»Wovor haben Sie Angst, Herr Scholz?« titelte der SPIEGEL vom 22. April über das »Zaudern« des Kanzlers bei Waffenlieferungen an die Ukraine. Fast alle westlichen Medien haben dabei mitgemacht, Öl ins Feuer des Ukrainekriegs zu gießen und Pazifisten als Weicheier darzustellen. Mit der Folge, dass auch jetzt wieder, gegen Ende der Corona-Zeit, ein Thema unsere Gesellschaft spaltet: der Krieg in der Ukraine. 

Müssen wir jetzt alle gegen Putin sein, kostet es, was es wolle, weil er und »die Russen« so schlimm sind? Oder darf man auch in diesem Falle pazifistisch sein, ausgleichend, mit Verständnis für beide Seiten? Sollen wir, müssen wir sogar aufrüsten, um diesen schlimmen Angriffskrieg Russlands kraftvoll zurückzuweisen, weil sowas einfach nicht hingenommen werden darf, mit Verweis auf Chamberlains Nachgiebigkeit gegenüber Hitler im Münchner Abkommen von 1938? Oder ist jeder Krieg schlecht, und wir müssen auch in diesem Fall auf Diplomatie setzen und die Bedürfnisse des Gegners verstehen, sonst gibt es keinen Frieden?

Diesem Thema habe ich meinen heutigen Blogeintrag gewidmet. 

Massenhypnosen

Zunächst mal zur Psychologie des kriegerischen Geschehens. Hier aus der Sicht von C.G. Jung, mit Bildern und Worten erklärt, in einem ca. 20-minütigen Video: Wie funktionieren die heutigen Massenpsychosen. Eher holzschnittartig vereinfacht, die politische Wirklichkeit ist natürlich nicht entweder totalitär oder nicht totalitär. Und auch solch eine Erklärung wie die hier gebenene versetzt ihre Zuschauer / Zuhörer in eine Verstehtrance, auch sie funktioniert also faszinierend – Faszination ist eine milde Form der Hypnose. 

Mein Kommentar zum Ukrainekrieg, den ich in meinem Blog am 28. Februar gepostet habe, vier Tage nach dem Angriff der russischen Armee am 24. Februar, ist im März in der Zeitschrift »Forum Nachhaltig Wirschaften« veröffentlicht worden, von der ich aus einer verlässlichen Quelle weiß, dass sie (jedenfalls vor einigen Jahren) von unseren MdBs in Berlin gerne gelesen wurde. 

71 % Der Russ:innen sind mit der Amtsführung ihres Präsideten zufrieden, fand das Institut Levada heraus. Das ist deutlich mehr als in den USA mit der Amtsführung von Joe Biden zufrieden sind. Trotzdem kämpfen die USA Seite an Seite mit Deutschland und den anderen NATO-Staaten gegen den Diktator Putin, mit dem moralischen Anspruch der Verteidigung der Demokratie. 70% Zustimmung für den Regenten in Russland gegenüber 50% in den USA, wer ist da demokratischer? Dort führt Propaganda zur Zustimmung für die Politik der Regierung hier nicht? So einfach ist es nicht, auch wenn Selenski für unsere westlichen Herzen und Minds der bessere Showman ist, verglichen mit dem für unser Verständis toxischen Putin. 

Desertiert beiderseits massenhaft!

Um mich mit meiner Anti-Kriegshaltung nicht den üblichen Unterstellungen als Putin-Versteher auszusetzen, wiederhole ich hier sicherheitshalber nochmal, dass ich die Aggression Russlands gegen die Ukraine scharf verurteile. Es gab NATO-seits viele Möglichkeiten, diesen Krieg zu vermeiden. Aus plumper Dummheit auf Seiten der NATO ist es dazu gekommen, wenn man nicht hier Willfährigkeit gegenüber der Waffenindustrie vermuten will. Nun aber wird gekämpft, mit schlimmem Leiden auf beiden Seiten, und auch ich befürworte den kompletten Import-Stop von russischem Erdöl und Erdgas aus Russland, in der Hoffnung, damit die Kompromissbereitschaft Russlands zu erhöhen. Dann aber, wenn der Krieg beendet ist, vielleicht durch Abtretung der mehrheitlich russischen Gebiete der Ukraine an Russland, müssen sich auch Europa und die USA erneut fragen, wie solche Kriege tiefer und nachhaltiger verhindert werden können. Denn Kriege zerstören nicht nur Körper und Seelen, Wirtschaft und Kultur, die einen bereichernd, die anderen verarmend, sie zerstören auch die Natur, auf der unser ganzes Leben basiert.

Stell dir vor es ist Krieg …

»Stell dir vor es ist Krieg, und keiner geht hin« war einer der Sponti- und Anarchistensprüche der Friedensbewegung von vor 50 Jahren. Ja, geht nicht hin!Kriegsdienstverweigerer und Deserteure aller Länder, vereinigt euch! Auf westlicher wie östlicher, ukrainischer wie russischer Seite, nehmt Kontakt auf miteinander. Auch in Russland gibt es immer noch das Internet und soziale Netzwerke, die staatliche Kontrolle ist nicht total. Das Versändnis für die Propaganda der eigenen Seite ist, wie immer im Krieg, auf beiden Seiten fast völlig verloren gegangen. Putin-Freund Donald Trump werden Chancen zugerechnet, nach Biden der nächste Präsident des mächtigsten NATO-Landes zu werden. Verglichen mit Putin ist Trump kaum weniger autokratisch, toxisch und wahrheitsliebend – wofür kämpfen wir da eigentlich mit ‚unseren‘ Waffen!

Wie in jedem Konflikt gilt es auch hier, den Balken im eigenen Auge zu sehen, nicht nur das Brett vorm Kopf des Feindes. Björn Hendrig auf heise.de tut das auf scharfe Weise, so wie neulich schon Thomas Fischer im Spiegel. Gut, dass es diese Gegenstimmen gibt. Hier auch mal von einem Militär, Generalmajor Rhonhof. 

Gut versus böse

Nein, nicht alle Russen sind schlecht. Gorbatschow (jetzt ist er 91 Jahre alt) war vielleicht der größte Friedensengel des 20. Jahrhunderts. Er hat fast eigenhändig den Kalten Krieg beendet und hoffte, damit das Ende aller Kriege einzuleiten. 1995 habe ich ihn in San Franzisco getroffen, konnte mit ihm persönlich sprechen und erleben, wie sehr er sich als Weltbürger leidenschaftlich über alle Grenzen hinweg für den Frieden einsetzt, unterstützt von seiner Frau, einer Ukrainerin. Nach unserem Gespräch luden die beiden mich zum Interview nach Moskau ein. 

Gibt es gute und schlechte Völkermorde? Die Vernichtung der Bevölkerung von Vietnam, Kambodscha und dem südlichen Laos im Vietnamkrieg war von der Anzahl der Opfer nicht nur schrecklicher als der jetzige Ukrainekrieg sondern auch noch eher als »Völkermord« (Genozid) einzuordnen als die Kriege der russischen Armee in Tschetschenien und jetzt in der Ukraine. Und was ist mit dem Krieg des NATO-Mitglieds Türkei gegen Kurd:innnen, über den jetzt auch die ZEIT berichtet? Kriege sind Kriege, und »Soldaten sind Mörder« – Kurt Tucholsky wurde für diese Aussage in der Weimarer Republik angeklagt, dann freigesprochen. Auch ich meine: Wer sich für einen Krieg einspannen lässt, ist ein Mitläufer und als solcher auch Aggressor. Und auch Mitläufer brauchen Dehypnose (s.o.), um zu Pazifisten zu werden.

Die historische Abstimmung im Bundestag für die Eskalation des Krieges zwischen den Supermächten empfinde ich als Skandal, umso mehr für ein Land, das 1939 den größten Krieg aller Zeiten initiierte und mindestens bis Stalingrad mehrheitlich (!) unterstützte. »Nie wieder Krieg«, hieß es nach 1945. »Sagt Nein« rief Wolfgang Borchert 1947 in die Seele des zerbombten Nachkriegsdeutschlands hinein – ein 3-min Video, das unter die Haut geht. Alles vergessen? Soll Krieg auf einmal wieder legitim sein, weil der Gegner sich diesmal so gut als böse darstellen lässt?

Putin verstehen, aber richtig

Am Ende dieses Blogeintrags für die wirklich Wissbegierigen zum Verständnis noch ein großer Bogen. Martin Frischknecht spannt ihn in seiner Zeitschrift SPUREN, die ich seit ihrem Start in 1986 kenne und begleite – sie war für meine eigene Zeitschrift Connection sozusagen die Schweizer Schwester, mit ihr standen wir in engem Austausch. Seit 2016, kurz nach Ende von Connection, schreibe ich regelmäßig für SPUREN, und ab und zu blogge ich mit Martin vierhändig. 

Ebenso wie ich ist auch Martin ein Forscher, sowohl in den Tiefen der menschlichen Seele wie in den Hintergründen der Politik. Martin ist in diesem Falle als echter »Putin-Versteher« dem Leben dieser Gestalt nachgegangen, die im Westen meist kolossal falsch interpretiert wird, und zwar nicht nur in der Einschätzung ihres Aggressionspotenzials. Putin verstehen – aber richtig, ist ein langer Text, aber er lohnt sich. 

Putin-Versteher ist bei uns zu einem Schimpfwort geworden für Weicheier, Feiglinge ‚vor dem Feind’, Verschwörungs-Schwurbler und Hippie-Träumer. Dabei ist ein Verstehen dieser Gestalt und der mysteriösen russischen Seele auch jetzt, gerade heute, unerlässlich für jedwede Bemühung um eine Beendigung dieses Krieges. Den Gegner zu verstehen darf nicht zum Schimpfwort werden! Nur wer versteht, wird einen Konflikt lösen können.