Wenn ich versuche Menschen mit Meditation vertraut zu machen, die damit noch kaum Erfahrung haben – am kommenden Freitag versuche ich das wieder mal an einem Yogazentraum in Emsdetten – erkläre ich das manchmal mit dem »weiten Blick«. 

Wir können auf etwas fokussieren, das wäre der enge Blick. Der versucht, nur einem Objekt die ganze Aufmerksamkeit zu geben. Dabei ist der Fokus eng gefasst, er will nicht durch die Umgebung abgelenkt werden. Wer das kann, darf sich dazu gratulieren, denn es ist eine wichtige Fähigkeit, sich so konzentrieren und einem Objekt ganz hingeben zu können.

Das Gegenteil eine solchen engen Fokussierung ist der weite Blick. Ähnlich wie bei einer Kamera können wir auch unsere Wahrnehmung auf Weitwinkel einstellen. Anders als bei einer materiellen Kamera kann dieser weite Blick sogar 360 Grad rundum wahrnehmen und auch oben und unten, in der Mitte davon sogar auch das Subjekt, mich selbst, den Wahrnehmenden. Das wäre dann der ganzheitliche Blick. Wenn dieser auch noch das emotionale Einsinken in das Wahrgenommene impliziert, können wir diesen Zustand Meditation oder mystische Versenkung nennen.

Jenseits von hier

Es gibt einen Raum jenseits der Ebene, auf der wir uns als getrennt empfinden, einander fürchten und bekämpfen. Diesen Raum zu kennen und dazu Zugang zu verschaffen haben traditionell die Religionen für sich in Anspruch genommen. Jahrtausende lang war dieser Zugang Eliten vorbehalten, Eingeweihten, Männern oder einer Oberkaste. Heute macht man sich mit einem solchen Anspruch unter aufgeklärten Zeitgenossen nur noch lächerlich. 

Den Raum der Transzendenz, der Anderswelt, gibt es jedoch tatsächlich, und der Zugang dazu ist allenfalls verstellt durch unsere Sturheit oder Blindheit. Von Ken Wilber höre ich dazu gerade als Hörbuch Finding Radical Wholeness. Warum so viele Worte darüber, dass alles jetzt schon da ist und zugänglich! Wilber aber strukturiert die Botschaft so, wie nur er es kann: umfassend, genau und systematisch. In diesem Buch zudem immer mit der Anleitung, wie der noch in seinen Grenzen, ‚im Ego‘, gefangene Mensch dort hingelangt. Sehr beeindruckt mich dabei auch, wie klar er das Erwachen (waking up) dem menschlichen Reifen (growing up) gegenüberstellt. Mehr dazu in meinen folgenden Blogeinträgen, ich bin erst am Anfang des Buchs.

Ebenso begeistert bin ich auch von einem anderen Buch: Essbar sein – Versuch einer biologischen Mystik. Andreas Weber zeigt darin auf poetische Weise, wie wir Teil der Natur sind, geborgen im großen Ganzen und das auch als Zivilisierte jeden Tag erleben können. Auch der materielle Stoffwechsel – essbar zu sein und zu essen – verbindet uns mit der Natur. Das Buch liegt neben meinem Bett, ich schlafe damit ein und begrüße es nach dem Aufwachen, was bei mir zurzeit so gegen 5 und 6 h geschieht, da ist es jetzt ja schon sehr hell. Bobby Langer hat das Buch rezensiert: eine neue Philosophie der Verbundenheit.

Am Ende dieses Blogeintrags komme ich wieder zurück zur Philosophie der Verbundenheit. Hier erstmal wieder ein Versuch, den Kurs der Titanic vielleicht doch noch ein wenig ändern zu können, das heißt: zu den politischen Nachrichten. Als erstes greife ich eine vom Krautreporter auf.

Die Täter-Opfer Umkehr

»Eine atemberaubende Umkehrung von Täter und Opfer« sah der Krautreporter am 12. Juni in der Begründung des BSW-Abgeordneten Klaus Ernst, der sich die mit Standing Ovation bejubelte Rede von Selenskyi im Bundestag nicht anhören wollte und danach sagte, er wolle nicht klatschen für »jemanden, der Deutschland in einen weiteren Weltkrieg treibt«. Auch Sahra Wagenknecht wollte Selenskyi nicht bejubeln und erklärt das in diesem Video recht gut. 

Zur Frage, wer in einem gezeigten Ereignis der Täter und wer das Opfer ist, habe ich den folgenden Cartoon schon ein paar mal angeführt, weil ich finde, dass er das philosophische Problem gut auf den Punkt bringt:

Kontext ist alles Kopie.jpg

Im engen Kontext ist der Täter links und rechts das Opfer. Im erweiterten Blick ist es umgekehrt. Noch weitere Blicke würden sicherlich noch weitere Kontexte, Ursache/Wirkung-Zusammenhänge und Täter/Opfer-Interpretationen ermöglichen.

Der Krautreporter wurde vor zehn Jahren gegründet. Laut Eigenaussage war das Motiv für diese Gründung, dass »du nicht in der Nachrichtenflut versinkst. Sondern, damit du Zusammenhänge verstehst«. Hier lässt er sich allerdings mit »atemberaubend« zu einem starken Kommentar hinreißen lässt, der zeigt, dass die Redaktion in diesem Falle gerade nicht die Zusammenhänge versteht, sondern hier im Chor der auf Krieg gepolten Wölfe im Mainstream mitheult.

Seit 2020 habe ich den Krautreporter abonniert, weil er mir einen guten Überblick über die Art gibt, wie unsere sogenannten Qualitätsmedien die aktuellen politischen Nachrichten einordnen. Vergangenen November habe ich auf einer Konferenz in Berlin seine Macher getroffen und mit einigen von ihnen gesprochen. Sie sind überzeugt, mit ihrem Medium gute journalistische Arbeit zu machen. Sie sind keine Gutmenschen und gewiss auch keine Bösmenschen, obwohl sie in diesem Falle – und noch vielen anderen – Teil einer Bewegung sind, die Unheil anrichtet. In diesem Falle: die Unterstützung des Ukrainekriegs. Aber das wissen sie nicht und finden deshalb Antworten wie die von Klaus Ernst und Sahra Wagenknecht »atemberaubend«, das heißt unsäglich falsch und zu verurteilen.

Die Ereignisse einordnen können

Warum die amerikahörige Haltung der NATO-Länder, darunter auch Deutschland, realpolitisch eine Farce ist, darüber berichtet zum Beispiel Globalbridge immer wieder mit Hintergrund Analysen, die genau das leisten, was der Krautreporter als seine journalistische Mission verkündet. Auch im Falle des Ukraine-Kriegs. Hier ist eine Antwort des Russlandkenners Stefano die Lorenzo auf »das Selenskyi-Spektakel« – auch sie mit »widerlich« nicht weniger emotional geladen als die Nachricht des Krautreporters. Viele der Gobalbridge-Analysen, insbesondere auch die des Gründers Christian Müller, sind dem gegenüber mehr Analyse und nicht so sehr Kommentar.

Ich kommentiere das hier so ausführlich, weil ich 1. seit mehr circa 40 Jahren selbst journalistisch tätig bin, 2. es mir gewaltig stinkt, dass die Alternativ-Medien in den Machern der Mainstreammedien so oft kolossal dumme oder böse Menschen sehen, sogar von »Lügenpresse« und »gleichgeschaltet« ist dabei oft die Rede, und 3. weil mich der große Bogen interessiert, die Einordnung der aktuellen politischen Fakten in einen Zusammenhang, der sie verständlich macht. Und die Frage, wie wir Menschen den dafür nötigen weiten Blick bekommen. 

Dissident werden

Für diesen müssen wir zu Dissidenten werden. Ein Weiter-so und Mitlaufen mit der Masse führt nur noch tiefer in die Katastrophe. Hierzu habe ich gerade mal wieder den Wikipedia-Eintrag über Karl Liebknecht gelesen, weil Globalbridge mich darauf hingewiesen hatte, dass Liebknecht im Sommer/Herbst 1914 als einziger im deutschen Reichstag die Kriegskredite konsequent abgelehnt hatte. Obwohl er als SPD-Mitglied im Reichstag wegen der Fraktionsdisziplin zunächst einigen der Pro-Kriegsbeschlüsse seiner Partei widerwillig zustimmte. Wie schwer es für ihn war, damals als Pazifist zu bestehen, sogar mitten in einer Partei, die kurz vorher noch die Internationale gesunden hatte und deren Motto »Arbeiter aller Länder, vereinigt euch« gewesen war.

Heute sehe ich die Ausgrenzung von Sahra Wagenknecht aus der Linken als einen ähnlichen Vorgang. Sie ist eine Dissidentin, die den Mut hatte, aus ihrem Ausstieg eine Neugründung zu machen. Um politische Ereignisse mit schweren Folgen zu verhindern, müssen wir uns auch heute wieder dem Mainstream widersetzen und Mut haben, uns so zu isolieren, wie Karl Liebknecht es tat. Der für diesen Schritt des Verrats am Vaterland angeklagt, mit Zuchthaus bestraft und im Januar 1919 sogar mit Zustimmung des mächtigen SPD-Politikern Gustav Noske erschossen wurde. Zusammen mit der ebenfalls pazifistischen Rosa Luxemburg.

Ohne den Ersten Weltkrieg hätte es den Zweiten nicht gegeben und auch nicht den Kalten Krieg. Heute stehen wir wieder vor einer weltweiten Aufrüstung, kürzlich sogar einer Vermehrung der zündbaren Atomsprengköpfe. Und der populärste Politiker in Deutschland ist Boris Pistorius, der unser Land wieder kriegstüchtig machen will.

Das BSW als Partei biedert sich jedoch in einigen Positionen dem Mainstream an, anscheinend um Stimmen zu gewinnen, sodass ich am 9. Juni fast stattdessen Volt gewählt hätte. Hier als Beispiel für den Wachstumswahnsinn unserer zerstörerischen Wirtschaft das Cover des SPIEGEL vom 2.9.23, der, wie fast die gesamte ‚Qualitätspresse‘ diesen Wahn populistisch mit betreibt:

Die Suchtabhängigkeit unserer Wirtschaft von einem nicht endenden exponentiellen Wachstum ist ein Krebs, der früher oder später seinen Wirt zerstören wird. Es sei denn, der Wirt kommt zur Einsicht. Dafür gibt es jedoch leider kaum Anzeichen, auch beim BSW nicht.

Der schwere Schritt zum Verzeihen

Nicht nur in der Ukraine wird geschossen und im Feind das zutiefst Böse vermutet, auch im Sudan, wo der Bürgerkrieg gerade auf eine Hungersnot ungeheuerlichen Ausmaßes zusteuert. Auch in Palästina. Ausgerechnet im ‚Heiligen Land‘ dreier Weltreligionen, die sich auf die eine oder andere Art alle auf die Liebe als ethisch höchstes Gut beziehen, wird bis aufs Blut gekämpft und nicht verziehen. Charles Eisenstein ist einer der wenigen Karl Liebknechts unserer Zeit. Er mischt sich politisch ein, auch im US-Wahlkampf, sogar dort. Und er hat zu Palästina was zu sagen: Wie wir die Wunde von Gaza heilen können – durch Amnestie im Austausch gegen Entwaffnung.

Rote Linien im Unendlichen

Für einen solchen schweren Schritt zum Verzeihen – nicht Vergessen! – dessen, was ein Gegner dir oder deiner Wir-Gruppe angetan hat, braucht es den weiten Blick, von dem ich am Anfang dieses Blogeintrags gesprochen habe. Und es braucht zugleich den Mut, auf dem Hintergrund des Unendlichen, in dem dieser weite Blick versinkt, rote Linien zu ziehen: Ich bin ich, dieses Individuum. Ich habe das Recht, um mich herum rote Linien zu ziehen und sie gegen Übergriffe zu verteidigen. Hier sind wir, diese, meine soziale, ethnische, politische, auch nationale oder religiöse Gruppe, die sich aus Selbstfürsorge das Recht gibt, um sich herum rote Linien zu ziehen und sie mit Respekt gegenüber den roten Linien Anderer zu verteidigen. 

Das ist Spiritualität im Weltlichen. Die große, so unsäglich schwere Aufgabe, das Relative und das Absolute miteinander zu verbinden, mir der sich auch Ken Wilbers  Finding Radical Wholeness beschäftigt. Unsere Zeit braucht den weiten Blick, die Fähigkeit zum Transzendieren, sie braucht eine Religiosität ohne Religionen, ohne Lagerdenken und Parteilichkeit. 

Zum Thema des Ziehens von roten Linien vor dem Hintergrund des Unendlichen, bin ich vom 23.-25. August im Upleven »Hotel der Stille« an der Nordsee, wo der Blick vom Deich aus ins Unendliche des Meeres einlädt, sich diese Fragen zu stellen. Darf ich das? Und wie wirkt sich das auf den Wendepunk in meinem privaten, beruflichen oder politischen Leben aus, an dem ich gerade stehe? Weitere Infos und und die Anmeldung zu diesem Seminar gibt es bei mir.

Für die Mai/Juni Ausgabe von KGS-Berlin habe ich darüber geschrieben, ob es immer schlimmer oder immer besser wird und für die Zeitschrift Ursache\Wirkung über das Aufatmen am Meer an meinem Lieblingsort an der Nordsee. 

Veranstaltungen mit mir 

Am 28.6.24 um 19 h (bis 20.30h) beginnt die von mir angeleitete Einführung in Meditation in der Yogavilla Emsdetten. Die jeweils 90 min bauen aufeinander auf, können aber auch einzeln gebucht werden.

Vom 23. bis 25. August bin ich wieder mal im Upleven Hotel der Stille mit einem Seminar zum Thema: Wie soll es weitergehen? – Reorientierung an einem Wendepunkt im Leben. Diesmal speziell mit Fokus auf die Individualität vor dem Hintergrund des Unendlichen und der Frage, wie das Relative mit dem Absoluten, das Irdische mit dem Himmlischen zusammenhängt. Weitere Seminare im Upleven gebe ich 12.-15. Sept und 29. Nov bis 1. Dez.

Beim BeFree Tantra Sommerfestival vom 4. bis 8. September bin ich auch wieder dabei. Es ist im Jahreszyklus das BeFree Seminar, das am ehesten für Neueinsteiger geeignet ist, und es ist schon fast ausgebucht. Außerdem bin ich beim BeFree Herbstseminar vom 1. bis 6. Oktober dabei, das ist eher für Fortgeschrittene.

Mein nächstes Seminar im Benediktinerkloster Münsterschwarzach ist vom 24. bis 27. Februar. Dort geht es ums Ankommen. Die Beheimatung im Relativen, Vergänglichen: in unseren Beziehungen und in einer geliebten Lokalität; dabei der Übergang vom Fixpunkt »Dies ist meine Heimat« zur Dynamik des »Ich beheimate mich«. Und es geht um unsere Sehnsucht nach Geborgenheit, die im Relativen nie ganz erfüllt ist. Dieses ist von meinen Seminare das preisgünstigste, es kostet nur 140 € für die drei Tage + 210 € für U/V im EZ mit Dusche. Durch die Umgebung der mehr als 100 Benediktinermönche ist hier die Suche nach dem Absoluten in der Gestalt dieser ureuropäischen Tradition besonders spürbar.

thumbnail of banner seminar