Wo das Enneagramm genau herkommt, darüber gibt es nach wie vor mehrere (teilweise widersprüchliche) Theorien und Meinungen. Seine ursprünglich spirituellen Wurzeln zieht dabei niemand in Zweifel. Mir selbst scheint am plausibelsten, dass der armenische Weisheitslehrer Georg Iwanowitsch Gurdjieff (1866-1949) es in seinen Grundzügen in einer islamisch-mystischen Sufi-Tradition kennen gelernt und im Rahmen seiner eigenen Lehrtätigkeit dann in den Westen transportiert hat.
Verwendung des Enneagramms
Über die richtige Verwendung dieses alten Modells gibt es unterschiedliche Auffassungen: Manche seiner Anhänger sehen in der Abfolge der Nummern 1 bis 9 eher die Beschreibung eines transformatorischen Prozesses, andere erkennen darin eine Persönlichkeits-Typologie, die auf neun verschiedenen Motivationskräften, den so genannten „Leidenschaften“ basiert. Ich selbst betrachte Lehren (welchen Ursprungs auch immer) eher als eine Art „Landkarte“ und gestehe jedem Anwender die Freiheit zu, sie so zu benutzen, wie er es als sinnvoll empfindet. Am Beginn der Beschäftigung mit dem Enneagramm steht meist ein Bedürfnis, sich mit einem (oder mehreren) Punkt(en) auf dieser Karte zu identifizieren und sich in seinen Besonder- und Eigenheiten in diesem Spiegel wieder zu erkennen. Dann kommt aber meist bald die Frage auf, wie es nun weiter geht. Meist wird diese Suche von einer Sehnsucht nach Wandlung und Befreiung aus Einengungen begleitet. Wenn wir nun dran bleiben, kann sich eine innere und äußere Entwicklung entfalten, die als ein „spiritueller Weg“ bezeichnet werden kann – ein Weg, auf dem Verwandlung und Heil-Werden geschieht. Einige Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten auf dieser „Reise“ möchte ich hier nun beschreiben.
Schulung von Mitgefühl und bedingungsloser Liebe
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, hat uns Jesus als höchstes Gebot gelehrt. Dafür, wie das ganz konkret gehen kann, bietet der Umgang mit dem Enneagramm einige Lernfelder. Es kann uns dabei unterstützen, zu wirklich liebenden Menschen zu werden. Liebe hat viele Qualitäten. Zwei davon möchte ich hier ein wenig genauer betrachten und in den Zusammenhang mit dem Enneagramm stellen. Zunächst die Qualität des mitfühlenden Herzens. Wenn wir ins Mitgefühl gehen, erlauben wir eine spürende Resonanz zu Freud und Leid anderer Menschen und auch zu uns selbst. Wir öffnen uns für Gefühle und Schwingungen und lassen uns davon berühren. Mit-Fühlen ermöglicht, dass verschlossene und versteinerte Herzen sich wieder öffnen und Heilung und Versöhnung geschehen können. Das Enneagramm kann ein solcher Türöffner werden, wenn wir mit seiner Hilfe das Unverständliche und Fremde an den Handlungen und Beweggründen anderer Menschen genauer wahrnehmen und in der Tiefe ihrer Beweggründe verstehen lernen. Die bedingungslose Liebe hat noch eine andere Qualität. Sie ist das radikale „Ja“ zu allem: Zu dem, was schmerzt, zu dem was freut, zu dem, was wir gewöhnlich ablehnen und aus unserem Leben verbannen wollen. Das bedingungslose „Ja“ akzeptiert, was sich jetzt zeigt und will nicht ändern.In der Enneagramm-Arbeit sagen wir erstmal „Ja“ zu dem, was ist. Wir lassen es stehen und erforschen es, ohne zu werten und zu verurteilen. Diese Lernerfahrungen ermöglichen, mich und andere dann immer mehr genau so sein zu lassen, wie wir geworden sind.
Der „Gang durch die Wüste“ in der Enneagramm-Arbeit
Im Spiegel des Enneagramms entdecken wir nicht nur Angenehmes. Unsere Schatten-Aspekte und inneren „Dämonen“ springen uns deutlich ins Gesicht – wegsehen ist nicht mehr möglich. Wie können wir uns ändern? Ist dann die Frage, die auftaucht. Dieser „Gang durch die Wüste“ bleibt keinem erspart, der sich intensiver mit dem Enneagramm beschäftigt. Es geht dann um die Persönlichkeitsaspekte, die unser wahres (göttliches) Wesen verstellen und die Beweggründe, die uns immer wieder in die Irre führen. Hier braucht es neben Mitgefühl und bedingungsloser Selbstliebe auch noch ein weises Verständnis dafür, wie diesen „Schatten-Wesen“ zu begegnen ist: Solange wir sie bekämpfen und loshaben wollen, holen sie uns immer wieder ein. Erst ein angstfreies genaues Hinwenden und tieferes Wahrnehmen der zugrunde liegenden Nöte kann solche „Dämonen“ verwandeln und ihre ursprüngliche Lebendigkeit wieder zum Vorschein kommen lassen.
Der Fülle des eigenen Selbst begegnen
Wenn sich die Schleier unserer Persönlichkeit nach und nach heben und unsere wahren Wesens- und Seelenqualitäten wieder deutlich zum Vorschein kommen dürfen, werden der Reichtum und die Fülle der in uns angelegten Möglichkeiten greifbar: Lebensfreude, Klarheit, Leichtigkeit und andere essenzielle Qualitäten scheinen auf. Wir entdecken Ursprüngliches und (kindlich) Lebendiges wieder. Oft werden diese Momente und Erfahrungen als Geschenke oder als Gnade erlebt. Wir können sie nicht machen und herstellen, aber wir können ihnen einen günstigen Boden bereiten. Wenn sie sich einstellen, erleben wir Trost und innere Befreiung. Eine tief empfundene Dankbarkeit über den Reichtum des Lebens darf dann in unserer Seele Raum greifen. Das Enneagramm ist eine Art „Katalysator“ oder Hilfsmittel, das solche Entwicklungen und Lernerfahrungen begünstigt. Für viele Menschen, die sich auf dieses „Fahrzeug“ in ihrem Leben einlassen, wird es auf ihrer Lebens- und spirituellen Reise ein Begleiter von unschätzbarem Wert.