Dieses Jahr sind wir wieder am heiligen Berg Arunachala im Süden Indiens. Dieser Ort wird seit Jahrtausenden von den Hindus verehrt. Es war auch die Wirkstätte des indischen Weisen Sri Ramana Maharshis (1879-1950). Die Plätze an denen er hier gelebt hat, sind immer noch zugänglich. Für viele Menschen, die seine Lehre der tief greifenden Selbsterforschung Wert schätzen, ist seine Gegenwart hier noch heute spürbar. Vor allem anhand einer Atmosphäre mystischer Stille. Sie erlaubt es, sich mühelos meditativen Versenkungszuständen zu öffnen.
Die Leinwand des Selbst
Heute waren wir mit unserer Retreat-Gruppe im „Skandaashram“. Eine Art Höhle in der Ramana mit wenigen Schülern lange Zeit lebte. Hier in Meditation zu sitzen, bringt den Geist rasch zur Ruhe. Es offenbart eine Tiefe des Bewusstseins, die – obwohl sie immer dasselbe ist und sein wird – immer noch klarer und feiner wahrgenommen werden kann.
Wenn alle Gedanken und Geistesbilder verblassen, wird die „Leinwand-Qualität des Selbst“ offenbar. So jedenfalls beschrieb es Ramana in einer Metapher. Gemeint ist die Leinwand des reinen Gewahrseins oder des „Selbst“. Wobei „Selbst“ – oder „wahres Selbst“ – hier im transpersonalem Sinn gemeint ist: Das Selbst, dass denselben Wesenskern jedes persönlichen Ichs ausmacht.
Unangetastet
In einem Kino ist eine Leinwand erforderlich. Auf sie wird der Film auf projiziert. Die Leinwand stellt den Hintergrund bereit. Auf ihr laufen alle Bilder ab. Im Film kann alles Mögliche geschehen. Ein Feuer brennt. Ein Erdbeben lässt die Landschaft erschüttern. Eine Flut reißt alles mit sich. Doch die Leinwand bleibt unberührt. Sie wird vom Feuer im Film nicht angesenkt. Sie bleibt unbeschadet. Das Erdbeben erschüttert sie nicht. Die Leinwand ruht reglos in sich selbst. Die Flut macht sie nicht nass. Sie bleibt unangetastet. Stets Unverändert. Unversehrt. Heil. Diese „Leinwandqualität“ des Gewahrseins offenbart sich in meditativer Versenkung als die tiefe Wirklichkeit des Selbst.
Die Geschichte einer Person im Film steht dabei für unser persönliches Ich mit seinen individuellen Eigenschaften und sich wandelnden Zuständen. Das Ich erfährt seinen Lebenslauf über Geburt, Altern und Tod. Mit Hochs und Tiefs. Erfolgen und Misserfolgen. Gewinnen und Verlusten. Das wahre Selbst aber bleibt davon unangetastet. Es ruht als der ewig schon gegenwärtige, unbewegte Hintergrund.
Transparent für das Transzendente
Zugleich ist der Hintergrund der Leinwand nicht getrennt vom Film. Wird das Selbst „erkannt“, geschieht auch eine Verwandlung des persönlichen Ichs im Film. Das persönliche Ich wird sozusagen transparent für das allen Erscheinungen zugrunde liegende Selbst. Der Hintergrund der weißen Leinwand strahlt durch unser „lichter gewordenes Ich“ deutlicher hervor. Das passt gut zu einem Satz des Zen-Lehrers Karlfried Graf Dürckheim. Er sagte: „Der höchste Sinn des menschlichen Lebens besteht darin, transparent für das Transzendente zu werden“. Durch unsere eigene Entdeckung des stillen Hintergrundes machen wir auch andere neugierig auf das Transzendente. Zugleich werden wir fähig, durch die scheinbar wirklich wirkenden Filmgestalten das Durchscheinen der transzendenten Stille zu erblicken.
Ramanas Leben diente dieser Transparentmachung in voller Gänze. An den Plätzen, wo er lebte und wirkte, ist das noch heute spürbar. Hier in Meditation zu verweilen, lässt den reglosen Hintergrund von alleine deutlich werden. Oder es vertieft dessen Erleben. Sich als diese Ruhe zu erfahren, entspannt Körper, Seele und Geist. Es lässt tiefen Frieden und freudige Lebendigkeit von innen heraus scheinen. Oder man erlebt sich schlicht als friedvoll und gelassen. Auch wenn der eigene Lebensfilm im Vordergrund weiter geht, kann die bleibende Erfahrung des Hintergrundes die Wahrnehmung des gesamten Lebens von Grund auf verändern.
Verweilen als Ruhe
Einen wesentlichen Aspekt seiner spirituellen Vermittlung beschrieb Ramana deshalb als die Einladung “im Selbst zu verweilen“. Oder in der Kino-Metapher: Sich des Hintergrundes der Leinwand gewahr zu sein, auch während der Film weiter läuft. Auf eine Art ist das eine paradoxe Aussage. Denn Ramana sagte auch, dass wir schon immer dieses Selbst waren, sind und sein werden. Nur die Idee, sich mit der Person im Film und deren Lebensgeschichte zu verwechseln, führt zu Verwirrung und Leiden. Im „Selbst zu verweilen“ bedeutet also nicht, dass wir uns dafür anstrengen müssten. Es ist kein Tun. „Im Selbst verweilen“ meint, natürlicher Weise in uns selbst – unserem wahren Selbst – zu ruhen und gleichzeitig wach dafür zu sein, wann wir uns mit Filmfigur und Filmerleben leidvoll verwechseln. Wird das bewusst erkannt, können wir uns „zurückentspannen“. Vom bewegten Filmgeschehen in das bewusste Sein als Leinwand. Von der Verwirrung unserer Ich-Gedanken in die Klarheit des in sich selbst ruhenden Selbst.
Torsten Brügge, 7.3.2016, Tiruvannamalai
Lieber Torsten,
schön, dass Du Dich aus Indien meldest und uns ein wenig an Eurem Retreat teilhaben lässt. 🙂
Liebe Grüße aus dem (immer noch verschneiten) Bayern,
Marianne
Ein sehr schöner Text, danke!
Danke Marianne,
gerne. Vielleicht folgt demnächst noch ein kleiner Bericht vom Ganges, wo wir im Moment fast täglich auch ein Bad im (hier noch sehr sauberen Ganges-Wasser) nehmen.
Grüße in den Norden
Torsten
Wenn das was du in diesem wunderschönen Text so gut dargestellt hast einem Menschen widerfährt und er es so wahrnimmt und in jedem Moment erfährt ist das dann Erleuchtung?
Liebe Grüße und weiterhin ein tiefes Baden im Sein