Heute morgen erreichten mich die Nachrichten über die Anschläge von Paris. Ich hatte mir grad vorgenommen, nun mal zu versuchen, jeden Tag ein bisschen zu bloggen,
lieber kurz als gar nicht, heute u.a. über die Frage, warum ich am 8. November geschrieben hatte, dass »nach Jahren der Skepsis gegenüber unserer bisher so visionslosen Kanzlerin« mein Respekt vor ihr »in diesen Wochen stark gestiegen« sei. (Er ist durch ihr »Wir schaffen das« gestiegen, und dadurch, dass sie sich damit gegen innerparteiliche Widerstände behauptet. Von einer generellen Unterstützung ihrer politischen Linie bin ich nach wie vor weit entfernt.)
Und nun diese Anschläge, mit denen sich alle Nachrichtenmedien beschäftigen und über die man nun an so vielen Küchen- und Stammtischen spricht.
Das Zeigen von Gewalt
Ich muss oft weinen, wenn ich solche Nachrichten sehe, höre oder davon lese. So auch heute morgen. Das ist mir ein bisschen peinlich, vielleicht deshalb, weil ich mit meiner Weichherzigkeit offenbar doch noch nicht so ganz einverstanden bin. Oder auch deshalb, weil ich weiß, dass jeden Tag so viele Menschen verhungern, in Kriegen erschossen und in Gefängnissen gefoltert werden, und ich darüber nicht weine, sondern erst dann, wenn die großen Massenmedien in den großen Hauptstädten der Welt Bilder bringen, in denen »ganz normale Bürger«, die Kunden dieser Massenmedien, in Furcht und Schrecken versetzt werden.
Ich weiß das, aber ich weine nicht jeden Tag über die Opfer von Gewalt, auch wenn es jeden Tag Tausende sind, denn sie werden mir nicht so präsentiert, dass ich dabei weinen muss. Dennoch gibt es diese Gewalt und ihre Opfer, man sieht sie nur nicht.
Typ 9/11
Dann fällt mir 9/11 (nine eleven) ein, die Ereignisse vom 11. September 2001. Die Gewalt ist im Fall von »Paris am 13. November« um den Faktor zehn geringer, aber vom Typ her ähnlich: Eine westliche, ex-koloniale Weltmacht wird in ihrer Hauptstadt angegriffen von Selbstmord-Attentätern, die anscheinend in einer gewaltverherrlichenden Interpretation des Islam geistig beheimatet sind. Und wieder gibt es die Solidaritätsbekundungen (»Wir trauern mit euch«), die taffen Reden der westlichen Führer (»Wir lassen uns durch diese Gewalt nicht einschüchtern«) und die Verdächtigungen der Verschwörungstheoretiker, diese Anschläge seien von westlichen Geheimdiensten selbst initiiert, um westliche Gewaltaktionen weit größeren Ausmaßes (damals den zweiten Irak-Krieg) zu rechtfertigen.
Verschwörungstheoretiker
Über die Kopisten im westlichen Mainstream, die Halbwahrheiten voneinander abschreiben und die resultierenden Weltbilder mit ihrer massenhypnotischen Wirkung habe ich ja seit mehr als 25 Jahren oft geschrieben, meine Zeitschrift Connection versuchte, eine kleine Insel des Widerstands gegen die Weltinterpretation dieser Massenmedien zu sein. Neu ist für mich heute die starke Zunahme der in ähnlicher Weise sich massenhaft gegenseitig beeinflussenden Fans von Weltmodellen, die von Verschwörungen ausgehen und von einem Überwiegen politischer Ereignisse, die von ihren Veranstaltern zu einem ganz anderen Zweck initiert wurden und mit ganz anderen Zielen als sie selbst angeben, salopp »Verschwörungstheoretiker« genannt.
Dunkle Gestalten
Nun bin ich über beide entsetzt: nach wie vor über die Klischees des Mainstream, nun aber auch über die Klischees der Verschwörungsfans, die im Normalfall kein bisschen kritischer mit ihren Quellen umgehen als die Journalisten des Mainstream, sondern einfach nur von anderen Erklärungsmodellen besessen sind, und zwar oft oder sogar überwiegend von Erklärungen, die in »den Mächtigen« in Politik und Wirtschaft fast durch die Bank dunkle Gestalten sehen, die Böses beabsichtigen, während sie ganz anderes verkünden. Jedem psychoanalytisch Gebildeten drängen sich dabei Vermutungen auf, dass da eigene innere Dämonen nach außen projiziert werden.
Intrigen und ihre Aufdeckung
Dass manche Menschen paranoid sind, beweist aber noch nicht, dass sie nicht verfolgt würden. Absprachen hinter den Kulissen hat es schon immer gegeben – heute mehr denn je? Schwer zu sagen, finde ich. Wir haben heute bessere Kommunikationsmittel, das müsste eigentlich Intrigen erleichtern; andererseits gibt es heute auch bessere Mittel, sie zu durchschauen.
Meine Lebenserfahrung sagt mir, dass die Menschen heute in ethischer Hinsicht nicht viel anders sind als vor fünf oder zehn tausend Jahren, jedenfalls nicht im Hinblick auf Wahrhaftigkeit. Es sind ja auch nicht höhere Bildungsschichten ethisch-moralisch »besser« als niedere. Eine intellektuelle Entwicklung hat über die Jahrtausende stattgefunden, eine ethische leider kaum. Jedenfalls scheinen mir die Menschen heute nicht moralisch schlechter zu sein als in der Steinzeit und bei den heute noch existierenden Naturvölkern.
Gewalt im Lauf der Geschichte
Der kanadische Evolutionsbiologe Steven Pinker schrieb in seinem 2011 erschienen monumentalen Werk »Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit« (im Original »The Better Angels of Our Nature: Why Violence Has Declined«), dass sich die Gewalt, die Menschen einander antun, im Lauf der Geschichte bis heute konituierlich verringert habe. Ihm wurde vorgeworfen, dass in seinem Gewaltbegriff die Gewalt, die wir Menschen im Anthropozän der Natur antun, nicht vorkäme, und auch die strukturelle Gewalt in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen nicht. Dass solche mörderische Gewalt, wie sie gestern in Paris geschah (bzw. »verübt wurde«) im Lauf der Geschichte abgenommen hat, wird jedoch von Historikern und Soziologen nicht bezweifelt.
Was zugenommen hat, ist die Inszenierung von Gewalt.
Bin ich nun ein schlechter Mensch, weil mich die acht Babyleichen, die man vorgestern in einem Haus in Wallenfels fand, mehr erschüttern, als die Attentate in Paris? Oder bin ich an die alltägliche Schrecklichkeit terroristischer Gewalt eher gewohnt? Oder sehe ich hier nur den Zusammenhang der Vergeltung deutlicher, dass nämlich Bomben und Drohnen als kriegerische Akte ähnliches Leid nur unter anderem moralischen Verständnis exekutieren?
Warum kann ich das eine relativieren und das andere nicht? – Ich bin nur Beobachter der Nachrichten diverser Schrecklichkeiten, und dennoch fühle ich mich in meiner Apperzeption der Ereignisse manchmal, als machte ich mich schuldig.
Ich habe darauf keine leichten Antworten. Außer: Es ist sehr komplex. Handeln aus Empathie ist gut, soweit ist es noch einfach, aber diesem Handeln geht ein Wahrnehmen von Leiden voraus, dass irrtümlich sein kann und vor allem: Es bewertet das eine Leiden als wichtig, ein anderes als weniger wichtig. Wie kann man bei solcher Bewertung fair sein? Schwierig. Zudem ist unsere Empathie die Einflugschneise für die Inszenierung von Leiden, wodurch wir steuerbar sind. Das kann die Selbstinszenierung eines Bettlers an der Straße sein, die Werbung für „Brot für die Welt“ aber auch das Präsentieren von Opfern politischer Gewalt, was die… Weiterlesen »
Dieser Blogpost kommt mir ziemlich fremd, irgendwie entlegen vor. Als beträfe es dich nicht… Die Reduzierung des komplexen Themas auf ein bisschen Reflexion über Gewalt und Verschwörungstheorien – das kann es doch nicht sein! Jede und jeder ist in der Lage, Gewalt auszuüben, wenn es „ans Eingemachte geht“. Anstatt über die nicht wirklich relevanten Verschwörungstheoretiker oder irgendwelche Plattheiten des Mainstreams zu räsonnieren, wäre es doch eher angesagt, das komplexe Thema anzunehmen und zu versuchen, es auseinander zu fiesern. Gewaltlosigkeit lässt sich gut predigen aus einer sichern Situation zwischen La Palma und Niedertaufkirchen. Aber hey – würde das auch in Syrien… Weiterlesen »
Ein bisschen entlegen bin ich, da hast du recht, obwohl ich gerade dabei bin, 24 Flüchtlinge in ‚meinem‘ Haus zu beherbergen. Fremd ist mir das Thema Gewalt aber nicht. Ich habe schon sehr viel darüber geschrieben, nur eben hier gerade nicht. Das komplexe Thema auseinander fiesern möchte ich an dieser Stelle nicht. Es gibt ja schon einige, die das tun, Slavoj Žižek zum Beispiel, und etliche andere. Um denen noch etwas hinzuzufügen, müsste ich mir jetzt Zeit dazu nehmen, die ich momentan nicht habe. Zum Beispiel deshalb, weil ich gerade das Zusammenleben mit 24 möglicherweise traumatisierten Flüchtlingen vorbereite. Ja, klar:… Weiterlesen »
Gedanken eines paranoiden Verschwörungstheoretikers:
Werden die Grenzen jetzt noch schneller dicht? Die Überwachung noch perfider? Oder lässt sich in dem ganzen Tohuwabohu TTIP ganz schnell fast unbemerkt durchwinken?
Über welche Morde trauern wir?
Hier der Blogeintrag eines libanesischen Arztes über die Anschläge, die fast zur gleichen Zeit wie in Paris in Beirut geschahen, bei denen 45 Menschen starben.