Das Hören fasziniert uns Menschen mehr als das Lesen, weil wir Jahrhunderttausende lang nicht gelesen, sondern Sprache hörend aufgenommen haben. Der ich als Macher einer Zeitschrift viele Jahre lang das Lesen dem Hören gegenüber bevorzugt habe, genieße ich nun auch den Impakt des Hörens – Anlass sind dabei für mich die Hörbücher von Harari, die ich mir beim Autofahren reinziehe.
Ich bin es gewohnt, in einem Text zurückgehen zu können. Nochmal hinschauen, eine Stelle zitieren, ein Thema kontemplieren. Weniger interessante Passagen beim Lesen zu überfliegen. Ein Hörbuch hingegen gibt mir das Tempo vor und auch den emotional so bedeutsamen Duktus des Sprechers. Als ich zum ersten Mal Hararis Buchtext von einer konventionellen britischen Stimme gesprochen hörte, wollte ich erst kaum mehr weiterhören – Harari ist doch sooo anders als diese Stimme! Im Lauf des Sprechens des ganzen Buchs schien mir die Stimme jedoch einiges von der emotionalen Qualität Hararis angenommen zu haben. Jedenfalls nehme ich beim Hören beides in mich auf: den Sinngehalt des Textes und die Emotionalität des Sprechers.
Auch bei der Whatsapp-Kommunikation geht es mir so: Lesen und Simsen ist anders als das Hören und Aufsprechen eines Audios. Geschriebener Text ist abstrakter, Stimme emotionaler. Beides hat Vor- und Nachteile, je nach Umgebung, Thema und Zweck der Kommunikation.
Hören & glauben
Dabei fällt mir auch etwas aus der Zeit im Connectionhaus ein, als dort einige Verschwörungsgläubige bei mir wohnten. Sie lasen wenig und hörten viel. Noch lieber sahen und hörten sie Sprechern zu, die, von sich selbst überzeugt – full of themselves – gegen den Mainstream zu Felde zogen und dabei ihre Hörer glauben ließen, diesen zu enttarnen. Die Hauptquellen dieser Hörer waren einige Webseiten, zu denen sie einen starken emotionalen Bezug hatten, deren Wahrheit oder Wahrhaftigkeit erfühlten sie.
Wie so oft in der zwischenmenschlichen Kommunikation brauchen wir ein Publikum, um an uns selbst glauben zu können. Ohne Fans würden diese Sprecher nicht an sich selbst glauben können, die ’Hörigkeit’ ihrer Anhängerschaft trägt sie über alle Zweifel an ihrer eigenen Botschaft hinweg. Unser Hören & Glauben ist eben in den Jahrzehntausenden unserer Vorgeschichte geprägt worden. Die Schrift und das Lesenkönnen sind ziemlich neu: Noch Mitte des 20. Jahrhunderts war fast die Hälfte der Menschheit noch nicht des Lesens und Schreibens fähig.
Sprache (ver)führt
Auch nach der Relotius-Affäre ist das Motto des Nachrichtenmagazins Spiegel immer noch: »Sagen, was ist«. Auch die Podcast-Reihe des Spiegel bei Amazon Audible heißt so. Obwohl doch jeder, der ein bisschen nachdenkt, weiß, dass man nicht sagen kann, was ist, wird dieses verführerische Motto vom Spiegel beibehalten. Wir lassen uns eben durch das Gehörte so gerne verführen. Und auch das Lesen verführt, v.a. dann, wenn es das Hören imitiert, wie Relotius das so gut konnte. Der Herder Verlag hat als Motto »Lesen ist leben«. Dass Sprache uns in fiktive Welten entführt, weg vom direkt erfahrenen, prallen Leben, weg von der Sinnlichkeit, weg von der Mystik, scheinen Spiegel und Herder-Verlag vergessen zu haben, ebenso wie die Mehrheit der Gebildeten und Literaten. Sprachgläubigkeit beherrscht die Welt, Wittgenstein und eine Handvoll Meditierer befinden sich in der Hinsicht auf verlorenem Posten.
Gegenöffentlichkeiten
Sprache pflegt zu täuschen, sie kann jedoch auch aufdecken. Manchmal tut sie das. Manchmal, seltener sogar ohne dass die Aufdeckung in eine noch tiefere Trance führt, die Trance eines „Ich habe erkannt!“.
Wir können gegen das Narrativ eines Mainstreams andere Narrative setzen. Wenn die Zeit reif ist für eine Wende, haben wir damit u.U. auch Erfolg, so wie Emile Zola einst mit »J’accuse«. Gegen die Lethargie einer auf den Ökozid zusteuernden, vom Glauben von Milliarden getragenen Weltkultur kann jedoch kaum ein Mensch an. Nun ist es einer eigensinnigen jungen Autistin gelungen, ein bescheidenes Maß an Gegenöffentlichkeit zu erzeugen: Mit ihrer Rede vor der UNO kann Greta Thunberg vielleicht sogar ein paar Politik-Zyniker bewegen. (Leider gibt’s diesen Redeausschnitt von Greta nur mit Vorabwerbung – eine Welt ohne Produkt-Werbung wäre eine bessere Welt.) Warum gelingt es erst einer autistischen 16-jährigen, die Business-as-usual Trance des Mainstreams zu durchbrechen und einige Lakaien des Kaisers davon zu überzeugen, dass er nackt ist? Weil wir Mitläufer einer großen Herde sind. Die Fähigkeit selbst zu denken und zu fühlen ist nicht weit verbreitet.
Auch Daniele Ganser ist ein guter Erzähler und als solcher Schöpfer von alternativen Narrativen. Auch wenn er nicht so genial vielfältig ist wie Harari, sein Kernthema ist reduzierter: die Wachsamkeit gegenüber den imperialen Akten der USA (auch hier Werbung 😣) ist ein wichtiger Teil der Gegenöffentlichkeit ‚des Imperiums‘. Seine Kritik lässt sich zudem auch auf andere Mächte anwenden, der Teufel (aka das Unbewusste, Verdrängte) ist ja kreativ und setzt sich immer wieder andere Gesichter auf. Übrigens ist auch Ganser ein Meditierer, so wie Harari, der seit vielen Jahren täglich zwei Stunden Vipassana praktiziert. Vielleicht braucht es Meditation oder zumindest eine gute Verankerung in sich selbst, im Bewusstsein, dass ich meine Gedanken, Gefühle und Taten ’nicht bin‘, um den Trancen des jeweiligen Mainstreams entkommen zu können.
Lachen ist nicht immer gut
In letzter Zeit lache ich weniger, ich schmunzle mehr. Schlimm? Nein, es ist eher so, dass bei mir der Druck, aufgrund der Komik eines beobachteten Geschehens laut hinauszuprusten geringer geworden ist. Manchmal ist er gar nicht mehr da, weil alles irgendwie komisch ist, zum Lachen oder zum Weinen, je nachdem wie man’s betrachtet. Vielleicht bin ich einfach stiller geworden.
Jedenfalls sehe ich im Lachen der Menschen mehr als früher auch die Aggression, das Othering, das Ausgrenzen des Abgelehnten, nicht Integrierten. Lachen gestaltet die Identität von Individuen, Paaren, sozialen Gruppen aller Art. Es trennt zwischen Ingroup und Outgroup und ist als solches unter Menschen sicherlich eine der stärksten sozial gestalterischen Kräfte. Sage mir, worüber du lachst, und ich sage dir, wer du bist.
Auch über eigene Fehler zu lachen ist ein Ausgrenzen, sich Distanzieren, sich von etwas Befreien, es Ablegen. Lachen kann befreien, ja, das kann es. Die »Befreiten« (Menschen, Gedanken, Haltungen), über die wir da lachen, vielleicht wollen einige davon gar nicht ins Exil verbannt werden – und kehren dann womöglich über den Hintereingang zurück in unser Leben.
Alles Theater?
Ja, alles Theater, so beschreibt es Guy Corneau in diesem Text über das irdische Spiel. Wir stehen auf eine Bühne. Immer, unvermeidlich stehen wir auf einer Bühne, denn wir werden gesehen, wenigstens von uns selbst. Und wir selbst sind die Hauptfigur in diesem Stück, das unser Leben ist. Ob wir daraus eine Tragödie machen oder eine Komödie, liegt weitgehend in unserer Hand – in unserer Fokussierung auf die Schwerpunkte, unserer selektiven Wahrnehmung und Erinnerung und in dem, was wir uns davon erzählen, dem Narrativ.
Bad News, Good News
Jetzt nochmal politisch: Sollten wir das unvermeidliche Ende unserer Spezies »in Würde gestalten«, so wie das eines unheilbar Kranken im Hospiz? Gedanken des Philosophen Matthias Warkus auf der Webseite des deutschen Wissenschafts-Verlages Spektrum.
Und ökologisch: Die US-Agrarlandschaft ist heute für Insekten 48-mal giftiger als vor 25 Jahren. Schuld sind vor allem Neonicotinoid-Pestizide. Nicht nur die Insekten werden immer weniger, in Folge dessen auch die Vögel. Vermutlich überall dort, wo eine solche Landwirtschaft betrieben wird.
Und nun noch zwei gute Nachrichten:
Das Ego-Bashing ist out, schreibt der deutsche Philosoph Wolf Sugata Schneider in seinem Blog auf connection.de und freut sich über Kommentare zu diesem Thema.
Das Küssen ist wieder in, schreibt derselbe deutsche Philosoph, und es darf sogar über das individuelle Glück hinausgehen.
Veranstaltungen mit mir
• Am 26./27. Oktober gibt es im Yogahaus Würzburg wieder einen Humorworkshop. Du kannst dich dafür bei Claudia Wenzel unter osflow-cwl@gmx.net anmelden.
• Und nochmal am 30.Nov./1. Dez., das wird dieses Jahr der vorletzte Humorworkshop sein. Wieder, wie letztes Jahr, im Yogastudio Heidelberg, Landhausstr. 17. Info & Anmeldung wieder über Ulrike Müller, ulmuta@gmx.de.
• Und nun doch noch dieses Jahr ein letzter Humorworkshop vor der Winterkälte, am WE 7./8. Dezember: Beziehungstheater – in der Nature Community bei Schönsee in der Oberpfalz, die ich nun schon drei Mal besucht und zu lieben begonnen habe (und bin nun auch einer ihrer Community-Coaches geworden). Humor hilft nämlich nicht nur gegen die Dunkelheit in der Seele, sondern auch gegen die des Winters. Er hilft in Beziehungen, im Umgang mit sich selbst und in besonderer Weise in Gemeinschaften.
Die Wochenenden kosten 160-190 €. Frühbucher und Paare bekommen das WE meist günstiger (für 135-170 €/Person).
oder: Wenn der Wahnsinn zur Normalität wird – dann haben wir ein echtes Problem 😉
Herzlich Markus Scheuring