Als ich 16 Jahre alt war, begann meine eigentlich Reise in die Individualität. In meinem Elternhaus – meinem alten Ich – hielt ich es nicht mehr aus. Ich wollte weg, so weit wie möglich. Trampen war eine gute Möglichkeit fast ohne Geld zu reisen und von Zuhause weg zu sein, jenseits der Reichweite meiner Eltern. Außerdem verhieß es Abenteuer, und der Zugang war ein Glücksspiel: Wer nimmt mich mit, bis wohin, und was passiert dann? Werde ich ein Land finden, in dem das Leben nicht jämmerlich ist und Menschen, die glücklich sind?

Als erstes fuhr ich über die Alpen nach Süden, die ligurische Küste entlang zur Côte d’ Azur und über das Rhonetal und die Schweiz zurück. In den Herbstferien nach Barcelona. In den nächsten Sommerferien umrundete ich (damals 17 Jahre alt) die iberische Halbinsel, mit einem Abstecher nach Marokko. Mit 18, nach dem Abitur, trampte ich über den Balkan nach Instanbul, von dort mit einer einer Gruppe von Hippies in zwei Landrover bis Agra in Indien. Dann allein weiter bis Kathmandu. Zurück v.a. mit Lastwagen, durch Nordindien, Pakistan, das wunderschöne Vorkriegs-Afghanistan und über Iran und die Türkei zurück nach Europa. 

Entblößt und missverstanden

»Wie war es denn? Was hast du erlebt?«, fragten mich meine Eltern. Vor allem meine Mutter fragte mich, die an Zuhause gebunden war; mein Vater war beruflich viel auf Reisen, er war im Fragen weniger begierig. Manches erzählte ich, aber ich zögerte dabei. Was ich wirklich erlebt hatte, was mich wirklich bewegt hatte, das verstanden sie nicht. Nach jeder Erzählung entstand in mir eine gewisse Enttäuschung, denn die Erzählungen gossen etwas in Form, das nur wenig mit dem zu tun hatte, was ich erlebt hatte. Beim Erzählen gegenüber meiner Mutter kam hinzu, dass sie mich um die Abenteuer beneidete und zugleich bewunderte, dabei aber auch behüten, das heißt behindern wollte. In alledem wollte ich es ihr Recht machen, sie füttern mit dem was sie wollte und zu brauchen schien, fühlte mich danach aber entblößt. Ich hatte ihr (oft beiden Eltern) etwas von mir gezeigt, das, auch wenn es nicht gelogen war, nicht wirklich dem entsprach, was ich erlebt hatte. 

Außerdem gab es dann eine Geschichte des Erlebten, die dieses für die Annalen fixierte. Ich konnte nun nicht ohne weiteres eine andere Erzählung desselben Erlebnisses präsentieren, das hätte zu Protesten geführt: »Aber das hat du doch neulich ganz anders erzählt!« – mit dem latenten oder ausdrücklichen Vorwurf unwahrhaftig zu sein, tendenziös, eine Wahrheit zurückgehalten, über- oder untertrieben zu haben, beschönigt oder dramatisiert. 

Der Rausch der Veränderung

So hörte ich auf zu erzählen oder erzählte nur noch wenig. Wahrscheinlich hatten die mich Fragenden daraufhin den Eindruck, ich sei geizig im Hergeben meiner Stories. Oder ich hätte etwas zu verbergen, oder sie seien mir nicht wichtig genug, dass ich mich ihnen zeigen würde. In Wahrheit mochte ich einerseits nicht, missverstanden zu werden, zum anderen verzerrte das Erzählen auch meine eigene Erinnerung, die ich an die Erlebnisse hatte. 

Das Erlebte war für mich ein Schatz, auch wenn es durchrauschte und auf das eine Erlebnis oft – nein, genau besehen immer – rasend schnell ein weiteres folgte. Es war alles so viel, zu viel, um es zu registrieren. Schon wieder war ein Tag zu Ende gegangen, und ich wusste am Abend kaum mehr, wo (und wer) ich noch am Morgen gewesen war. Es war ein Rausch, der Rausch eines intensiven, vollen, prallen Lebens. 

Jedes starke Erlebnis hat mich ein bisschen neu gemacht und ein anderer werden lassen. Da ich mich in vielem nicht mochte, wünschte ich mir das: Ich wollte ein anderer werden, und ich liebte den Rausch der Veränderung. Eigentlich waren es nicht die Landschaften, Städte und Gesichter, die da an mir vorüberzogen, sondern auf die Umgebung projizierte Bilder von mir selbst im Wandel. Es waren identitäsverändernde Reisen, das war mir schon damals klar, obwohl die Bedeutung der Frage nach mir selbst, nach meiner Identität, damals noch nicht so zentral in der Mitte meines Lebens angekommen war, dass ich ihr alles gewidmet hätte, so wie später, in den Jahren meiner spirituellen Suche.

Verlust der Unschuld

Speziell meiner Mutter gegenüber fühlte ich mich nach dem Erzählen manchmal so, als hätte sie mir etwas weggenommen. Die Unschuld oder Frische des Erlebten war weg, es hatte nun eine Form gefunden, eine Verpackung, ein Etikett, einen Anstrich und eine Tendenz; einen Sinn, den ‚Sinn der Geschichte‘, den man nun nicht mehr so leicht verändern konnte. Es war von einem individuellen, intimen Event zu einem sozialen Event geworden, das man man mir aufgeklebt hatte: Ich war nun der, der bei Nacht und im Sturm im Laster durch die Wüsten des nördlichen Afghanistan gefahren war und sich in Herat fast ein Pferd gekauft hätte, um weiter ins Innere des Landes vorzudringen, zu den Nomaden, wohin man mit dem Auto nicht gelangt. Was führ eine Story! Faszinierend! Warum hast du das gemacht? Warum hast du das nicht gemacht (das Pferd zu kaufen, mein Geld hätte doch dazu gereicht)? Nun hatte ich einen Aufkleber. Aber der entsprach nicht dem, wer ich war und was ich wirklich erlebt hatte. 

Auch wenn die Story nicht gelogen war, sie konnte mein Erlebnis nicht wiedergeben. Keine Story kann irgendein Erlebnis wiedergeben. Sie kann beim Zuhörer ein Erlebnis bewirken, das im optimalen (aber seltenen) Fall, dem nahe kommt, was der Erzähler erlebt hat, oder eher: was er von dem Erlebten im Akt des Erzählens noch in Erinnerung hatte und den Zuhörern an jenem Zeitpunkt preisgeben wollte. Ein Erlebnis wiedergeben, das kann man nicht. 

Das Leben lässt sich nicht erzählen, es lässt sich nur leben. Und so oft, so oft, war ich hin und her gerissen zwischen dem Erlebenwollen und dem Erzählenwollen. Auch beim Schreiben meines Tagebuchs, wo ich doch niemandem etwas vormachen musste, außer vielleicht mir selbst. Immer wusste ich tief in mir, dass auch die beste Beschreibung eines Erlebnisses, nie, nie, nie an das Erlebte rankam. Und die Stunde, die man mit dem Beschreiben oder Erzählen verbringt, ist in gewisser Hinsicht eine Stunde des Verzichts auf etwas Neues. Man verzichtet darauf, dem Erlebten etwas Neues, vielleicht noch Schöneres oder noch Intensiveres hinzuzufügen, indem man sich mit dem Aufzeichnen beschäftigt, der Chronik, dem Berichten. 

Der Verrat

Obwohl auch die Berichte ‚was haben‘: Sie können verdichten, vergleichen, auf Wesentliches hinweisen, Einzelnes betonen – und es bleibt etwas zurück. Es bleibt eine Spur, ein Dokument. Es bleibt mehr als nur die unschuldige, unerzählte Erinnerung in einem individuellen Gedächtnis, die ja durch Gedächtnisausfall, Verdrängung, Verfälschung und schließlich den Tod des Individuums dem Schwund ausgesetzt ist. 

Oft habe ich mich gefragt, warum ich damals, als 23-jähriger, aus dem Urwald von Borneo zurückgekehrt bin. Die glaubwürdigste der Antworten, die ich mir selbst gab und noch immer gebe, ist: Ich wollte berichten. Ich wollte nicht, dass alles vergessen wird. Ich wollte nicht nur essen und kacken, wach sein und schlafen, lieben und gehasst werden und dann sterben, sondern ich wollte, dass etwas bleibt. Obwohl ich doch wusste, dass am Ende nichts bleibt. Alles hört irgendwann auf, alles. Und was man vor dem Aufhören berichten kann, ist vieltausendfach schillernd, missverständlich und genau genommen immer falsch, weil es ja nur eine Erzählung ist, ein Verrat am direkten, unverstellten Leben, auf das man ihr zuliebe verzichtet hat, und sei es nur für diese eine Stunde des Aufschreibens und Erzählens.