Als ich 15 Jahre alt war, schlug mein damaliger Klassenlehrer vor, ich solle, zusammen mit zwei anderen aus meiner Klasse, in den kommenden Sommerferien von der 9. in die 11. versetzt werden. Ich nahm mir die Schulbücher der 10. Klasse in die Ferien mit, las sie durch und war in der neuen Klasse, in der ich nun der jüngste war, vom ersten Tag an wieder der Klassenbeste.

Das hat mir den Ruf eingebracht, »ein Genie« zu sein. Meine Eltern versuchten daraufhin, den Ball flach zu halten, wie man das im fussballbegeisterten Bayern nennt. Meine ganze Umgebung tat das, und ich machte geflissentlich mit, denn ich wollte nicht ausgegrenzt werden. Um nicht als Streber zu gelten, schwänzte ich immer mal wieder den Unterricht, mokierte mich über die Lehrer und lästerte über die blöde Schule. Die fand ich zwar tatsächlich blöd, aber die Themen nicht, die dort behandelt wurden. Ich blieb neugierig und wissbegierig und hoffte, dass ich mit dem Abitur diese Institution bald hinter mir hätte. Währenddessen tat ich, was ich konnte, um meinem Ruf als Rebell gerecht zu werden, was meinen Sonderstatus als Genie für mich erträglicher machte. 

Scham

Bis heute ist mir ein Gefühl der Scham geblieben über meine Begabung. Vielen anderen Menschen mit »Sonderbegabungen« geht es ebenso, das weiß ich heute, aber das lindert diese Scham nur wenig. Ich finde es zutiefst ungerecht, dass einige Menschen schön sind, andere nicht, einige reich, andere nicht, einige intelligent, andere nicht, auch wenn die Ursachen beim Reichtum mehr soziale sind, bei der Schönheit mehr natürliche. Das Gefühl der Ungerechtigkeit habe ich in beiden Fällen und noch in vielen anderen, und damit die Scham. 

Als ich nach meinem Abitur an der Müncher Uni eine Art studium generale machte, stieß ich dort auf das Buch eines Amerikaners namens Gershon Legman, mit dem Titel »The rationale of the dirty joke«. Dort hieß es, der Lieblingswitz eines Menschen zeige den Kernpunkt seines Charakters. Später, als ich von Gurdjieff hörte, dass er seine Schüler besoffen gemacht hatte, um dann sehen zu können, was der Kernpunkt ihres Charakters ist, der Punkt um den sich das Ego dreht, fiel mir diese Überzeugung von Legman wieder ein – und natürlich untersuchte ich als erstes mich selbst. Was war damals mein Lieblingswitz? Ich hatte mehrere, aber einer, der mich schon in meiner Schulzeit immer wieder erfreut hatte, ragte in gewisser Hinsicht heraus: »Er sagt zu seiner Liebsten: ‚Bei all den anderen ist es entweder der Reichtum, die Schönheit oder die Intelligenz, was mich anzieht, bei dir aber ist es die wahre Liebe.’«

Liebst du mich?

Aus heutiger Sicht bringe ich meine Zuneigung zu diesem Witz mit dem sozialen Makel meiner Begabung in Verbindung. Makel? Einerseits ja, denn es grenzte mich aus. Andererseits war es auch Grund für Bewunderung. Es war ja schmeichelhaft, für ein Genie gehalten zu werden. Zugleich aber führte es zu Selbstzweifeln: Spricht er oder sie jetzt nur deshalb mit mir, weil ich als besonders intelligent gelte, oder meint er/sie tatsächlich mich?

Auf ähnliche Selbstzweifel bin ich später im Umgang mit sehr reichen und sehr schönen Menschen gestoßen. Die Reichen fürchten ständig, nur wegen ihres Reichtums gemocht zu werden, und die Schönen wegen dem, was sie als äußerlichen Zufall empfinden, als Geschenk der Natur – es ist doch nicht ihr Verdienst, schön zu sein. In beiden Fällen bleibt eine Scham. Vielleicht ähnlich der Scham, eine Katastrophe überlebt zu haben, bei der andere – ebenso unverdient wie mein Überleben –, umgekommen sind.

Vor und nach dem »Letztlichen«

Heute versuche ich das so einzuordnen: Wir alle haben Begabungen. Sehr verschiedene. Auch die mit den sogenannten »Einschränkungen« haben sie. Auch sie sind einzigartig in dem, was sie mitbringen und wie sie es umsetzen. Welche von diesen Eigenschaften sozial anerkannt oder sogar hoch geschätzt wird, ist sehr verschieden. Die Fähigkeit, sich selbst als liebenswert zu empfinden und selbst lieben zu können, hat mit diesen Eigenschaften letztlich nichts zu tun. Auf dieser Ebene des »Letztlichen« habe ich dann wieder meinen Frieden damit, hochbegabt zu sein. 

Vor diesem Frieden, vor dieser Ebene des Letztlichen, aber gibt es noch eine Menge anderes. Inwieweit das mein Leben geprägt hat, wird mir erst jetzt allmählich bewusst, und ich staune, dass es erst jetzt geschieht. Die Anlässe dieser Erkenntniss sind vielfältig. Unter ihnen ist Anne Heintze, die ich kürzlich kennenlernte. Sie hat die Begabungen, sie sie selbst auszeichen – hochbegabt, vielfach begabt und hochsensibel – zum Spezialgebiet ihrer Tätigkeit als Coach gemacht. Sie ist es, die mich darauf gebracht hat, mich mit meinen eigenen »Hoch-X-Themen«, wie sie sie nennt, näher zu beschäftigen.