Was würde ich hinterlassen wollen, wenn ich morgen sterben müsste? Gibt es ein Fazit aus dem, was ich in den vergangenen vierzig bis sechzig Jahren erlebt und erforscht habe? Etwas Sagbares?

In gewisser Hinsicht habe ich dieses Fazit mit fast allem ziehen wollen, was ich in den vergangenen zwanzig oder wie viel Jahren geschrieben habe. Habe es immer wieder und immer wieder neu versucht und mich dabei meistens auf ein gestelltes oder sich gerade präsentierendes Thema bezogen. Jetzt mal ohne dieses Sich-Stellen von einem Thema: Was wäre es, wenn morgen mein Todestag wäre? Dreißig Jahre lang habe ich eine Zeitschrift herausgegeben, die ich mit forschem Anspruch »Das Magazin fürs Wesentliche« genannt habe. Was also ist wesentlich?

Das Einsinken ist wesentlich.

An und ab, mehr oder weniger

Mehr oder weniger tue ich das immer, dieses Einsinken, und ob es gerade mehr ist oder weniger macht einen erheblichen Unterschied. Manche würde es vielleicht »Achtsamkeit« nennen (das sati des Gautama Buddha). Ich nenne es »Einsinken«. Nach persönlichen Enttäuschungen (die gibt es auch in meinem Leben) ebenso wie nach ekstatischen Höhenflügen (die auch …) geschieht dieses Einsinken in mir, mit mir, stärker als sonst. In den Alltagsroutinen dazwischen bin ich nicht völlig bewusstlos, aber doch mehr in Erledigungsroutinen gefangen. Im Stillsitzen geschieht das Einsinken leichter von allein als bei Tätigkeiten, die mein Fokussieren auf Außenweltliches beanspruchen. 

Meditation

Ist mit Meditation dasselbe gemeint wie das, was ich jetzt »Einsinken« nenne? Wenn mit »Meditation« ein Meditieren »auf« etwas gemeint ist, auf den kosmischen Ton, ein inneres Licht, den Atem, die Vergänglichkeit oder sonst irgendwas, dann nicht. Einsinken ist immer möglich, und es ist das Gegenteil von Fokussieren. Oft wird von Meditation als dem gesprochen, was passieren kann, aber nicht passieren muss und nicht immer passiert, wenn mensch eine meditative Übung macht. Bei dieser zweiten Bedeutung des Wortes ist Meditation ungefähr dasselbe, was ich mit Einsinken meine. 

Fokussieren versus Einsinken

Ich versuche jetzt mal, diese Vorgänge mit Begriffen der introspektiven Wahrnehmung zu beschreiben. Wenn ich etwas wahrnehme, bin ich normalerweise auf einen Gegenstand inner- oder außerhalb von mir fokussiert. Die Fähigkeit zu solchem Fokus ist sehr wertvoll, auch wenn sie in der hier beschriebenen Wortverwendung das Gegenteil der ebenso wertvollen Fähigkeit zur Meditation ist. 

Fokussieren ist ein bisschen ähnlich dem Zoomen bei einer Foto-Kamera. Meditation wäre dementsprechend der Weitwinkel, genauer: der so weit zurück reichende Weitwinkel, dass das Bild eine 360-Grad Rundumsicht bietet und das Subjekt, den Fotografen mit einbezieht. Die Fähigkeit zu einer solchen Rundumsicht hat jeder Mensch prinzipiell immer, auch wenn sie im Alltag normalerweise reduziert ist. 

Absichtsvoll oder obsessiv

Wenn die angeborene Fähigkeit zum Einsinken bei einem Menschen abwesend ist, kann der Grund dafür eine starke emotionale Betroffenheit sein, die zu Angriffs- oder Fluchtimpulsen führt. Wenn die Fähigkeit nicht eingeübt ist – wenn etwa jemand »noch nie meditiert« hat –, dann fehlt sie meistens, aber durchaus nicht immer. Wenn die Zielfokussierung ein unwillkürliche ist (Gier, Angst, Getriebenheit, Obsession) fehlt in der Regel die Fähigkeit zum Einsinken. 

Die Zielfokussierung kann aber auch freiwillig und willkürlich sein, absichtsvoll gesteuert, ein Sich-Widmen, eine bewusste Hingabe an etwas außerhalb des Ich, dann stört das die Fähigkeit, einsinken zu können, kein bisschen. Vielleicht bedingen diese Fähigkeiten einander sogar: Wer so fokussieren kann wie etwa in der Zen-Kunst des Bogenschießens, der kann sich auch auf den extremen Weitwinkel des Einsinkens einlassen. »Betätigen« kann man diesen Weitwinkel nicht, denn jedes Betätigen ist absichtsvoll, also fokussiert. Zulassen jedoch kann man ihn. Dann ist das Einsinken ein Hineinsinken in etwas, das schon da ist, so wie ein Schwimmer im Wasser untertaucht, wenn er ausatmet. Wir können unsere fokussierenden Absichten ausatmen, wir können sie gehen lassen, dann geschieht das Einsinken.

Das reicht

Die Beschreibung dieser Vorgänge kommt völlig ohne spirituelle Begriffe aus. Nachdem ich nun seit ungefähr vierzig Jahren die spirituellen Praktiken der Weltkulturen studiere und sie auch ausprobiere, das ist seit dem Sommer 1975 mein Lebensinhalt, sage ich: Diese Praktiken brauchen kein spirituelles Vokabular. Bei sprachgläubigen Menschen, das sind wir leider mehr oder weniger alle, kann ein guter begrifflicher Überbau das Vertrauen in den Sinn der Praxis erhöhen und damit die Wirkung verbessern. Worte sind aber auch immer irreführend. 

Begriffe gaukeln etwas vor, das nicht da ist. Sie versetzen Sprecher (Schreiber und Denker) ebenso wie Leser und Zuhörer in eine »Verstehtrance«. Diese Trancen spart man sich weitgehend, wenn man rein introspektiv vorgeht, ohne spirituellen oder religiösen Überbau. Dann braucht man keine Götter und keine religiöse Philosophie und kann doch auf diese Weise die Essenz aller Religionen, Religiosität, Spiritualität und Philosophie erfahren. Ein großer Anspruch? Ja, das ist es. Aber wenn ich morgen sterben müsste, dann würde ich das so sagen.

Hilft Kunst dabei?

Lyrik ist unter Umständen eine gute Alternative zu Meditationsanleitungen. Nicht für jede Lyrik gilt das, aber zum Beispiel für die besten der Gedichte von Rilke gilt es. Die im »Rilke-Projekt« vertonten Gedichte von ihm sind eine gute Auswahl, fast jedes davon fördert das Einsinken – nicht nur bei mir, ich weiß das auch von anderen.

Für manche Menschen ist auch visuelle Kunst ein gutes Mittel. Unsere Empfänglichkeit ist eben je nach Sinneskanal individuell sehr verschieden. Als ich zum ersten Mal einige der mittelalterlichen persischen Miniaturen sah, in einem Buchladen in Indien geschah das, war ich spontan so verzückt, dass diese Verzückung stundenlang anhielt, auch ohne Blick auf diese Bilder. In ähnlicher Weise können taktile Berührungen das Einsinken begünstigen. Viele würden bei solchen Berührungen von »magischen Händen« sprechen, aber diese Fähigkeit haben alle Hände; viel wichtiger ist dabei die seelische Bereitschaft des Empfängers.  

Ebenso (oder noch mehr?) als das in-sich-Aufnehmen von Kunst ist das Kreieren, das Geben ein Weg zur Ekstase des Einsinkens. Wieso Ekstase? Weil der Zustand des Eingesunkenseins ein »außer-egoistischer« (oder trans-egoistischer) ist. Das Ich als wertvolle soziale Konstruktion ist dann immer noch da, aber es ist in diesem Zustand betrachtbar. Es ist dann nicht mehr der steuernde blinde Fleck der Aktion.

Aufmerksamkeit lenken 

Hier noch ein Versuch, die Praxis es Einsinken noch genauer zu beschreiben. Lenke deine Aufmerksamkeit auf irgend etwas, zum Beispiel auf den Fingernagel deines linken Zeigefingers. Dann schließe die Augen und lenke deine Aufmerksamkeit bei geschlossenen Augen dorthin. Falls du gerade sitzt, lenke sie nun, mit noch immer geschlossenen Augen, auf deine Pobacken. Dann auf deinen Atem. Dann auf das, was du jetzt gerne essen oder trinken würdest. Aufmerksamkeit ist lenkbar, das ist erstmal alles, was ich damit sagen wollte. Wir können sie lenken, ohne dabei körperlich etwas zu tun (die Bewegungen der neuronalen Gehirnströme lasse ich jetzt mal außer acht). 

Und nun der zweite Teil, still sitzend, schweigend, am besten mit geschlossenen Augen: Zoome zurück, ‚betätige‘ den extremen Weitwinkel. Verweile dort, in diesem »Weltinnenraum«. 

Die Bewegungen des Bewusstseins

Dann fokussiere nochmal, diesmal auf irgendein kleines Objekt in in diesem Weltinnenraum, aber lasse dabei einen Teil deines Bewusstseins, jetzt etwas verblassend (‚angegraut‘ würde es ein Schriftgrafiker vielleicht nennen) im Hintergrund. Verweile in der Fokussierung, während das Bewusstsein des Hintergrundes immer noch wach ist. Das Objekt deiner Fokussierung ist eingebettet in diesen Hintergrund. Es ist aus diesem aufgetaucht und wird dort wieder einsinken, das ewige Geborenwerden und Sterben. Unsere Körper durchlaufen diese Bewegung im Materiellen (»Staub zu Staub«). Unser Geist kann sie durch Anzoomen (Fokussierung) und Zurückzoomen in die größere Einheit vollziehen.

Identifikationen entstehen als »separatistische Bewegungen« aus einem größeren Ganzen heraus, und sie versinken darin wieder, wenn ihre Zeit gekommen ist. Mit Identifikationen entstehen jeweils auch Ränder dieser Identifikationen und damit fast immer auch Konfliktlinien. Bricht ein solcher Konflikt mal aus, weil die Grenzlinie in Frage gestellt wird, kann er durch Einbettung in etwas Größeres aufgehoben werden, durch ein Einsinken in die nächstgrößere Einheit, letztlich in »das Ganze«. 

Einsinken und Fokussieren sind die beiden wichtigsten Bewegungen zu denen unser Geist, unser Bewusstsein imstande ist. 

Alles klar?