und Fiktion voneinander unterscheiden kann, Wahrheit von Lüge und Irrtum. Wichtiger aber ist die Auswahl der Geschichten, die wir Wissenschaftler, Faktenchecker oder Medienmacher der staunenden Masse präsentieren, die sich doch vor allem für »Brot und Spiele« interessiert. Das heißt erstens für das, was sie wirtschaftlich trägt und zweitens das, was sie so sehr fasziniert wie Fußball, Promis und TV-Serien, so dass sie sich damit ausreichend gut vom Klimawandel und der Naturzerstörung sowie der Tragik im eigenen privaten Umfeld und den ungelösten Konflikten im eigenen Inneren ablenken kann.

Die Mythen des Neoliberalismus

Und wie steht es um den freien Willen? Auch er hat mit Gottes Tod und der Unauffindbarkeit einer Seele das Zeitliche gesegnet. Die großen Glaubenssätze der noch immer weltbeherrschen Ideologie des Neoliberalismus hingegen lauten: Bei den politischen Wahlen hat immer der Wähler Recht, bei den wirtschaftlichen Entscheidungen der Konsument. Egal, was die Weisen oder Experten sagen, des Volkes Stimme hat Recht. Das Volk aber ist manipulierbar. Das war schon immer so, aber heute, in Zeiten von Internet und sozialen Netzwerken, da die Demokratie auch in der aktuellen Form noch immer als sakrosankt gepriesen wird, ist es unübersehbarer denn je. Wir überessen uns mit Nahrungsmitteln, die unsere Gesundheit ruinieren, und wir wählen höchst demokratisch und gesetzeskonform Potentaten, die uns dann skrupellos in die Irre führen; unsere in Depressionen, Burnout und Selbstbezichtigung geführte leichtgläubige Psyche und die Zerstörung der uns einst tragenden Umwelt sind dabei nur die beiden größten unter den Kollateralschäden. 

Vom Denken zum Handeln

Noch viel mehr wäre zu diesem Werk und den anderen von Yuval Harari zu sagen. Das werde ich in dieser kurzen Rezension nicht tun können, aber es wird weiterhin in diesem Blog Thema sein. Ich will es auch nicht beim »bloß Schreiben« belassen, sondern die Erkenntnisse in politische Aktion münden lassen. Wie? Was mich betrifft, ist das noch im frühen Planungsstadium. Gibt es vielleicht schon andere, die in diese Richtung unterwegs und viel weiter sind als ich? Gerne lasse ich mich in der Hinsicht belehren.

Mehr auch dazu demnächst in diesem Blog.