In tantrischen Ritualen sprechen wir uns gerne mit »Shiva« und »Shakti« an, den Namen der höchsten Götter im traditionellen hinduistischen Tantra. Oder wir grüßen einander mit dem indischen »Namasté«, was übersetzt heißt: »Ich grüße das Göttliche in dir« oder »Ich verehre dich« – das Wort kommt aus dem Sanskrit von namas, Verehrung, und te, dich. 

Die zugehörige Geste der Hände ist aus vier- bis fünftausend Jahre alten Terrakotta-Statuen der Indus-Zivilisation bekannt, sie ist also vorarisch und damit nicht nur vorbuddhistisch, sondern auch vorhinduistisch. Sie hat sich im Lauf der Jahrtausende über fast ganz Asien ausgebreitet und wird heute kulturen- und kontinenteübergreifend verwendet, sowohl als Geste der Begrüßung und des Abschieds wie auch als Geste der Verehrung.

Tantriker sprechen aber auch manchmal genderspezifisch, dann sagen sie »Ich grüße den Shiva in dir« oder »Ich grüße die Shakti in dir«. Warum so dualistisch, sind wir nicht alle beides, das Männliche und das Weibliche? Die tantrische Antwort darauf wäre: Es erstreben zwar alle spirituellen Wege die Einheit, es ist aber auch die Zweiheit in der Einheit enthalten, die Trennung in Gegenpole. Das Leben schwingt immer zwischen Vielfalt und Einheit, Gegensatz und Einverständnis, Unterschiedlichkeit und Gemeinsamkeit, Yin und Yang, dem weiblichen und dem männlichen Prinzip.

Wenn wir einander im Tantra also als Gott und Göttin, Shiva und Shakti begrüßen, entsprechend den höchsten Gottheiten des hinduistischen Tantra, heißt das nicht, wir seien nun größenwahnsinnig geworden und sehen in dem Menschen, dem wir gerade gegenüberstehen nicht mehr die Person, sondern einen Gott oder eine Göttin. Wir hören mit dieser Art der Begrüßung nicht auf, unser Gegenüber in seiner einzigartigen weltlichen Persönlichkeit wahrzunehmen, sondern wir anerkennen und wertschätzen dabei den Wesenskern des Menschlichen im anderen, wir verehren ihn sogar. Sie bleibt dabei immer noch die Nadine und er der Axel, das leugnet oder missachtet dieser tantrische Gruß nicht, aber er sieht im Anderen nun nicht mehr nur die Person, das Persönliche, Individuelle, sondern auch den Archetyp, für den sie steht: das Weibliche, Männliche, Menschliche, Lebendige. Religiös ausgedrückt: das Göttliche. 

In ähnlicher Weise, an einigen Punkten ausführlicher, habe ich im Februar 2018 schon mal über das indische Namasté und die Tantra-Rituale im BeFree geschrieben.

»Den Richtigen« abkriegen

Bei den BeFree-Events von Regina Heckert hat sich eine besondere Form einer solchen transpersonalen Begegnung herausgebildet: das Wanderritual. Um die bei solchen Ritualen manchmal schwierige Partnerwahl zu vermeiden, die für die Teilnehmer eine Überforderung sein kann, hat sich die Zuweisung eines Ritualpartners per Zufall bewährt. Dabei muss niemand mehr befürchten »nicht den Richtigen abzukriegen«, denn dann schlägt sozusagen das Schicksal zu, der ‚heilige Zufall‘. Nicht mehr die Beliebtesten kriegen die Beliebtesten ab, wie sonst meist auf dem Markt der Möglichkeiten, sondern jeder hat gleich große Chancen. Jede Shakti ist dabei herausgefordert zu lernen, mit einem Gegenüber, den sie sich nicht ausgesucht hätte, ganz in die Wahrnehmung ihrer eigenen Gefühle zu tauchen und die eigenen Grenzen zu respektieren, die sie bei der Annäherung an diesen Partner hat. Ebenso jeder Shiva: Die Haltung, dass die Shakti, die ihm da gerade gegenübersitzt, genau »die Richtige« ist, hilft im dabei. Wer diese Haltung noch nicht hat, kann sie erlernen. Das Wanderritual ist eine Übung in dieser Haltung, eine Übung der Hingabe an das Göttliche aka Natürliche, an die Ordnung des Kosmos, wie sie sich jetzt gerade mir gegenüber zeigt.

Magie des Zufalls

In aufeinander aufbauenden Übungen werden im Wanderritual jedem Teilnehmer drei bis fünf verschiedene Partner per Zufall zugewiesen. Hierbei sitzen entweder die Frauen oder die Männer auf je einer Matratze im großen Ritualraum und warten darauf, dass ihnen eine ihnen unbekannte Person des anderen Geschlechts zugeführt wird. Wenn die Frauen die Wartenden sind, werden die Männer gut vorbereitet auf das Event zeremoniell und schweigend hereingeführt in »den Tempel«. Die Männer folgen dann den Pfeilen, die als Kreppstreifen zwischen die Matratzen auf dem Fußboden geklebt wurden, die zeigen ihnen den Weg, bis sie auf Anweisung zum Stehen kommen, jeder Shiva vor einer Shakti. Er sieht sie, und vielleicht kennt er sie, vielleicht auch nicht. Wenn sie eine Augenbinde trägt oder die Augen geschlossen hält, sieht sie ihn nicht und weiß nicht, wer da vor ihr steht. Sie weiß nur: Es ist ein Mann. Eine individuelle, einzigartige Inkarnation von Shiva.

Stellvertreter

Wie bei den systemischen Aufstellungen können wir auch im tantrischen Ritual die Menschen, denen wir begegnen, als Repräsentanten verstehen. Dann sind sie nicht mehr nur die Person, als die sie sonst im Leben gilt, sondern sie repräsentiert für den Betrachter, was dieser in ihr sieht. Er gibt ihr erst die Bedeutung, die sie für ihn hat. Sie kann in dem Shiva ihr gegenüber alle Männer sehen, denen sie je begegnet ist und noch begegnen wird, und er in der Shakti vor ihm alle Frauen, mit denen er je was zu tun hatte, zu tun haben wollte und noch haben wird. Dann ist diese Begegnung zugleich zeitlos und transpersonal. Und wenn ich beim »Wandern«, beim Wechsel zum nächsten Shiva oder der nächsten Shakti in diesem Ritual, mich von dieser Person wieder löse, ähnelt das dem ein Lösen von einer Figur, der ich als Stellvertreter in einer systemischen Aufstellung gegenüberstehe. Jetzt gerade, in dieser Aufstellung, in diesem Tantraritual, bin ich diese eine Facette des Menschenmöglichen. In der nächsten Aufstellung, ebenso wie hier im Ritual bei der nächsten Shakti oder dem nächsten Shiva, bin ich wieder ein anderer, eine andere Facette des Menschenmöglichen.

Das Transpersonale

So können diese Übungen helfen, sehr konkret, ein Verständnis des Transpersonalen in das eigene Selbstverständnis und das Verständnis der eigenen Beziehungen einfließen zu lassen, in das, was hinter der Person steht. Einst war mit dem »Person« die Maske des Schauspielers gemeint. Das Wort kommt es aus dem Griechischen (von prosopon) oder Etruskischen (von phersu) und ist über das Latein zu uns gewandert. Es bezeichnet das, was durch uns durch tönt (per-sona) im Sinne von: Wir sind ein Sprachrohr oder Lautsprecher, ein Kanal, durch den etwas tönt. Etwas, das schon vor uns da war und nach uns da sein wird, und das ohne uns besteht. Wir können es das Natürliche, Archaische oder Göttliche nennen, das Numinose oder Universelle oder einfach »es« sagen statt »ich«. 

Egal wie wir es nennen, es wirken Kräfte durch uns hindurch, die wir nicht erfunden haben, die wir in einem enger gefassten, individuellen Sinn auch nicht sind. Wir repräsentieren diese Kräfte nur und drücken sie auf individuell sehr verschiedene Weise aus, aber wir sind sie nicht in der Art, wie wir das Individuum sind, das unser persönlicher Name bezeichnet. Wir sind diese Kräfte in einem transpersonalen Sinn, so wie wir eben nicht nur die Petra und der Wilfried sind, die Ingrid und der Markus, die Leila und der Ahmed, sondern wir repräsentieren in allen diesen Figuren Shakti und Shiva, das archaisch Weibliche und das archaisch Männliche. Wir sind nicht nur die einzigartige, unverwechselbare Person, sondern auch das, was durch sie hindurch tönt und fließt, das Transpersonale.

Tantra in der Paarbeziehung

Das Wanderritual der Festivals, Seminare und Retreats des BeFree-Tantra ist nicht nur gut geeignet, Singles über den Rand ihres Partnersuchbilds hinausschauen zu lassen, es ist auch geeignet, Paarbeziehungen zu stärken. Denn jeder Mann begegnet in seiner Frau Shakti, die alle Facetten des Weiblichen enthält und sie in ihm Shiva, der alle Facetten des Männlichen in sich hat. So kann das Wanderritual in einer sonst flach, schal oder profan gewordenen Beziehung die religiöse Dimension wieder erwecken, die vielleicht nach der anfänglichen Verliebtheit im Lauf der Jahre verduftet ist. Oder es eröffnet diese Dimension überhaupt erst, wenn sie bisher noch nicht da war. Es kann sie stärken, fördern und erweitern. Wir können die Begegnung mit anderen Menschen in diesem Ritual als Erweiterung unserer Fähigkeit verstehen, im anderen mehr zu erkennen als nur das Gewohnte, das manchmal in Routinen Erstarrte, die den Eros vertreiben, die Neugier, die Freude, den Zauber des Anfangs. 

Du kannst das Wanderritual allein oder mit deinem ebenfalls wandernden Partner machen. Wer sich in einer Paarbeziehung befindet und sich durch solch ein Ritual erweitern will, sollte dabei mit seinem Partner vorher eine Absprache treffen, was genau dabei für das Paar die Grenzen sind, die in der Begegnung mit Dritten gelten, und die sollten auch eingehalten werden. Dann können beide dabei ihren Blick auf das erweitern, was sie im anderen sehen, zulassen können und so überhaupt erst mit ihm Partner erleben. Eine Aussage wie »Dass du auch das bist, das hätte ich ja nicht von dir gedacht! So kenne ich dich ja gar nicht« ist meist als Vorwurf gemeint. Man kann eine solche Aussage jedoch auch als Kompliment verstehen, denn wir sind alles: »Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd«, so nannte es der römische Dichter Terenz. Wir können durch solche Rituale die Grenzen unserer bisherigen Persönlichkeit dehnen und so noch attraktiver werden für unseren Partner, der dann nicht woanders suchen muss, um diesem Aspekt des Menschseins zu begegnen, er findet das bereits in mir. 

Jeder hat einen Marktwert 

Unsere heutigen Ehen und Lebensabschnittspartnerschaften ebenso wie die flüchtigeren unserer Beziehungen sind mehr denn je »dem Markt« ausgesetzt. Die Globalisierung und die modernen Technologien haben dazu geführt, dass wir heute mehr Optionen haben als je zuvor in der Geschichte. Das betrifft unsere Kultur: Musik, Filme, Sprachen, Bücher, für uns Europäer auch unseren Standort und unser Essen. Und eben auch die Partnerwahl. Sogar das Allerheiligste, die Wahl unseres Lebens- und Liebespartners, ist heutzutage freier wählbar als je in der Geschichte der Menschheit und damit mehr denn je Marktgesetzen unterworfen. 

Den steifen Wind des freien Marktes können wir lindern, indem wir uns abschotten, aber ganz draußen halten können wir ihn nicht. Wir können die Tatsache nicht leugnen, dass es auch anders ginge: Ich könnte auch mit jemand anderem, und das gilt auch für meinen Partner. Wie viele Optionen wir diesbezüglich haben, nennen wir das doch mal ganz nüchtern unseren »Marktwert« auf dem Beziehungsmarkt. Wie wir mit diesem Wert umgehen, ist ein wesentliches Kriterium unserer Beziehung. Schotten wir uns ab durch feste Versprechen, was geht und was nicht und was im Falle der Zuwiderhandlung bestraft wird, oder öffnen wir uns auch anderen Möglichkeiten? Wollen wir erforschen, ob das Sprechen, Tanzen, Küssen oder gar, Gott bewahre, der Sex mit jemand anderem besser ist? 

Mut zur Erweiterung

Allein der Gedanke, dass der Sex, die Liebe oder das Einander-Verstehen mit einem anderen Menschen besser sein könnte als mit dem aktuellen Partner, übt einen gewissen Druck auf die heutigen Partnerschaften aus, denn der Wechsel ist nicht mehr so schwer wie früher, als er für Frauen sogar lebensbedrohlich sein konnte. Diese Bedrohung durch die Möglichkeit verlassen zu werden kennen alle, nicht nur für die Mutigen, die bereit sind, sich auf tantrische Erfahrungen einzulassen. Wir können uns heutzutage weniger denn je mehr darauf verlassen, dass Gewohnheit und Bequemlichkeit schon ihre Pflicht tun werden, um unsere Beziehung zu schützen. 

Wer sich dieser Herausforderung an die Paarbeziehung stellen will, dem verlangt Tantra vielleicht zunächst etwas ab, das gefährlich erscheint und die Paarbeziehung erschüttert. Wer sich der Herausforderung an das »Erkenne dich selbst« dabei stellt, dem bietet Tantra jedoch das Gegenteil: eine Vertiefung der Beziehung und mehr Sicherheit, dass sie bleibt. Und auch das mehr Wahrhaftigkeit und Treue – zu sich selbst und dem Partner. Treue kann man ja auch als das Verweilen in einer Tiefe verstehen, in der »uns beide« nichts mehr trennt. In dieser Tiefe haben wir keine Angst mehr, den Partner zu verlieren. Manchmal ist es ja gerade diese Angst, die den Partner Abstand nehmen lässt, was dann irgendwann zur Trennung führt, zum Verlust des Geliebten. 

Wählen und erwählt werden

In den meisten Tantra-Workshops gibt es ebenso wie in anderen Selbsterfahrungsgruppen Übungen, bei denen wir aufgefordert werden, uns einen Partner zu wählen. Da können wir dann vorpreschen und haben mehr oder weniger Glück dabei, den oder die Erwählte zu bekommen. Oder wir warten und hoffen, dass wir von einem Menschen erwählt werden, der uns gut tut. In beiden Fällen kann das Transpersonale durchscheinen. Das Erwähltwerden ist dafür sogar noch geeigneter, weil wir dabei nicht selbst, nicht persönlich die Wahl getroffen haben, sondern eine Kraft außerhalb von uns selbst – im Falle des Rituals: eine Struktur außerhalb von uns – uns den Partner zugeführt hat. So wie ja auch in den meisten traditionellen Gesellschaften der Lebenspartner nicht von Braut oder Bräutigam selbst gewählt wurden, sondern von den Familien. Die Ausbeute an Lebensglück soll dort nicht geringer sein als bei den romantisch entstandenen Liebespartnerschaften, heißt es. Wir sollten die uns zugeführten Partner deshalb nicht als zweite, dritte oder zwölfte Wahl missachten, sondern dabei die Chance wahrnehmen, uns vom Archetyp des Weiblichen oder Männlichen berühren zu lassen, vom Transpersonalen, Göttlichen.

Was ist Tantra eigentlich?

Die Frage, ob Tantra ein Weg zur Vertiefung der Paarbeziehung, zur Heilung sexueller Wunden, zur Erweiterung des Lustempfindens oder zur spirituellen Befreiung ist, stellt sich in der Praxis nicht. In der Praxis ist es mal dies, mal das und insgesamt alles von dem Genannten. Die Frage stellt sich nur theoretisch, das heißt, wenn wir uns damit weltanschaulich verorten wollen oder versuchen, die Übungen anderen zu erklären, die sowas noch nie gemacht haben. In der Praxis spüren wir unsere Wünsche und Begierden, unsere Lüste und unsere Ängstlichkeit ebenso wie unsere spirituellen Sehnsüchte und Ekstasen und gehen damit mehr oder weniger profan oder spirituell um. Und all das hat immer mit dem zu tun, wer wir persönlich sind und zugleich mit dem, was durch unsere jeweilige, einzigartige Person aus dem transpersonalen Raum durch uns hindurchströmt und hindurchscheint.