Pädagogen, Psychologen, Psychotherapeuten und Heiler sprechen von Kopf, Herz und Hand oder von Körper, Herz und Seele. Die Wissenschaft aber spricht nur von Materie und Geist, dem Physischen und dem Psychischen, etwas Drittes fehlt da. Auch für Romanautoren, Drehbuchschreiber, Liedtexter gibt es Herz und Seele, nicht aber für die seriöse Wissenschaft. Hat die Wissenschaft da etwa einen wichtigen Bereich des Menschlichen übersehen? Vielleicht sogar den wichtigsten Bereich? So dass dieser den Poeten, Heilern, Sängern und Heiratsschwindlern überlassen bleibt? 

Was wissen wir vom »Herz«?

Das Herz ist das weltweit, transkulturell meist verwendete Symbol. Jeder weiß, was es bedeutet – mehr oder weniger wissen wir das. Warum weiß die Wissenschaft es nicht? Warum erforscht sie es nicht, wenn sie es nicht weiß? Warum gibt es an den Universitäten keine Lehrstühle für Liebe, Herz, Verbundenheit, Zugehörigkeit, Geborgenheit, Vertrauen, Heimat? Die Bestseller der Literatur haben das zum Thema, in der Wissenschaft fehlt es. Für die Wissenschaft ist es interessanter, dass der Käfer Scarabaeus sacer (Heiliger Pillendreher) sich von Kot ernährt oder die Frage, ob ein Elementarteilchen Rechts- oder Linksspin hat. Das psychische, spirituelle, seelische oder poetische Herz der Liebenden, das erforscht sie nicht. Und für das physische Herz hat sie die Kardiologie. 

Aber auch die Wissenschaft bewegt sich. Seit ein paar Jahren gibt es in der Soziologie den Begriff des »Othering«, der das »Fremdmachen« bezeichnet. Um einen Menschen oder eine Kultur als fremd zu empfinden – als Nicht-Ich oder Nicht-Wir – braucht es einen gewissen psychischen, im Kollektiven auch sprachlichen Aufwand: das Othering. 

Und dann gibt es den Begriff des Narrativs. Auch der ist noch relativ neu, aber er hat bereits jetzt einen phänomenalen Aufstieg vollzogen, um den ihn andere Begriffe beneiden: Nicht nur in den Geisteswissenschaften (humanities) hat »Narrativ« eine stolze Karriere hingelegt, sondern auch im Journalismus. Fast schon ist dieses Wort ein Alltagsbegriff auch unter nicht akademisch Gebildeten geworden. Jedenfalls klingt es viel seriöser als »Herz« oder »Herzverbindung«. 

Obwohl auch geschäftliche Briefe immer häufiger statt »Mit freundlichen Grüßen« mit herzlichen Grüßen enden oder sogar »Herzlichst«. Ist herzlich überhaupt steigerbar? Von herzlich zu herzlicher bis zum Allerherzlichsten? Wenn »herzlich« nicht nur ein qualitativer Begriff ist (etwas ist entweder herzlich oder nicht herzlich), sondern auch ein komparativer (etwas kann mehr oder weniger herzlich sein), dann ist der Begriff auch steigerbar, soweit klar. Wenn denn die Wissenschaft sich ihm endlich zuwenden würde, ist er dann vielleicht irgendwann auch quantifizierbar, messbar? Warten wir’s ab. Und hören unterdessen weiterhin kitschige Schlager und sind standhaft gegenüber dem Phishing, das unsere Mail-Boxen bespamt, und versuchen weiterhin im sozialen Nahraum echt, liebevoll und echt liebevoll zu sein. 

Narrative beheimaten uns

Nun zu meiner These – meinem Konvolut miteinander verbundener Thesen: Narrative sind es, was uns beheimat und zugehörig fühlen lässt. Sie geben uns Menschen die Geborgenheit der Liebe – im gemeinsamen (shared) Narrativ fühlen wir uns geliebt und dürfen lieben. Das Narrativ gibt uns die relative Liebe. Die bedingungslose, absolute Liebe gibt es nur im Transnarrativen. 

Identität und ihr emotionaler Aspekt der Beheimatung sind eine Performance auf der Bühne des Kontinuums.

Die Unterscheidung von einerseits der relativen, irdischen, andererseits der himmlischen, absoluten Liebe ist überaus hilfreich, ungefähr so sehr wie die zwischen Fakt und Fiktion. Wer beides vermanscht, hat Probleme. Das heute so häufige und oft erfolgreiche Romance Scamming ist ein Missbrauch der magischen Anziehung dessen, was wir mit Liebe meinen. Die deutsche Wikipedia schreibt hierüber: »Dem FBI sind für 2011 rund 50,3 Millionen Dollar gemeldet worden, die US-Bürger an afrikanische Romance Scammer transferiert haben. Die Opfer waren zu rund 80 % weiblich und überwiegend über 40 Jahre alt.« Da viele sich zu sehr schämen, Opfer eines solchen Schwindels geworden zu sein, ist die Dunkelziffer hoch. Auch in Deutschland ist das die moderne Form des Heiratsschwindels. Die Kripo warnt davor, die Betrüger sind nicht schwer zu identifizieren, aber wenn die Sehnsucht groß ist und die Einsamkeit quält, fallen wir auf solche Angebote eben doch ziemlich leicht rein.

Ähnlich läuft es, wenn Gurus Liebe predigen und die faszinierten Schüler:innen dann sexuell oder finanziell für sich benutzen. Von Sai Baba (»Meine einzige Religion ist die der Liebe«) ist das bekannt. Aktuell zeigt die HR-Reportage Just Love vom 20.1. es in Bezug auf den im Taunus residierenden Guru Vishwananda (leider medientypisch skandalisierend aufgezogen, aber gut recherchiert und thematisch punktgenau treffend). Von katholischen Priestern ist seit Jahren Ähnliches bekannt, denn wir wissen ja, dass wir Gott näher kommen, wenn wir uns einer Vertrauensperson wie einem zölibatären Priester hingeben. Oder hat da jemand Zweifel? 

Es gibt auch reichlich andere soziale Kontexte, bei denen es kaum anders läuft, auch außerhalb des »spirituell« oder religiös genannten Bereichs. Zudem ist bekannt, dass das Durchhaltevermögen von Soldaten an der Front, im militärischen Kontext »Moral der Truppe« genannt, weniger vom Hass auf den Feind abhängt als von der Liebe zu den Kameraden, wie etwa Rutger Bregman es einleuchtend in seinem Buch »Im Grunde gut«beschreibt 

Heißt Demokratie, den Lokführer auszutauschen?

Jetzt wieder zur großen Politik (das Private ist ‚die kleine Politik‘). Als ich am 2. Dezember im Newsletter von statista las, dass die »mass shootings« (Vorfälle mit 4 oder mehr Toten u./o. Verletzten), die 2019 in den USA bei 465 lagen, im laufenden Jahr (2021) schon jetzt bei 652 liegen, und dass die Waffengewalt in den USA seit Jahren ansteigt, ausgehend von einem schon sehr hohen Niveau, musste ich an den Kabarettisten Volker Pispers denken, der 2014 im ZDF die USA als »Kapitalismus im Endstadium« bezeichnet hatte, und beim nochmal Anschauen von Pispers Auftritt von 2014 gruselte mir ob dessen geradezu hellsichtiger Vorausschau. 

Allerdings bin ich nicht der Ansicht, dass Pispers mit seiner damaligen Kritik am Kapitalismus das vorweg nahm, was heute an den Coronamaßnahmen zu kritisieren ist. Auf seiner Webseite distanziert er sich im Februar 2021 ausdrücklich von den heutigen Querdenkern.

Vielleicht hätte ihm gefallen, was Annette Dittert in Politik der Lüge über Boris Johnson und den Niedergang der Demokratie schreibt, über die Erosion der Wahrheit und Verlässlichkeit in populistisch regierten Ländern. Sie zeigt diesen Niedergang am Beispiel von Großbritannien, das einst Wiege der Demokratie war im Europa der Neuzeit. 

Umgang mit Andersdenkenden

Was das Pro und Contra Impfung anbelangt, bin ich bisher dem wissenschaftlichen Mainstream gefolgt. Unter meinen Lesern begrüßten die Mitläufer des Mainstreams diese Entscheidung von mir mit »Endlich zeigt er Kante«, endlich laviert er nicht mehr und verweist nur auf das Transnarrative. 

Mit diesem Applaus fühle ich mich allerdings ebenso wenig wohl wie mit dem der Querdenker für meine nonkonforme Haltung, denn, wie ich schon sagte: Auch der Mainstream kann sich irren. Was er nun allmählich, Stück für Stück ein bisschen zurückrudernd, anscheinend auch in Bezug auf die Coronamaßnahmen zugibt. Oder haben wir hier eine Spirale eskalierender Opferungen zu befürchten? 

Nach wie vor stellt sich gerade in Sachen mRNA-Impfung für beide Lager nicht nur die Frage nach der Wahrheit, sondern auch die nach einem guten Umgang mit Andersdenkenden. US-Autor Adam Grant ist hierzu kürzlich von Xing interviewt worden und gibt, wie ich finde, vorbildliche Antworten: »Begegne Andersdenkenden so neugierig wie einem Außerirdischen«. 

Geht das auch in Österreich, im Land der Ibiza-Affäre und der Impfpflicht? Auch in diesem Land ist nicht alles dunkel, und man stößt gelegentlich auf gute Nachrichen, wie etwa diese: In Österreich kosten seit Oktober per Jahresticket alle Öffis nur 3 €/Tag. Damit lässt sich doch viel leichter auf ein Auto verzichten. V.a. für Pendler dürfte das was sein. Und für den Urlaub leihen wir uns ein Wohnmobil …

Mehr Nichts

Nun zwei Links für die an Spiritualität Interessierten: »Mehr Nichts!«. Gerd Scobel sprach im September mit Tobias Esch über das Nichts und den Umgang mit Krisen: Tobias Esch und Gerd Scobel im Dialog (1 h 30 min).

Und eine zeitgemäße, mich faszinierende Neuinterpretation des Daodejing (Tao de King) von Stephan Schwartz.

Veranstaltungen mit mir

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Diese Visions-Woche vom 20. bis 26. Juni 2022 in der Nature Community, Schönsee wird von Pea Krämer und mir geleitet. Seminarkosten: 950,-€/850,-€/699,-€ (Normalpreis/Frühbucher/Student*innen). Zzgl. U/V-Kosten, zu buchen bei der Nature Community. 
Unsere Empfehlung: Lies vorher das Buch mit dem Goldfisch auf dem Cover, der sich eine Haifischflosse umgeschnallt hat.

Am WE 25.-27.  September gibt es endlich wieder einen Humorworkshop mit mir, diesmal im schönen Luzern am Vierwaldstätter See in der Schweiz. Er geht von Fr 19.30 hbis So, 16 h und kostet 290 CHF. Ort: San Telmo, Geissensteinring 41 B, linker Eingang, CH-6005 Luzern. Info & Anm. über Marita Capol, marita.capol@bluewin.ch.