Heute ist zwar für fast alle auf der Welt offiziell Heiligabend, aber auch an einem solchen Kult-Tag sage ich: Das Offensichtliche versteckt sich, indem es überall ist. Es ist in allem sichtbar, hörbar, fühlbar, deshalb bemerkt man es nicht. Und für diejenigen, die es personal mögen, dazu zählen die Theisten: Gott versteckt sich im Großen, Ganzen. 

Ja, es ist möglich

Rilke schreibt: »Ist es möglich, dass man Jahrtausende Zeit gehabt hat, zu schauen, nachzudenken und aufzuzeichnen, und dass man die Jahrtausende hat vergehen lassen wie eine Schulpause, in der man sein Butterbrot isst und einen Apfel?

Ja, es ist möglich.

Ist es möglich, dass man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens geblieben ist? Ist es möglich, dass man sogar diese Oberfläche, die doch immerhin etwas gewesen wäre, mit einem unglaublich langweiligen Stoff überzogen hat, so dass sie aussieht, wie die Salonmöbel in den Sommerferien?

Ja, es ist möglich.

Ist es möglich, dass die ganze Weltgeschichte missverstanden worden ist? …

Ja, es ist möglich.«

Mystik ist das Einfachste

Das muss man erstmal schlucken, sonst kann man das Einfache nicht verstehen. Und von dem Einfachen muss man ausgehen, um das Schwierige zu verstehen. Wie Menschen miteinander umgehen und wie man deren Zusammenleben organisiert, das ist das Schwierige: Gesellschaft, Politik, Ethik. Mystik hingegen ist sehr einfach, sie ist das einfachste, was es gibt. Religion ist nur das, was schlaue Leute im Umgang mit den Massen Leichtgläubiger daraus gemacht haben. 

»Imagine there’s no heaven. It’s easy if you try. No hell below us, above us only sky« (John Lennon), das ist ganz einfach. Das wahrnehmen, was unzweifelhaft da ist, für das man keine Autorität, keinen anderen Menschen und kein Buch braucht, um es für wahr zu halten, das ist die Basis. Alles, was Menschen sagen, was kulturell tradiert und anerzogen wird, das hingegen ist bezweifelbar und sollte auch bezweifelt und hinterfragt werden. 

Interpretationen und ihre Folgen

Was wir erleben, das können wir nicht bezweifeln, wie erleben es ja. »Aber ich habe die Jungfrau Maria doch zu mir sprechen hören« (oder Ramtha oder Allah). Oder: »Ich habe diese UFOs tatsächlich gesehen!« Oder »Ich habe genau gehört, dass du das zu mir gesagt hast!« — hier beginnt der Irrtum, denn die Erinnerung verfälscht das Erlebte, und das angeblich Gesehene oder Gehörte ist meist sogar schon während des Erlebnisses Ergebnis eines das Wahrgenommende interpretierenden Filters. 

War es wirklich Allah, der damals auf dem Berg in der arabischen Wüste zu Mohammed gesprochen hat, vor gut 1300 Jahren? Da war eine Stimme, die für ihn aus dem Wolken zu kommen schien, und ihm drängte sich der Eindruck auf, dass das die Stimme Gottes sein müsse – eine Interpretation mit gewaltigen Konsequenzen. Mehrere Milliarden Menschen nach ihm haben ihr Leben daraufhin so ausgerichtet, dass sie gemäß dieser von einem anderen Menschen gechanneltern Botschaft in den Himmel kommen und nicht die Hölle – was auch beides nur tradierte Konzepte sind.

Woran wir glauben

Wir müssen zurück zu den Grundlagen, back to the basics. Woher kommt Religion überhaupt? Woher kommen unsere Überzeugungen über das Leben und unser Zusammenleben, wie es sein sollte? Schon darüber »wie es ist«, lässt sich kaum Einigkeit erzeugen, weil Begriffe das prägen, was wir zu erleben glauben. 

Wir müssen zurück zu dem, was vor den Begriffen da war und von dort aus nochmal ganz von vorne anfangen mit dem Aufbau der Gesellschaft und dem, »woran wir glauben«. Mit dem, was jeder für sich glauben will, das darf ja weitgehend privat bleiben (vielleicht abgesehen von therapierbaren Gewaltphantasien) – und das, worüber wir uns einig sein wollen und vielleicht auch müssen, weil das unserem Zusammenleben nützt oder ein friedliches Zusammenleben sogar voraussetzt.