Früher gingen die Frauen, die gesehen werden wollten, auf die Straße oder an den Dorfbrunnen – Wasser holen mussten sie ja sowieso. Die Männer gingen in ‚die Wirtschaft‘, im Orient ins Teehaus. Am Mittelmeer spazierte man bei Sonnenuntergang die Strandpromenade entlang. Um gesehen zu werden, ging man auch in die Kirche, die Moschee oder Synagoge, den Tempel oder zum Ahnenkultplatz. Heute lädt, wer gesehen werden will, ein Video hoch und setzt bei Facebook einen Link darauf. Das hab ich gerade gemacht. 

Es ist erst ein paar Jahre her, da fand ich mich schrecklich, wenn ich mich auf Fotos oder Filmen sah. Heute ist es mal so, mal so. Bin ich über- oder unterdurchschnittlich eitel? Wahrscheinlich durchschnittlich. Jedenfalls bin ich selbstkritisch, vor allem was meine eigenen Texte anbelangt, aber auch bei Filmen. Manches, was ich an Filmen von mir im Internet finde, gefällt mir. Anderes ist mir peinlich, deshalb schaue ich nach Filmen von mir im Internet nur dann an, wenn ich muss. Es ist mir aber nicht so peinlich, dass ich es würde entfernen wollen. Man lernt durch Peinlichkeit ja sehr viel über sich selbst – und man erfreut dadurch andere, weil die sich dann beglückwünschen, dass es nicht ihnen passiert ist, sondern mir. 

Memoro, die »Bank der Erinnerungen«

Vorige Woche war ich in München beim Nikolai Schulz von Memoro. Er betreibt von dort aus die deutsche Niederlassung dieser großartigen »Bank der Erinnerungen«, in der Menschen ab dem Alter von 60 vor der Kamera ihre Erinnerungen den Nachkommenden hinterlassen können. Sie ziehen dabei das eine oder andere Fazit aus den gelebten Jahren, fühlen sich gesehen und gehört, und ihre Kinder, Enkel und Urenkel können dort dann nicht nur von ihren Vorfahren lesen, sondern sie auch selbst sprechen sehen und hören. Wie schade, dass es um 1900 Memoro noch nicht gab! Ich würde so gerne wissen, was meine Vorfahren damals in die Kamera reingesprochen hätten. Hatten sie den Mut, dort mal so richtig auszupacken, oder ging es ihnen eher darum, der Gesellschaftsnorm zu entsprechen? 

Nikolai Schulz

Nikolai ist als Diplomatenkind ein Kosmopolit. Er ist weit gereist, mehrsprachig, spirituell interessiert und hat eine gute Art Menschen zum Sprechen zu bringen. Und er hört gut zu. Von mir hat er schon mehr als zwanzig kurze Filme gemacht, hauptsächlich für Memoro, vorige Woche ein paar davon auch nur für meinen Youtubekanal (wer sowas braucht, ihn einfach anschreiben). Hier sind sie, über 

 Lesen verlangt mehr

Warum Sehen und Hören, wenn das Lesen doch schneller geht und keinen Internetanschluss braucht? Wir glauben Menschen eher, die wir hören, als wenn wir nur von ihnen (oder über sie) lesen. Noch leichter glauben wir, wenn wir nicht nur hören, sondern auch das Gesicht des Sprechers sehen, denn so wurde Jahrzehntausende lang Information und Kultur weiter gegeben. Die Zeit des Lesens ist kulturgeschichtlich noch sehr jung und berührt uns deshalb nicht in derselben archaischen Tiefe. Das Lesen aber lässt dem Empfänger mehr Raum für sich. Es verlangt mehr an eigener geistiger Aktivität und Kreativität. Insofern ist das Lesen in gewisser Hinsicht anspruchsvoller. 

Und da ich nur bedingt ein Freund von Faszination und Wahrnehmungtunneln bin, finde ich, dass gute Texte nicht unbedingt »fesselnd« sein müssen, sie können auch befreiend sein. Ich bleibe also weiterhin ein Freund des Schreibens und Lesens.

Trotzdem, Widerspruch muss sein – hier ein 9-min-Video, das Nikolai 2015 von mir gemacht hat, als ich noch Herausgeber einer Zeitschrift war. Etwas für die Freunde des Humorwegs.