Ja, Terroranschläge wie jener in Paris sind erschreckend. Für den Schock und das Leiden jedes Betroffenen und für die Trauer der Angehörigen können wir Mitgefühl empfinden. Die Einzelschicksale zu betrachten und zu achten, ist wichtig.

Zugleich sollten wir die derzeitigen Opferzahlen aber auch im Verhältnis dazu sehen, wie sonst Schicksalsschläge unser Leben – in Deutschland und anderswo in Europa – beenden können. Das relativiert vielleicht die Terrorangst und macht deutlich, wie relativ sicher, wir hier immer noch leben. Oder umgekehrt: Wie ganz andere Schicksalsschläge als Terrorgewalt unser Leben jederzeit beenden können und wie wertvoll es sein kann, sich der Allgegenwärtigkeit des Todes bewusst zu sein.

Dazu nur zwei Vergleichszahlen. In Paris kamen gerade ca. 130 Menschen durch die Anschläge ums Leben. In diesem Jahr zählen wir mit dem Anschlag auf Charly Hebdo bisher 142 verstorbene Menschen für Frankreich. ABER: Jeden Monat sterben allein in Deutschland um die 200 bis 300 Menschen bei Verkehrsunfällen. Nochmal: JEDEN MONAT 200 BIS 300 VERKEHRSTOTE! Jedes Jahr sterben in Deutschland zwischen 10.000 und 30.000 Menschen an einer Grippe-Infektion. Nochmal: JEDES JAHR 10.000 BIS 30.000 GRIPPETOTE! Vielleicht sollten wir in Deutschland alle Autofahrten vor 7:00 Uhr morgens verbieten? Ein noch müder Fahrer könnte als Schläfer an einer Terrorkreuzung doch viele Unschuldige mit in den Tod reißen. Und wie wäre es mit einem inländischen Bundeswehreinsatz, bei dem unsere deutschen Soldaten mit ihren schief schießenden Sturmgewehren sämtliche Grippeviren im Land abknallen?

Aber im Ernst: Die reale Gefahr, bei einem Terroranschlag ums Leben zu kommen, ist bei uns noch immer noch ungeheuer gering. Machen wir uns da nicht zu Geiseln der Terroristen, wenn das öffentliche Leben, wie es gerade in Belgien geschieht, derart eingeschränkt wird? Erreichen die Terroristen – oder diejenigen, die Interessen an diesem Terror haben – nicht gerade dadurch viele ihrer Ziele: Die Verbreitung von Angst und Schrecken? Die Einschränkung freiheitlicher Lebensweisen? Die weitere Spaltung des Gesellschaft?

Was könnte die spirituelle Dimension der Terrorherausforderung sein? Hoffen wir darauf, wir könnten und sollten in Sicherheit vor terroristischen Anschläge leben, machen wir uns zu Sklaven unserer Angst. Eine solche Sicherheit ist pure Illusion. Spirituelle Selbsterkenntnis schaut der Vergänglichkeit aller Lebensformen stets rückhaltlos ins Auge. Sie lädt ein, die Begegnung mit Todesangst als Transformation hin zu der Lebendigkeit eines freien und bewusst unsicheren Lebens zu nutzen. Die Erfahrung unseres wahren Selbst ermöglicht es, uns in der Stille reinen Gewahrseins zu gründen, das niemals geboren wurde und niemals sterben kann. Das alles schenkt uns die Freiheit, aus der Angst-Vermeidungs-Spirale auszusteigen. Dann wird gelassenes und weises Handeln möglich, jenseits von Schnell-Schuss-Abwehrreaktionen, die gewöhnlich allzu rasch nach „Vergeltung und Krieg!“ schreien.

Viele Menschen ist diese Erfahrung echter, spiritueller Freiheit noch unbekannt. Umso mehr ist es an der Zeit, über sie zu sprechen und zu ihr einzuladen. Die klassischen Formulierungen der Weisen „Um frei zu sein, musst du sterben, bevor du stirbst“ ist damit aktueller denn je. Ich würde es so formulieren: Um Freiheit zu entdecken, braucht es unsere Bereitwilligkeit im Angesicht von Todesangst innezuhalten und zunächst nichts zu tun, sondern den Schrecken zuzulassen. Darin stirbt unsere Identifikation mit einem sterblichen Wesen. Was übrig bleibt ist freies und mutiges LEBEN. Zumindest in dieser Möglichkeit liegt ein Geschenk des Terrors und jedweder sonstigen Bedrohung.

Torsten Brügge, Hamburg 24.11.2015