Mitten in der Corona-Krise erreichte mich dieser Tage der emotionale Aufruf einer Freundin, die damit ein Tabu anspricht, das sie für so politisch unkorrekt hält, dass sie befürchtet, damit einen Shit-Storm zu ernten, wenn sie es im Internet veröffentlichen würde.
Hat sie damit Recht? Wir werden sehen. Ich veröffentliche ihren Text hiermit deshalb anonym und bitte meine Leser um Kommentare.
Wolf
Lasst uns Alte in Ruhe und Würde sterben
Ein Aufruf anlässlich der Corona-Krise
Lasst uns Alte in Ruhe und Würde sterben, möchte ich euch zurufen! Euch, die ihr uns regiert und als solche Entscheidungen von solcher Tragweite trefft. Euch, die ihr glaubt den Tod und das Schicksal besiegen zu können. Kümmert euch lieber um unseren schwerkranken Mutterplaneten, um all die Verirrten und Verwirrten, die von Gier Getriebenen, die Wachstumsanbeter, die Workaholics, die Ausgebrannten, die Armen, die Kinder, die Jugend, die Flüchtlinge und die geschundenen Rinder und Schweine!
Ich gehöre zur Gruppe derer, die ihr für besonders gefährdet haltet, an Corona zu erkranken. Ihr wollt uns retten? Uns Alte? Uns, die wir ein reich gelebtes Leben hinter uns haben und nun dem Tod näher stehen als dem Leben. Habt ihr noch alle Tassen im Schrank? Oder hat die Sucht nach ewiger Schönheit und Jugend euch das Hirn so verquirlt, dass ihr nicht nur Tiere grausam quält, sondern nun auch uns Alte ungefragt mit einer Hightech-Medizin der Superlative am Leben erhalten wollt?
Ich habe keine Angst vor einer Wirtschaftskrise und auch keine Angst am Corona-Virus zu erkranken und zu sterben. Angst bekomme ich jedoch, wenn ich die Bilder aus Italien im Fernsehen sehe, wo Menschen auf Intensivstationen bäuchlings liegend beatmet werden; sie liegen da wie Vieh zum Schlachten. Daneben das ausgebrannte und in dieser Situation selbst höchst gefährdete Pflegepersonal, erschöpft vom Ringen um ein paar mehr Lebensjahre der Alten, die für die so Geretten oft nur noch eine Qual sind. Das zu sehen treibt mir Tränen in die Augen, nicht weniger als die zahlreichen anderen menschengemachten Katastrophen, die durch eine klügere Ressourcenverteilung hätten vermieden werden können.
Ist es die Angst vor dem eigenen Tod, was euch da antreibt? Die Angst nicht zu wissen, was danach kommt? Ihr wollt ihn besiegen, den Großen, Unbekannten!? Ihr wollt die Gesetze der Natur aus den Angeln heben, die Welt und den Planeten in nie dagewesener Weise umgestalten und verändern. Blind geworden im digitalen Fieber ungeahnter neuer Möglichkeiten, glaubt ihr Schicksal spielen zu können: größer, schneller, weiter, atemloser…
Mir scheint, ihr habt den Bogen so weit überzogen, dass jetzt das weise Leben selbst eingreift. Unsichtbar und auf leisen Sohlen pustet es einen Virus in die Welt hinein, der eine Pandemie auslöst, die hauptsächlich die Alten bedroht. Es setzt Regierungen so in Angst und Schrecken, dass sie den Atem der Wirtschaft anhalten und damit das Zentrum der Gier stoppen. Hätte jemand ein solches Szenario für möglich gehalten? Nein, es hat uns kalt erwischt. Mitten ins Herz (Cor), mitten in unsere empfindlichste Stelle zielt das Virus und sorgt für Stillstand. Was in jahrzehntelangem Diskutieren, Debattieren, Demonstrieren nicht gelungen ist, gelingt ihm im Handstreich. Endlich kann die Erde sich in Ruhe behandeln, auskurieren und erholen.
Vielleicht möchten wir Alten das ja auch – uns vom Leben ausruhen und erholen. Vielleicht hat unser Unterbewusstsein uns ja dorthin geführt. Vorerkrankungen wie Rheuma, Arthrose, Gicht, Diabetes und Herzrhythmusstörungen haben dem einen oder anderen von uns möglicherweise schon lange die Lebensfreude genommen. Rollator, schmerzende Gelenke, eingeschränkter Lebensraum sind jetzt eine Wirklichkeit, mit der wir leben müssen, weil wir ja nicht selbstbestimmt sterben dürfen. Die Würde des Menschen sei unantastbar? Ich glaube die Bürde des Menschen möchtet ihr unantastbar machen, wenn wir alt und hinfällig werden. Jeden Hund und jede Katze erlösen wir, wenn uns deren Leid unerträglich scheint. Für uns Menschen jedoch scheint die Devise zu gelten, dass wir bis zum bitteren Ende durchhalten müssen.
Dabei haben wir hochwirksame Medikamente entwickelt, die das Sterben leichtfüßig und schmerzlos gestalten können. Wie wunderbar wäre es doch, wenn jedem Menschen eine solche Substanz ausgehändigt würde, damit er selbstbestimmt und in Würde sterben kann.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir das Leben nur lieben können, wenn wir auch den Tod mit in unser Herz nehmen. Er ist die andere Seite der Medaille. Klammern wir ihn aus, klammern wir das Leben aus.
Wie viel klüger und humaner würden wir doch in Zeiten wie diesen entscheiden, wenn wir ein großes Ja zum Tod hätten! Wie entspannt und menschenwürdig würden wir uns von unseren Liebsten verabschieden, dabei ein Fest feiern wie zur Geburt und dann selig einschlafen! Wie leicht könnten wir den Platz für unsere Kinder räumen, deren Leben wie ein unbeschriebenes Blatt noch vor ihnen liegt. Denn die Wahrheit ist, dass wir nicht alle in gleicher Weise medizinisch betreuen können. In unseren hochtechnisierten Gesellschaften verbrauchen wir die Hälfte der medizinischen Kosten, die ein ganzes Leben verursacht, in den letzten Jahren, in denen es für viele von uns so sehr von Qual dominiert ist, dass wir gerne darauf verzichten würden. Ganz sicher verzichten einige umso lieber, wenn dafür andere leben können. Und noch viel mehr gälte diese Rechnung, wenn wir dabei auch noch die einbeziehen würden, die in Ländern leben, in denen schon ein Großteil der Kinder stirbt, weil noch nicht einmal eine grundlegende medizinische Versorgung vorhanden ist, die nur ein Bruchteil von dem kostet, was bei uns ein paar Tage auf der Intensivstation kosten.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich will niemanden töten, weil er oder sie zu viel kostet! Ich meine hier ein selbstbestimmtes Sterben. Jeder Mensch sollte immer und zu jeder Zeit so weit wie möglich selbstbestimmt leben und selbstbestimmt sterben dürfen – aus meiner Sicht ein Gebot der Menschenwürde.
Der Mensch leidet unter dem Corona-Virus. Die Erde leidet unter dem Mensch-Virus. Sorgen wir dafür, dass beides Grenzen findet.
Hat die Autorin eigentlich nichts vom kürzlich ergangenen Urteil des Bundesverfassungsgerichts mitbekommen? Das hat ganz klar entschieden, dass jede und jeder das Recht auf „assistierten Freitod“ und das zugehörige Mittel hat. Ein großer Fortschritt in Sachen Recht auf selbstbestimmtes Sterben! Bei der hier verhandelten Sachlage (Schutz und medizinische Rettung der Alten in der Corona-Krise) muss unterschieden werden zwischen staatlich-institutionellem Handeln und jenem der Individuen. Letzteren steht es auch jetzt frei, sich nicht im Krankenhaus beatmen zu lassen, sondern lieber zu sterben. Wobei diese Möglichkeit vermutlich schon deshalb nicht häufig gewählt wird, weil diese Art Ersticken äußerst leidvoll sein soll! Ob… Weiterlesen »
Ich denke, Claudias Kommentar ist wenig hinzuzufügen. Das Plädoyer ist schon legitim. Es allerdings mittelbar auf alle andere „älteren“ Menschen auszudehnen, ist fast schon unverschämt. Eben habe ich mit meiner Mutter (87) telefoniert. Sie erwähnte beiläufig, dass sie ja nun eine alte Frau sei und sie deshalb keine große Angst vor dem Sterben hätte. Ob sie soweit ginge, auf alle lebenserhaltenden Maßnahmen zu verzichten? Nun, diese Frage habe ich ihr nicht gestellt. Meine Schwiegermutter (95) lebt bei uns. Sie ist nicht mehr mobil und folgt der Berichterstattung über Corona nur mit Mühe. Ihr würde es nicht einfallen, die Hilfe im… Weiterlesen »
Mir gefällt vieles an dem Artikel nicht. Da werden Dinge vermengt, die nicht zusammengehören.
Ich frage mich, Wolf, wieso Du ihn veröffentlicht hast?!
Hallo Gerhard, du fragst, warum ich diesen Text einer Freundin von mir veröffentlicht habe und sagst, dass dir vieles an dem Artikel nicht gefällt, und dass da Dinge vermengt werden, die nicht zusammengehören. Zum einen veröffentliche ich auch manchnmal Meinungen, mit denen ich nicht übereinstimme. Als Herausgeber von Connection habe das oft getan, nun tue ich es seltener, ich bin ja nun nicht mehr Redakteur, sondern Blogger. Aber auch als Blogger ist es gut, nicht in einer Echokammer zu verweilen. In diesem Falle stimme ich jedoch mit dem meisten überein, was in diesem Blogpost steht. Einiges hätte ich anders formuliert,… Weiterlesen »
… ich glaube hier will jemand unbedingt originell sein. Klingt wie ängstliches Kind im Wald das pfeifft, und schreit: „Ich hab gar keine Angst vor gar nix und vor dem Sterben auch nicht“. Auch wenn du mit Corona aus dem letzten Loch pfeiffst und nicht ins Krankenhaus willst – wer hindert dich daran dann einfach zu Haus zu bleiben und den Mund zu halten???
Wolf, Du schreibst: „Wenn nicht die meisten von uns, sobald es merklich auf das Ende zugeht, plötzlich alles dran setzen, noch ein paar Monate rauszuschinden, »koste es, was es wolle«“ …. Nun, als mein Vater 2002 starb, wurde ich genau damit konfrontiert: Ein Arzt fragte mich, wieso ich darauf dränge, dass er die anberaumte OP bekommt, die eben nicht mehr (technisch) möglich war. Und dann war mir auch klar, dass das eh nur sein Leiden kurzfristig verlängert hätte. Ich war so aus dem Schneider, ich hatte alles versucht. „… und aus dem Bewusstsein der Fülle eines reich gelebten Lebens fröhlich… Weiterlesen »
[…] Form erfolgen. Man kann und soll alles besprechen, ich denke nicht, dass es etwas bringt, Gedanken zu tabuisieren, die den Leuten nun mal […]
Unabhängig von Corona geht es doch auch in der westlichen Welt immer mehr darum, wie kann ich und darf ich (im Alter!) selbstbestimmt in Ruhe sterben (wenn es soweit ist) und ich nicht zwangsweise einer inhumanen stark um sich greifenden Hightec-Medizin förmlich ausgeliefert bin! – Von der Kommerzialisierung bzw. Ökonomisierung unserer Kliniken mal ganz abgesehen. – In der Rückschau der Lebensläufe von Älteren zeigt sich in den Statistiken, dass die Menschen zwischen 85 und 95 Jahren durchaus noch gut und größtenteils selbständig leben können (inkl. aller sonstigen üblichen Einschränkungen, die das Altern so mit sich bringt). Erst in den letzten… Weiterlesen »
Vielen Dank für diesen Text mit vielen bedenkenswerten Gedanken.
Eine Erholung neben all den Statistik- und Technik-fixierten Rechthabereien.
Unglaublich, wieviel menschliches Lösungspotenzial gerade gebunden wird.
Super!