Kürzlich ergab sich bei Freunden am Küchentisch ein Gespräch über Yuval Noah Harari und Eckhart Tolle. Ich sagte, wenn ich den größten lebenden Weisen zu nennen hätte, würde mir als erstes Harari einfallen. Eckhart Tolle sei dabei im Vergleich doch einer, der ein paar Sachen nicht gründlich genug durchdacht habe. 

»Wie kannst du nur die beiden vergleichen?!« war die erschrockene Antwort meiner drei Gesprächspartner, die es gwohnt sind, sowohl Harari wie Tolle in den höchsten Tönen zu loben. »Der eine ist doch ein Historiker, ein Wissenschaftler, er geht intellektuell vor. Der andere ist ein spiritueller Lehrer. In Harari habe ich nie einen spirituellen Lehrer gesehen«, war eine typische unter den Antworten.

Die APM-Quote

»Warum denn nicht?« erwiderte ich. Ist doch egal, ob sich einer als spiritueller Lehrer positioniert oder nicht. Für mich kommt es auf die APM-Quote an, die »Aha-Erlebnisse pro Minute« beim Lesen oder Zuhören, und diese Quote ist für mich bei Harari höher als bei Tolle. Es kann doch auch ein Katze dein spiritueller Lehrer sein, oder jeder neue Tag. Und jeder Widerstand, der sich deinem Weltverständnis tagein, tagaus bietet. 

Bei den meisten der Menschen, die sich als spirituelle Lehrer positionieren, ist für mich die APM-Quote niedriger als bei der Betrachtung der Entspanntheit oder Eleganz einer Katze. Oder der Schönheit von einem Tier, einer Landschaft, einem Kind oder Musikstück oder einem Vogel im Flug. Oder die Aha-Erlebnisse, die ich bei einem Menschen ernten darf, der mich absichtlich oder unabsichtlich provoziert – wir lernen ja nie aus.

Das Ego

Zurück zu Harari und Tolle. Harari empfinde ich als zutiefst weltlich besorgten, empathischen Menschen, der das Treiben unserer Spezies aufgrund der uns motivierenden, uns aber leider viel zu wenig bewussten Narrative schnörkellos beschreibt. Das Treiben unserer Spezies, die sich »mit der uns eigenen Überheblichkeit« homo sapiens nennt, wie Harari süffisant anmerkt. Dazu braucht er keine spirituellen Begriffe. Seine ganze Wahrnehmung ist jedoch von einem so schlicht und ernüchtert beobachtenden Bewusstsein getragen, das mich wieder und wieder fasziniert. Eine Wahrnehmung ohne eigene Agenda, scheint mir, außer der, das Leiden von uns Menschen zu mindern.

Bei Tolle hingegen bekomme immer den Eindruck, dass er sich früher oder später gegen das Ego aufbaut und seine Schüler dann berät, wie mit diesem Bösewicht am besten umzugehen ist. Dabei verstehe ich ihn ja! Auch ich möchte doch so gerne im Ego einen Widersacher sehen, vielleicht sogar »den« Widersacher, und mit seiner Überwindung den Weg in den Himmel finden – und weiß doch, dass das nicht funktioniert. Denn das, was man ablehnt, das kommt mit vermehrter Kraft zu uns zurück, mehr als wir in die Ablehnung gesteckt haben. Tolle weiß das. Klar weiß er das, er ist ja nicht blöd. Auf seiner Parkbank damals in London hat er das alles durchschaut. Dennoch kann er es nicht lassen, gegen das Ego zu predigen und damit den alten Anti-Ego-Dualismus zu füttern, ihn teils sogar noch zu befeuern. Wie schade. Das hat Tolle nicht verdient, so süß und unschuldig, wie er da nun sitzt, in seinem Vorträgen, wo er immer wieder von der Zufriedenheit damals auf seiner Parkbank spricht.

Die Hier-und-Jetzt-Fraktion

In den Jahren der Herausgabe von Connection hatte ich viel mit der »Hier-und-Jetzt-Fraktion« zu tun, wie ich sie spöttisch nannte. Die Tolle-Fans, die nicht mehr planen wollen und versuchten, ihre Vergangenheit zu ignorieren, hatten sie doch verstanden, dass das Leben sich nur in der Gegenwart abspielt. 

Sollte man einen wohlmeinenden spirituellen Lehrer vor seiner Schülerschaft in Schutz nehmen, mit Worten wie »Aber er hat es doch ganz anders gemeint«, oder muss man ihn für die Spuren zur Verantwortung ziehen, die er hinterlässt? Ich neige dazu zu sagen: Wir dürfen, vielleicht müssen wir es sogar, sie (weiblich, oder Plural) nach ihren Früchten zu beurteilen. Jesus auch ein bisschen für Petrus mitverantwortlich machen und damit für die Kirche. Ein bisschen. Auch Osho hat ja gegen das Ego gepredigt und damit einen neuen Widersacher geschaffen öder den alten gestärkt. Und Buddha hat den Frauen nicht die gleichen Chancen zugestanden Weisheit und Erleuchtung zu erlangen wie den Männern. Das darf man sagen, vielleicht sollte man es sogar, heute. 

Wenn wir es richtig machen mit unserem Leben und der gewonnenen oder wiedergefundenen Weisheit, stehen wir auf den Schultern der besten derer, die vor uns da waren. Von dort aus, von dieser Höhe aus, können wir viel weiter blicken als von unten aus.