In der Bergpredigt, die als die Essenz der Liebesbotschaft des Christentums gilt, rief Jesus zur widerstandslosen Hingabe auf: »Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn.‘ Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen, sondern, wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dann biete ihm auch die andere dar.«
Dem entspricht eine Geschichte aus dem japanischen Zen. Dort wurde einem Mönch, der auch dort zum Zölibat verpflichtet ist, von einer Frau ein kleines Kind übergeben. »Nimm dies«, spricht sie mit einer Stimme voll der Anklage: »Du, der du deine Regel gebrochen hast, nun zieh es auf!« – »Ist das so?«, war seine Antwort. Und er zog das Kind auf, das er nicht gezeugt hatte. Viele Jahre später bereute die Frau, ihr Kind abgegeben zu haben. Sie kam zurück zu dem Mönch und bat, es wiederzubekommen. »Ist das so?«, war seine Antwort, und er übergab ihr das Kind.
Nicht Recht haben wollen, ist für mich die Botschaft dieser beiden Geschichten. Hingabe an das, was geschieht, auch dann, wenn es zunächst nicht so aussieht, als wäre es ein gutes Geschehen, sondern etwas, bei dem Widerstand angebracht wäre.
Verhandeln statt kämpfen
Auch der Satz von Altkanzler Helmut Schmidt passt hierzu, den er übrigens lange vor Putins Invasion in der Ukraine gesagt hat: »Lieber 100 Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schießen«. Der 2015 verstorbene Helmut Schmidt war kein Softie und kein »Prediger der anderen Wange«. Vermutlich hätte jedoch auch er in den Jahren zwischen 2014 und und 2022 lieber der Annexion der Krim zugestimmt, dem Donbas als einem föderalen Teil der Ukraine, in dem der russischsprachigen Mehrheit eigene Rechte zugebilligt werden, sowie der verbindlichen Erklärung der NATO, die Ukraine nicht aufzunehmen. Putins Angriff vom 24.2.22 hätte dann, so sagen profunde Kenner der Situation, wahrscheinlich nicht stattgefunden. Ein Vergleich mit dem Münchner Abkommen von 1938, mit dem Bellizisten so gerne ihre Feinbilder und Aufrüstungsprogramme begründen, ist hier völlig unangebracht. Soweit zu einem Fall der aktuellen Politik. Die Botschaft der Bergpredigt war ja nicht nur fürs Private gemeint, ebenso wie die Geschichte des Zenmönchs.
Balance halten
Dennoch meine ich, dass zwischen der weltlichen und spirituellen Dimension unterschieden werden muss. Oder, mit den Worten des Jesus: dem Reich des Kaisers und dem Reich Gottes. Oder zwischen der bedingten und der bedingungslosen Liebe.
Wenn dich ein Mensch vergewaltigt, dann mach nicht auch noch für andere die Beine breit oder den Arsch offen. Ein Nein ist ein Nein, ein Übergriff ein Übergriff. Gewalttaten müssen Konsequenzen haben. In der Sprache der Spiral Dynamics: Das blaue Mem ist nicht dann irrelevant, wenn du im grünen Mem angekommen bist und nun alle Übeltäter umarmen möchtest, weil sie doch eine so schreckliche Kindheit hatten.
Eine trans-naive Spiritualität oder Religiosität weiß diese beiden Dimensionen zu unterscheiden. Bei einem Angriff nur die andere Wange hinhalten zu können, ist kein Zeichen von Weisheit. Vielleicht nicht einmal von Demut – oder eben nur von einer naiven Demut.
Einseitig auf der Seite Gottes?
Warum hat Jesus dann nicht die Weisheit des Balance-Haltens zwischen dem Reich des Kaisers – dem des weltlichen Rechts – und dem Reich Gottes gelehrt, sondern sich so einseitig auf die Seite Gottes geschlagen? Vielleicht weil er sein Publikum als extrem einseitig im Weltlichen verortete, spekuliere ich. So sehr, dass er, dieser begnadete Prediger, der sich der Macht seines Charismas vermutlich durchaus bewusst war, durch diese für rein weltliche Menschen so schockierende Botschaft sie aus ihrer Alltagstrance hinauskatapultieren zu können glaubte? Ich weiß es nicht.
Immerhin hat er es ja geschafft, dass die Botschaften seiner Bergpredigt bis heute weltweit bekannt sind, und »die andere Wange hinhalten« zu einem geflügelten Wort wurde.
und jetzt?