Auf spirituellen Festivals, philosophischen Symposien und in transpersonalen Workshops (ich war gerade wieder Teilnehmer und Referent auf einigen) ist so oft die Rede von dem Höheren Selbst. Gleichzeitig wird subliminal oder offen Ego-Bashing betrieben: das Ego verstanden als Hort von Irrtum, Gier, Aggression, Missbrauch und Naturzerstörung.
Irrtum, ja, soweit d’accord. Das Ego ist ein irrtümelnde Struktur, es ist gewissermaßen die Summe meiner blinden Flecken. Es überwinden zu wollen aber ist nur ein weiterer Irrweg, es zu verabscheuen die verschärfte Form dieser Verirrung; beides verstärkt den Schattenbereich, die dunkle Welt des Verdrängten. Ego-Bashing ist ebenso dumm wie die Anbetung eines Höheren Selbst, beides ist nur Fortsetzung der Dummheit mit anderen Mitteln.
Transparenz genügt
Es genügt transparente, lichtdurchlässige Ich-Strukturen sich miteinander vernetzen und verbinden zu lassen. Als Ich-Identität transparent zu werden, lichtdurchlässig, ist transpersonal genug. Wir brauchen keine Persona zu entsorgen, um transpersonal zu werden. Wir brauchen kein geheiligtes, gehyptes Höheres Selbst, es genügt die Membran um unser jeweiliges Ich semipermeabel sein zu lassen, das ist sie ja sowieso schon, mit all unseren Jas und Neins, so wie die Zellmembran eines lebenden Organismus. Es braucht kein Ego aufgegeben zu werden, es genügt die Verbundenheit des Einzelnen, des Ich aka Individuums zu erkennen. Es genügt, die Eingebundenheit oder Interdependenz von allem und jedem zu vergegenwärtigen und insbesondere die jedweder Ich-Struktur, der »Mutter aller Illusionen«. Und ebenso die aller Wir-Gebilde, aus denen sich die einzigartigen Ich-Gebilde per Schnittmenge zusammensetzen. Wir sind Teile von größeren Holons. Jedes Ich, jedes Individuum – das doch eher ein Dividuum ist, wie der geniale Historiker und Zeitkritiker Harari es nennt – ist nur ein Partikel in einem größeren Ganzen. Wie jedes andere Nomen ist das Ich ein Etikett, ein auf das Kontinuum geklebtes Stück Sprache, aus dem dann unsere erzählerische Kreativität sinnvolle, glaubwürdige Geschichten weben können, die dann den Verlauf der weiteren Historie bestimmen, individuell ebenso wie kollektiv.
Das Ich ist eine Fiktion
Das Ich ist nur eine Fiktion, allerdings eine sehr mächtige. Es ist wie mit der diffusen Angst: Im Gegensatz zur konkreten Furcht findet man die Angst nicht, wenn man sie sucht. Wenn ich genau hinschaue, finde ich nur, was ich sehe, höre, rieche, schmecke und taktil spüre und alle die Wahrnehmungen meiner Innenwelt, das Kommen und Gehen von Gedanken und Gefühlen. Ein Ich finde ich jedoch nicht und auch kein Höhreres Selbst. Das sind alles nur Fiktionen, so wie auch all die anderen Meme und Mythen unserer Kultur.
Ich verstehe, was die Leute mit dem Höheren Selbst meinen: Atman = Brahman, so ist das gemeint. Gut gemeint ist aber noch lange nicht gut, richtig oder wahr. Deshalb: Es ist höchste Zeit, endlich das Höhere Selbst zu entsorgen! Wer genau genug hinschaut, unvoreingenommen danach suchend, für den wird es sich auflösen wie der Nebel in der Morgensonne. Jede Art von »Selbst« wird sich dann auflösen, ist doch auch das Selbst nur ein zum Nomen aufgestiegenes Pronomen. So wenig wie es ein Zwischen gibt oder ein Und gibt es auch kein Selbst. Relationen bezeichnende Worte (wie auf „sich selbst“ zu zeigen) zu Substantivieren kann merkwürdige philosophische oder gar religiöse Blüten treiben: das Nichts und das Alles gesellen sich dabei zu dem Ich, Zwischen, Jetzt und Das – Sprachblüten in Fantasieland, mit denen wir die Langeweile vertreiben, wenn die Realität uns anödet.
»Erkenne dich selbst«, haben die Weisen der Antike gesagt. Fühle die Verbundenheit, sagen die Tiefenökologen von heute, denn sie ist schon da. Verbinde »dich«, diesen Mythus, dieses Mem des Ichs, verbinde dich mit anderen Ich-Mythen deiner Spezies zu liebenden Netzwerken. Zeige dich, aber nicht zu sehr, auch Privatheit ist wertvoll und schützenswert, die Ego-Membran darf nicht alles durchlassen. Aber das Licht der Unendlichkeit muss durchscheinen können! Lass durch deine Ich-Struktur – durch den, für den du dich hältst – das Licht des Bewusstseins durchscheinen, das Licht des Unendlichen, Grenzenlosen, die Leere.
Alle Gestalten bewegen sich auf einem Hintergrund. Den wahrzunehmen und darin verweilen zu können genügt. Deshalb ist Spiel im Sinne von „Lila“ (Sanskrit) so wertvoll, das Zeugesein (witnessing) des eigenen Spiels, das erkennen der eigenen Muster, und das Verlassen dieser Muster entspricht dem Verlassen des „Rades des Wiederkehr“ (bhava capra) von dem die alte indische Philosophie spricht.
Übrigens gehe ich mit diesem Verständnis von Ego mit der Kernaussage des Gautama Buddha konform: Anatta, das Nicht-Selbst, gilt im Buddhismus neben Wandel und Leiden als eines der drei Wesensmerkmale der Existenz. Wenn Anatta gilt, dann ist auch das authentische Selbst eine Illusion. Es gibt in der sozialen Interaktion zwar ein Mehr oder Weniger an Echtheit, aber keine absolute Echtheit. Ist das jetzt „ganz der Heinz“, der Echte, nun macht er uns nichts mehr vor, und „die Gisela ist ganz bei sich angekommen“? Willkommen im Land der Selbste, der kulturkreativen Täuschungen.
Und die Nation?
Es gibt gut 190 soziale Gebilde auf der Welt, die Nationen genannt werden. Manchmal führen sie Kriege gegen ihre Nachbarn oder um sich ferner Interessensgebiete zu bemächtigen, zur Zeit sind sie miteinander eher einigermaßen friedlich. Von Streithammeln wie Trump&Co mal abgesehen, treiben sie Handel und haben mehr oder weniger permeable Grenzen. So ähnlich wie die Ichs der Indi.- bzw. Dividuen. Und so wie wenn man auf einem Leuchtglobus die »reale«, geografische Welt sieht, sobald man dort das Licht ausschaltet, so können wir Menschen unsere Ichgrenzen als Fiktionen erkennen, als künstliche Gebilde und mit unserer Umgebung eins werden. Mystische Erfahrung nennt man das, und Meditation ist die Praxis, die dort hinführt (bzw. hinführen soll, manchmal gelingt das ja).
Können auch die Länder und Staaten sich als Fiktionen erkennen und dann »eins werden«, so wie John Lennon das in seinem Lied »Imagine« sang?
Imagine there’s no countries
It isn’t hard to do
Nothing to kill or die for
And no religion, too
Imagine all the people
Living life in peace
Das wäre dann ein weltpolitisches Gebilde ohne nationale Membranen. Ich glaube nicht, dass uns das ein »life in peace« brächte. Eher wäre das dann so wie wenn in einem Organismus die einzelnen Zellen ihre Membranen aufgäben und alles durchlassen würden – der Organismus würde sterben. Die politische Frage der Migrationen ist nicht einfach mit einem »Öffnet die Grenzen« zu beantworten. Mit Fremdenhass und Abschottung natürlich auch nicht.
Sometimes I can feel the boundaries of „I and world (the rest of it all)“ close to collapsing, giving me the feeling that each war out there is nothing but a conflict in there.
Das hilft ungemein, die Gäule (samt Kavallerie) des Urteils nicht mehr allzu weit rausgaloppieren zu lassen.
Vielmehr erfreue ich mich mehr und mehr, mich friedvoll am Gartenzaun zu treffen, und Einladungen zum Plausch, mal hie‘, mal da, auszutauschen.
Wölfischer Dank, lieber teilender Weggefährte.