Ungefähr einmal im Monat bin ich für ein paar Tage bei meinem inzwischen fast sechsjährigen Sohn Valentin im Münsterland. Wie alle Kinder spielt er gerne, lacht, macht Faxen und ist für Interaktionen zu haben, die ihm, mir und den Dingen um uns Bedeutungen zuweisen. Ich habe schon immer gerne mit Kindern gespielt, und dies ist auch nicht das erste Kind, das ich mit aufziehen half, aber erst jetzt, in der Zeit mit Valentin, wird mir so richtig klar, wie sehr wir Menschen danach streben, uns selbst und allem um uns herum eine Bedeutung zu geben.
Bedeutung zuweisen
Wenn Valentin allein ist, denkt er sich Geschichten aus. Spielen heißt für ihn Gegenstände in einer Weise zu arrangieren, dass sie Bedeutung haben. Meist kann er diese Bedeutung auch mit Worten ausdrücken. Für jedes kleine Bauwerk von ihm, sei es aus Lego oder im Sandkasten, kann er erklären, was es bedeutet. Er ist es, der den Dingen Bedeutung gibt. Wenn er diese Werke allein gestaltet, dann geschieht das in einer Art innerem Selbstgespräch mit sich und den Dingen. Noch viel lieber tut er das jedoch mit Mitspielern, in einem korrelativen Prozess. Die Bedeutungen werden dabei zum Teil ausgesprochen (Zuweisung eines Wortes zu einem Ding) oder sie werden durch den Ort des Dinges (des Bauklötzchens, Playmobilfigur, Polizeiauto) gegeben, das mit anderen Dingen in Beziehung steht, und so ähnlich auch mit Personen.
Tödliche Langeweile
Langeweile entsteht, wenn »keiner mit mir spielt«, das heißt, wenn keiner bei diesen Bedeutungszuweisungen mitmacht. Dann befindet sich das Kind in der Öde einer Umgebung, in der die Dinge keine Bedeutung haben, sondern einfach nur da sind. Ohne Geschichte, ohne Bezug zueinander und zu ihrem Betrachter stehen sie einfach nur herum – das ist für ein Kind kaum auszuhalten. Langeweile kann für Kinder eine wirkliche Qual sein. Das Leben erscheint ihnen dann als sinnlos; sie fühlen sich sterbenselend. Das lässt sich aber blitzschnell ändern durch Zuweisen von Bedeutungen: Du bist ein Prinz, ein Räuber, ein Kaninchen und ich ein hungriger Fuchs, fast egal was, in Sekundenschnelle bekommt das Kind leuchtende Augen und spielt mit. Manchmal einfach im Sinne der zugewiesenen Bedeutungen, oft mit eigenen Zuweisungen (»Du bist jetzt der Räuber und ich der Polizist«), mal darin mehr führend, mal mehr folgend, immer aber stark energetisiert durch die Zuweisung einer Bedeutung.
Eu-Stress
Bei Tisch herumsitzende Kinder, die nicht essen wollen, obwohl doch gerade Essenszeit ist und Mama oder Papa alles so schön aufgedeckt haben, alle Eltern kennen das. Das kann sich aber nullkommanichts ändern, wenn dem Essen durch Verteidung oder Angriff des Verteilten, Tier-, Terrritorial- oder Wettspiele, eine Bedeutung gegeben wird (z.B. durch »Wer hat zuerst seinen Teller leer?«). Auch Eltern, deren Devise ist, dass Essen stressfrei geschehen sollte, greifen dann manchmal zu diesem Ausweg einer dramatischen Inszenierung des Essgeschehens. Schließlich gibt es ja nicht nur Dis-Stress, sondern auch die positive Erregung des »Eu-Stresses«, der der Verdauung gar nicht schlecht bekommt.
Spielen? Was soll’s …
Seit ich denken kann, habe ich mich gefragt, wie Krieg und Frieden entstehen, soziale Freiheit und Unterdrückung, Verachtung und Wertschätzung. Hier kann ich es sehen: beim Aufwachsen von Kindern. Hier wird das Ego gebaut, das Ich- und das Wir-Bewusstsein, die soziale Identität. Eigentlich langweilen mich Spiele. Wozu soll ich gewinnen? Zu verlieren ist doch genauso gut oder schlecht, und die zugewiesenen Bedeutungen sind beliebig. Ob ich in diesem Spiel der Schurke oder der Retter bin, ist mir egal. Im Spiel mit Valentin aber kann ich sehen, wie die Bedeutungszuweisung funktioniert. Wie schnell das geht, welche Rollen gewählt werden, welche Gefühle dabei entstehen und wie da die einzelnen Bedeutungen miteinander verknüpft werdendurch das Erzählerische, den narrative Faden, der verbindet und verknüpft. Und es freut mich, wie meine wilde Fantasien (Schuhe können fliegen, Stühle im Dunklen sehen oder sich in nichts auflösen, ein Gespenst kommt durch die Tür, keiner kann es sehen oder hören und wir wissen doch, dass es da ist, und, und, und …). Das Beste dabei aber ist: Ich weiß endlich wie Gesellschaften Identitäten, Überzeugungen gebaut werden, ich kenne nun das Konstruktionsprinzip.
Das Ich ist eine Erfindung
Ein paar Jahre ist es her, da fiel mir das Buch »Ich – wie wir uns selbst erfinden« in die Hände. Schon der Titel war für mich Ich-Identitätsforscher der Knaller, und der Inhalt löste das vom Titel gegebene Versprechen ein, was ja auch bei Büchern leider viel zu selten vorkommt. Ich rezensierte es und verabredete mich mit dein beiden Autoren, Werner Siefer und Christian Weber, die damals beim Magazin Focus in der Wissenschaftsredaktion arbeiteten. Vor allem Werner Siefers Ansatz interessierte mich, er hatte zu dem Buch den naturwissenschaftlichen Teil beigesteuert. Er ist Biologe, und wir stellten fest, dass mein Vater und sein Doktorvater enge Freunde waren, und im Zuge unseres Gedankenaustauschs wurden auch wir Freunde. So gibt es eben auch um jedes Buch eine Geschichte, um jede Rezension, sogar um jeden Blogeintrag von mir oder sonstwem, eigentlich um jeden Text, der irgendwo geschrieben oder erzählt wird. Alles hat seine Geschichte und Geschichten. Sie werden nach dem Geschehen gemacht und um das Geschehen herum. Und sie haben ein Eigenleben, das sich leicht – sehr leicht! – vom Anlass gebenden Geschehen lösen kann.
Der Erzählinstinkt
Zurück zu Werner Siefer, denn gerade ist wieder ein Buch von ihm erschienen, diesmal nur von ihm. Es heißt: »Der Erzählinstinkt – warum das Gehirn in Geschichten denkt«. Dort im Abschnitt »Der Homo narrans« schreibt er, dass auch der Tratsch nicht darüber hinwegtäuschen sollte, »dass Erzählen einen höheren Sinn hat, der weithin und viel zu lange und von viel zu vielen übersehen wurde. Denn nicht Vernunft und Analyse, nicht Intuition oder Gefühle, sondern das Erzählen ist die wichtigste Form menschlichen Denkens. Wir organisieren alle unserer Erlebnisse, unser Gedächtnis, unsere Ziele und Wünsche, Begründungen, Rechtfertigungen, Entschuldigungen, Ausreden, unser gesamtes Leben auf eine narrative Art und Weise.«
Geist entsteht erzählerisch
Das rennt bei mir offene Türen ein, ebenso wie schon die wissenschaftliche (!) Feststellung, dass das Ich eine Erfindung ist. Dazu passt jetzt nahtlos die These von Werner Siefer, dass das Erzählen die Methode ist, wie nicht nur die Ichs gebastelt werden, sondern auch alle anderen Bedeutungen zustande kommen, von denen das Ich eben die Quelle ist, aus der sie sprudeln. Jedes Objekt hat eine Bedeutung immer nur in Bezug auf ein Subjekt, auf »mich«; es ist bedeutsam »für mich« oder sonst ein Ich. Nun also die Methode dazu. Organische Kohlehydrate entstehen seit gut zwei Milliarden durch die oxygene Photosynthese, dieser biochemische Prozess ist in der Biologie und der Evolution des Lebens der vielleicht wichtigste überhaupt. Die erzählerische Zuweisung von Bedeutung könnte für menschliche Kultur und Gesellschaft, für Ich und Identität, für das, was Geist ist gegenüber der Materie, mindestens so zentral sein wie die Photosynthese für das biologische Naturgeschehen.
Die Genesis
Womit wir wieder einmal bei der Gegenüberstellung von Fakt und Fiktion wäre, einem weiteren Lieblingsthema von mir. Die Naturwissenschaften wollen wissen, was Fakt ist. Das sucht auch die Mystik, die vorsprachliche Grundlage aller Religiosität. Insfoern passen Mystik und Naturwissenschaft (science) sehr gut zusammen. Der andere Teil der Kultur aber ist das Geistige, Konstruierte, Erfundene, die Fiktion. Das ist der Stoff, aus dem nicht nur alle Mythen, sondern auch du und ich, wir und ihr und alle Kollektive und Kulturen gemacht sind. Bei einem spielenden Kind, das auf Teufel komm raus sich nicht langweilen will, kann man sehen, wie das entsteht. Nicht die fünf Bücher Mose, sondern das hier ist die Genesis – die Genesis des Geistes, der Mythen, der Kulturen und Religionen, Sprachen und Gesellschaften.
Das Kind ist immer noch ins uns. Wer kennt nicht die Situation inmitten einer schönen Umgebung, vor einem wunderschönen Bild, bei einem Sonnenuntergang oder beim Essen, das ganz besonders gut schmeckt: Dieser Anflug von Einsamkeit, wenn da grade niemand ist, mit dem man das teilen kann…. Offenbar liegt das daran, dass ein Gegenüber für die Bedeutungszuweisung („besonders schön, gut…“) nicht da ist und das Erlebte alleine so nicht vollständig wirkt, nicht gesichert ohne die Bestätigung durch einen Mitmenschen. Dies weiter denkend, ergibt sich auch eine Begründung für die „Social-Media-Sucht“ vieler Menschen. Das ständige Zeigen von etwas will Resonanz und Bestätigung… Weiterlesen »
Hallo Claudia,
inwieweit man die Bedeutungszuweisung selbst machen kann bzw. eine solche Zuweisung befriedigend genug ist, oder nicht, das finde ich eine spannende Frage. Insbesondere auch die Ich-Werdung, das Sich-selbst-eine-Bedeutung-geben, was ja ein lebenslanger Vorgang ist. Können wir das alleine?
Ich glaube, wir brauchen dazu ‚die anderen‘. Obwohl gerade hier ein gewisses Maß an sich selbst gestaltender Souveränität gut ist für die Individuation: Drehbuchschreiber des eigenen Lebens zu sein, dies zu werden, wenigstens teilweise, neben ‚Gott‘ alias dem Schicksal als Co-Autor, und nicht nur der Protagonist des eigenen Lebens zu sein.
LG
Wolf
„Offenbar liegt das daran, dass ein Gegenüber für die Bedeutungszuweisung („besonders schön, gut…“) nicht da ist und das Erlebte alleine so nicht vollständig wirkt, nicht gesichert ohne die Bestätigung durch einen Mitmenschen. “
Das erlebte ich eigentlich immer anders: War ich an einem großartigen Ort, dann war es für mich klar, daß er magisch und überirdisch schön war. Bestätigung durch einen Zweiten brauchte ich da nicht. Gerne möchte man aber das Erlebnis „herzeigen“, wie ein Kind eine selbstgefertigte ansprechende Zeichnung zeigen will. Einen Fund sozusagen.