Seit Anfang dieses Jahres plane ich ein Tantra-Ritual. Anlass war, dass Regina Heckert mich beauftragt hatte, für die Abend-Veranstaltungen im Rahmen der BeFree Tantra-Events ein Ritual zu entwickeln, das durchaus etwas Neues sein dürfe, ich solle da mal meine Kreativität spielen lassen.

Tantriker wenden sich ja seit langem dankenswerterweise den bei Massagen und Zärtlichkeiten zu oft ausgelassenen und keusch umkreisten Genitalbereichen Yoni und Lingam zu. So weit, so gut, dachte ich, aber es gibt doch »obenrum« auch noch was, das Beachtung verdient und Liebe, Zuneigung, Zärtlichkeit auszudrücken imstande ist: den Mund. Daraufhin habe ich mir das Kussritual ausgedacht. Es besteht in einer langsamen, respektvollen Annäherung zweier Menschen zueinander und kann vom Blickkontakt über das einander Beschnuppern bis zum Mund-zu-Mund-Kuss gehen. So würdigt es nach dem Sehen und Hören auch die anderen drei Sinne: das Riechen, taktile Fühlen und, wer will, auch das Schmecken.

Inzwischen habe ich dieses Ritual zwei Mal anleiten dürfen: im »Sommertreff« im Seminarhaus Pointner in Reith bei Kitzbühel und dann auf dem Tantra-Festival In der Nature Community bei Schönsee in der Oberpfalz. Durch die Bekanntschaft mit einer Movement Medicine Lehrerin bekam ich Kontakt zu einer jungen Frau namens Sonya, die in etwa derselben Zeit wie ich in tantrisch-polyamoren Kreisen ein Kussritual entwickelt hatte und es u.a. dieses Jahr während des Pfingstfestivals im ZEGG inszeniert hatte. Es ist dem meinen ähnlich, ohne dass wir voneinander wussten. Manchmal ist die Zeit eben reif für etwas, das in der Luft liegt, und es kommt an verschiedenen Orten zum Vorschein, in jeweils individueller Prägung. 

Kuss-Aktivismus

Sonya ist in politisch aktiveren Kreisen beheimatet als die meisten Tantriker und nennt ihr Ritual »Kuss-Aktivismus«. Das erinnerte mich an Eve Enzlers One Billion Rising und, mehr noch, an die ukrainische, feministische Gruppe der Femen. Beide Gruppen betrachten Sexualität als etwas nicht nur Privates sondern eminent Politisches, das politische Aktionen erfordert. Im Falle der Femen wurde bei den Demonstrationen mit ihren Oben-ohne-Aktionen auch Erotik eingesetzt, was ihnen rasend schnell Medien-Aufmerksamkeit brachte. Sonyas Kuss-Aktivismus wird bisher nur in kleinen Kreisen praktiziert. Wer weiß, vielleicht kann das, ähnlich der Free-Hugs-Campaign, noch deutlich größer werden.  

Sonyas Art des nicht-privaten Küssens bezieht zwei Sachen ein, die für mich neu waren: das bewusste Bezeugen eines Kusses und das Widmen. Vor allem das Widmen des Kusses kann aus ihm ein »Gebet« machen, eine Hingabe an etwas Größeres. Etwas, das größer ist als nur der Genuss (oder die romantische Zweierliebe und lokale Beziehung) zwischen den beiden sich Küssenden. Es verleiht dem Kuss eine spirituelle Dimension oder verstärkt diese.

»Kuss-Gebet« in sieben Schritten

Sonyas Kuss-Aktivismus geht in etwa so vor sich: Man befragt einen oder mehrere der Umstehenden, ob sie einen Kuss zwischen A und B bezeugen wollen. Dann sprechen die beiden, die sich küssen wollen, als erstes über ihre persönlichen Wünsche und Grenzen, wo sie dabei berührt werden wollen und wo nicht, ob mit oder ohne Zunge, also »ganz praktisch«, wie Sonya betont. Zweitens teilen sich die beiden ihre persönliche Absicht mit, wie etwa dabei ganz langsam vorzugehen, oder die eigene wilde Seite zuzulassen, oder mit dem Herz verbunden zu bleiben oder sich dabei in die Augen zu schauen oder den Atem nicht zu vergessen. Das beschreibt die beabsichtigte Qualität des Kontakts, und dies dürfen oder sollen auch die Zeugen mitbekommen.

Dann kommt der Teil, der diese Art des Küssens noch deutlicher zum Kuss-Aktivismus macht: Die Widmung an etwas Größeres, das sich außerhalb der beiden befindet. Etwas, wofür die beiden sich leidenschaftlich engagieren, wie etwa sauberes Wasser, ein bestimmtes Projekt, die Gesundheit der Bienen, gute Schulen für Kinder oder die Klimawende – etwas Globales, dem sie den Kuss widmen wollen. Diese Widmung wird nun einander und den umstehenden Zeugen mitgeteilt, so dass diese sie in ihrem Herzen mittragen können. Dann folgt als fünfter Schritt der Kuss, der nun auch Kuss-Gebet genannt werden kann. Als sechster Schritt teilen sich die beiden mit, wie das Küssen für sie war und was sie dabei empfunden haben. Als siebter Schritt werden nun auch die Zeugen eingeladen zu sagen, wie es für sie war, auch das sei ein wesentlicher Teil des Rituals, sagt Sonya.

Mitmachen soll bei diesem Ritual nur, wer es wirklich will und mit ganzem Herzen dabei ist, erst dann entfaltet sich die Magie des Kuss-Aktivismus vollständig. Es wichtig, das alles bewusst zu tun und langsam, auch das betont Sonya, und ich kann das nur bestätigen. Du kannst dabei jederzeit aussteigen, wenn es für dich nicht mehr stimmt, und du solltest bei alledem der Frage treu bleiben: Bin ich wirklich noch dabei? Mit mir selbst, mit dem anderen, mit der Welt? Wenn nicht: stop!  Wer A gesagt hat, muss nicht B sagen. Auch beim Küssen bleiben wir freie, souveräne Wesen, die für ihre Entscheidungen selbst verantwortlich sind und sich nicht einem Strom unausweichlicher Konsequenzen hingeben wollen.

Sich verbinden

Das Internet kann nicht nur Mobbing unterstützen und unser Bedürfnis nach Empörung und Polit-Drama mit Trumps Twitter-Gepolter bedienen. Es kann nicht nur, ebenso wie das Fernsehen, unser nationales Mitgefühl politisch korrekt anticken durch einen in Kenia umgestürzen Reisebus mit Touristen, in dem auch zwei Deutsche aus Wanne-Eickel saßen, deren Kinder nun trauern, es kann auch echte Verbindungen schaffen. Zum Beispiel sowas, wie dieser kurze Film von Tatia Pilieva es zeigt, über den ersten Kuss von zwanzig einander Fremden, die sich vorher nie gesehen und nie getroffen hatten und die, als die Kamera begann ihren Kuss aufzunehmen, voneinander nicht mal die Namen wussten: The First Kiss. Oder sowas, wie Max Raabe es in seinem Lied »Küssen kann man nicht alleine« besingt.

Sechzehn Schritte

Das von mir entwickelte Kuss-Ritual könnt ihr in Regina Heckerts BeFree-Retreats erfahren. Es lädt zu einem ganz langsamen einander näher Kommen ein, atembewusst, mit Augenkontakt, einander beschnuppernd, bis hin zum tantrischen Wechselatem und, wer so weit gehen will, dem Küssen auf den offenen Mund. In 16 Stufen der Annäherung sind die beiden angehalten einander deutliche bis überdeutliche Signale zu geben: weiter so, ich will mehr; gehe bitte einen Schritt zurück; gut so, aber erstmal nicht weiter. Dank der Ideen von Sonya kann der Kuss auch in dem von mir entwickelten Ritual nun einem höheren Zweck gewidmet werden und so zum Gebet werden. 

Die Choreografie

Und die Zeugen? Bei den meisten Ritualen im europäischen Neo-Tantra ist man nicht allein im Raum. Insofern gibt es da bereits Zeugen, auch wenn diese meist mehr mit sich beschäftigt sind als mit dem, was sie von den anderen sehen und hören. Das Zuschauen und Zuhören anderer ist jedoch ein wichtiger Teil jedwedes sozialen Geschehens und kann, so wie in Sonyas Kuss-Ritual, auch fokussiert unterstützend eingesetzt werden. Jedes Paargeschehen ist ja immer auch in eine soziale Umgebung eingebettet, die dem wohlwollend gegenübersteht oder eben nicht. Ein solches Wohlwollen lässt sich – ja, tatsächlich, das geht – choreografisch erzeugen ohne dadurch unauthentisch zu werden. Gute Inszenierungen können tief in uns schlummernde Anteile hervorholen, denn … eigentlich bin ich ganz anders, ich komme nur so selten dazu.

Widmung und Hingabe

Sich zu küssen und zu lieben kann sehr genussvoll sein – wenn wir es freiwillig tun, ist es das meistens. Wir sind als Menschen jedoch nicht nur Genießer unserer fünf Sinne. Wir sind auch Wesen, die das Bedürfnis haben, sich zu engagieren, zu binden, mit etwas zu identifizieren und in dem, was wir tun, einen Sinn zu finden. Auch in der Liebe, auch im Sex. 

So wie Maik Hosang es in seinem Roman »Eves Welt – Liebe in Zeiten des Klimawandels«, schmunzelnd überzeichnet, in dem er eine junge Frau mit einen Schild in der Hand an der Straße stehen und zu trampen versuchen lässt: »Will Richtung Bern und 100 Euro für Greenpeace. Biete dafür eine Nacht mit mir!« 

Wir sind eben nicht nur Lustmolche und -nattern und nicht nur wirtschaftlich eigennützig denkende Menschen (homo oekonomikus) sondern auch Sinnsucher. So sehr, dass Menschen, die das Leben als sinnlos empfinden, sich zu Tausenden jedes Jahr freiwillig in den Tod befördern – es gibt in Deutschland jedes Jahr mehr als 10.000 Suizide, das sind ungefähr drei mal so viel freiwilig aus dem Leben Scheidende wie Verkehrstote, wegen der Dunkelziffer könnten es auch fünf Mal so viele sein.

Das Beste, was es gegen ein sinnloses Leben gibt, ist Liebe. Wenn wir unsere Liebe dann auch noch über dich und mich hinaus ausdehnen in ein größeres Ganzes, vom Eros in Richtung Agape, dann ist das individuelle Glück für dich und mich noch größer. Es tut so gut, auch für andere da zu sein, nicht nur für sich selbst und sogar: nicht nur für dich und mich. Die Widmung eines Kusses kann ein Zeichen in diese Richtung sein. (Und wenn es das für dich nicht ist, auch okay, wir Menschen sind eben verschieden, auch in dieser Hinsicht. Kussverweigerer oder Kusswidmungsverweigerer sind nicht ‚unspirituell‘ 😇).

Körperflüssigkeiten, igitt ….

Nun noch ein paar Worte zu dem, was uns darin hindert, Fremde zu küssen. Es scheint mir vor allem der Ekel vor dem Fremden zu sein. Ekel ist ja grundsätzlich ein biologisch-hygienisch sinnvolles Gefühl, zudem eines unserer Grundgefühle. Es hält uns generell davon ab, den Körperausscheidungen eines anderen Menschen, teils auch den eigenen, mit zu großer Neugier zu begegnen. Kindern in den ersten zwei, drei Jahren geht das noch nicht so. Sie lassen sich von den Erwachsenen ohne Scheu auf den Mund küssen und betrachten mit Neugier ihre eigenen Ausscheidungen. Ekel ist zwar ein Grundgefühl aller Menschen, es ist uns angeboren, die Objekte des Ekels aber sind weitgehend oder sogar ganz sozial konditioniert. 

Erstaunlich, dass wir im Falle von Liebe und Verliebtheit dem geliebten Menschen gegenüber kaum mehr Ekelgefühle empfinden. Ich wiege ein Baby auf meinen Armen und spüre dabei plötzlich eine warme Flüssigkeit, die meinen Ärmel nässt – ohne ein Gefühl von igittigit. Ich küsse einen Menschen, den ich liebe, sie öffnet dabei sogar ihren Mund und lässt ihre Zunge mit der meinen spielen – kein Ekel, sondern erotische Erregung. Auch Kranken- und Altenpfleger begegnen beim Betreuen der ihnen anvertrauten Menschen Ekelgefühlen und müssen lernen, damit irgendwie umzugehen – ohne Liebe ist diese Arbeit kaum zu machen.

Bewusstmachen hilft

Vom individuellen Interesse daran, gewisse Menschen zu küssen mal abgesehen, interessiert mich das Küssen auch kulturgeschichtlich, biologisch und sozialtherapeutisch, und ich halte es nach wie vor für wissenschaftlich zu wenig untersucht und therapeutisch unterbewertet. Mein kleiner Beitrag dazu ist nun das Kussritual. Aber auch denen, die weniger von Größenwahn getrieben weltrettend unterwegs sind als ich, möchte ich empfehlen, das Kontakt- und Lustpotenzial des Küssens eingehender zu erforschen. Und dabei auch eventuell auftretende Abwehr- und Ekelgefühle zuzulassen und sich bewusst zu machen – die Verdrängung von Gefühlen ins Unbewusste war noch nie eine gute Strategie. 

Wahnsinn, Zivilcourage, Vorhut?

Die Urform dieses Textes über das Küssen hatte ich Anfang August kurz in mein Blog gestellt. »Das darfst du auf keinen Fall veröffentlichen!!! Nimm das wieder raus!!!« rieten mir zwei meiner besten Freunde, auf deren Urteil ich viel gebe. Ihr Hauptargument dagegen: Ich würde etwas höchst Intimes politisch instrumentalisieren und dadurch entweihen. Mein Gegenargument, dass doch alles Private auch politisch sei und ich die Verantwortung des sich hier zeigenden und öffnenden Menschen beim Individuum ließe, ohne jegliche kollektive Nötigung oder auch nur ein Nudging, half mir nicht, ihre Einwände abzumildern. Ihre Reaktion erschreckte mich so sehr, dass ich den Text tatsächlich zurückzog, um ihn nochmal zu überdenken. 

Nun veröffentliche ich ihn trotzdem, ergänzt durch den Abschnitt über den Ekel plus ein paar Kleinigkeiten. Ich habe ihn in der Essenz nicht abgemildert und warte nun gespannt auf das weitere Feedback. Grundsätzlich finde ich es durchaus in Ordnung, dass mich Freunde vor einem Schritt in den Wahnsinn oder einem zu krassen Vorpreschen in Richtung politischer Unkorrektheit bewahren. Andererseits braucht es eben auch Menschen, die sich was trauen und damit unter Umständen als Abweichler oder Pioniere eine positive Neuentwicklung fördern, ehe sie massenkompatibel ist.