Unter der Überschrift »Wir sind Helden auf einer Reise« habe ich kürzlich einen Text geschrieben für eine deutschsprachige Zeitschrift, die versucht, zwischen der modernen Seichtspiritualität und echter Selbsterkenntnis einen Mittelweg zu gehen. Hier ist, was ich geschrieben habe:

Die Jahreswende ist immer ein guter Zeitpunkt sich zu fragen: Wo stehe ich in meinem Leben? Wo komme ich her, wo gehe ich hin? Was möchte ich im kommenden Jahr erreichen? Damit es den zu Silvester geäußerten guten Absichten nicht wieder so geht wie den meisten guten Absichten – the same procedure as every year –, brauchen wir ein gewisses Maß an Selbsterkenntnis. Je besser wir wissen, was wir uns zutrauen können, umso eher haben die Pläne für das neue Jahr Erfolg. Je besser wir wissen, wer wir sind, umso eher tappen wir mit unseren Plänen nicht im Dunkeln.

»Erkenne dich selbst« 

Am Eingang zum Apollotempel von Delphi, dem renommiertesten Heiligtum und Orakelplatz der griechisch-römischen Antike, war diese Inschrift eingraviert: Erkenne dich selbst! Das Wissen um die Bedeutung der Selbsterkenntnis für alles, was wir Menschen tun, zieht sich durch alle Zeiten und Kulturen. Zu erkennen, wer oder was ich bin, ist das, was uns reifen und schließlich weise werden lässt. Doch wie erkennen wir das?

Einer der bekanntesten und bis heute hoch verehrten indischen Weisen des 20. Jahrhunderts ist der 1950 verstorbene Ramana Maharshi aus Südindien. Er empfahl seinen Schülern nur eine einzige Methode: Frage dich, wer du bist! Das würde genügen, um Erleuchtung zu erlangen, sagte er, das höchste Ziel der indischen Philosophien und Religionen. 

Spiele, wer du sein könntest!

Schön gesagt und faszinierend einfach – so einfach und fokussiert auf das Wesentliche, das ist es doch, was wir alle wollen. Wenn es denn weiter nichts braucht als sich diese Frage zu stellen, sollte das mit der Erleuchtung doch machbar sein, Herr Nachbar, oder? Kommt drauf an, wie man sich diese Frage stellt. Du kannst sie auf der Ebene eines Party-Smalltalks mit Antworten bedienen, die so aussehen, als seist du tatsächlich mit der Selbsterforschung beschäftigt. Du kannst dich innerlich fleißig damit betexten, wer du alles bist und weißt doch dabei, dass du nichts bist oder, noch besser: reines Bewusstsein bist – du hast ja bereits einige Bücher von Eckhart Tolle und den Satsanglehrern gelesen und weißt in der Hinsicht eigentlich Bescheid. 

Oder du lässt die Frage wirklich tief sinken. Meine Empfehlung an die Echten unter den Tiefseetauchern ist: Setze dabei deinen ganzen Körper ein! Spiele die Antworten! Frage dich nicht nur, wer du bist, sondern spiele, wer du sein könntest! Da du dir ja nicht sicher sein kannst, wer du wirklich bist, ist das spielerische Ausprobieren einer Identität schon mal ein guter Anfang.

Kathartische Lösung

Stell dir vor, in einem Gespräch bei einer Tasse Tee hat dein Gegenüber dir gerade etwas gesagt, das genau besehen nicht besonders schmeichelhaft ist. Wie gehst du damit um? Gehst du nun, schön positiv denkend, in deinem inneren Zwiegespräch darüber hinweg und sagst dir: Das war bestimmt nicht so gemeint, ihr seid doch Freunde, eigentlich bist du ganz okay, oder vielmehr sogar ziemlich gut, um nicht zu sagen exzellent. Oder du spielst einen Anflug von Beleidigtheit und gibst damit der Möglichkeit, dass es wirklich eine Kritik war oder dein Gegenüber dich tatsächlich beleidigen wollte, eine Chance. Und verblüffst damit durch deinen charmanten Umgang mit diesem Angriff – oder erntest ein Dementi, wenn es denn wirklich nicht so gemeint war. Und was dein Wissen um dich selbst anbelangt – du willst doch den weisen Ramana nicht enttäuschen: Du merkst in diesem Spiel von Beleidigtheit, ob du es wirklich bist. Übertreibung ist ein Vergrößerungsglas. Was du vorher nur ahntest, wird durch sie erkennbar und vergeht zugleich in einer Art kathartischen Lösung. Die immerhin leichte Beleidigtheit durch das, was als Tadel empfunden wurde, setzt nun keine Schlacken an, sondern vergeht fast in dem Moment, wo sie entstanden ist.

Profilbildung

Auch Astrologie, Tarot, das Enneagramm und alle die anderen Typenlehren können dem nach Selbsterkenntnis Suchenden Impulse geben. Diese Typenlehren sagen mir: Ich bin ein Soundso. Da nichts Menschliches mir fremd ist, finde ich mich dort wieder: In der Beschreibung, die mein Geburtshoroskop abgibt, in der numerologischen Analyse meines Geburtsdatums, die gewiss kein Zufall ist, ebenso wenig wie die Aussagen der für mich ausgewählten Blätter aus der südindischen Palmblattbibliothek und das, was dieses Chancelmedium neulich zu mir gesagt hat – ich fühle mich erkannt! 

Die Sehnsucht erkannt zu werden ist so groß, dass wir in diese Persönlichkeitsanalysen gerne das hineinsehen, was wir erhoffen oder befürchten, so ähnlich wie beim Rorschachtest oder dem Bleigießen zu Silvester. Es gibt sogar Menschen, die schon beim Lesen der Packungsbeilage eines Medikaments alle dort beschriebenen Nebenwirkungen an sich feststellen, egal, um welches Medikament es sich handelt. Ob das nun eher Hochsensibilität oder eher ein Identifizierungswahn ist – die Produktion dieser Symptome kann ungesund sein. Und die Sehnsucht danach, ein bestimmter Typ zu ein, ein Soundso und nicht ein Irgendwer, kann statt einem Erkennen dessen, was da ist, zu einem Hineinsehen dessen werden, was da sein soll.

Eigentlich bin ich ganz anders

Gesegnet ist deshalb, wer sich bei solcher Typisierung daran erinnert, auch ein anderer sein zu können. »Eigentlich bin ich ein anderer, ich komme nur so selten dazu«, schrieb der österreichische Dichter Ödön von Horvath dazu. Leider wurde er schon als 36-jähriger, hoch gelobter Dichter, auf den Champs-Elysées von einem herabstürzenden Ast erschlagen, sonst hätte er uns noch viel mehr solche Einsichten hinterlassen können und vor allem das: Er hätte noch ein ganz anderer werden können!

Wir hingegen, die wir noch nicht von einem Ast erschlagen wurden, können unser Leben noch ändern. 

Die Weisheit der Unterscheidung

Für eine solche Änderung ist zunächst einmal wichtig, einerseits nicht vom Schicksalsglauben besessen zu sein (»Das ist Schicksal, da kann man nichts machen«), andererseits aber auch nicht vom Größenwahn (»Ich kann alles; ich muss es mir nur intensiv genug vorstellen.«) Der folgende weise Spruch, oft auch als Gebet formuliert, bringt das auf den Punkt: Gib mir die Geduld hinzunehmen, was ich nicht ändern kann, den Mut anzupacken, was ich ändern kann und die Intelligenz, das eine vom anderen zu unterscheiden. 

Im freundlichen Einvernehmen mit den Außenwelteinflüssen (»Dein Wille geschehe«) können wir durchaus unser Leben ändern. Denn wir sind Helden auf einer Reise! Wir sind die Protagonisten unseres Lebens, und mit ein bisschen Mut können wir auch das Drehbuch dazu mitgestalten. 

Die Raunächte

Selbsterkenntnis ist nämlich nicht nur ein Erkennen von Eigenschaften und Tatsachen, die unabänderlich vorhanden sind und an denen wir uns nur dann nicht stoßen, wenn wir um sie wissen. Selbsterkenntnis ist auch eine Erkenntnis der Freiheit der Selbstgestaltung. Das Ich, mit dem wir zwischen Geburt und Tod uns Wandelnde sind, wir können es mitgestalten. 

Die Raunächte um die Jahreswende sind dafür eine wunderbar geeignete Zeit, um mal wieder bei verringerten Außeneinflüssen in das einzutauchen, was wir wirklich wollen. Wozu bist du hier, auf dieser Welt? Es steht nicht in deinem Geburtshoroskop und auch nicht auf den für dich ausgewählten Palmblättern, und kein Channelmedium kann es dir sagen. Erst wenn du tief in dich einsinkst, dann weißt du es.

Bewerten ist »old school«

Ende des Textes. Er wurde von der Redaktion abgelehnt, wie ihr euch schon denken könnt (warum sonst würde ich ihn hier im Blog veröffentlichen), und zwar mit der Begründung, der Artikel sei belehrend, zynisch-philosophisch verschreckend und bestimmte Formulierungen hätten etwas »leicht Herablassendes«. Das alles sei »old school«. Die hier nicht namentlich genannte Zeitschrift, mein Auftraggeber, wolle ganz entschieden nicht bewerten, um sich damit nicht über die Leser zu stellen. 

Ausgemacht war ein Honorar von 175 €. Ich hatte genau zu dem bestellten Thema geschrieben und, wie ich meine, sanfter und freundlicher als sonst und mit mehr Erklärungen (etwa, wer Ramana Maharshi ist). Den Stil dieses Magazins hatte ich ja blätternd und lesend mitbekommen und mich darauf eingestellt. 

Mehr als nur trösten

War ich zu ironisch? Die Auftraggeber wissen, dass ich kabarettistisch unterwegs bin. Sie hätten ja auch jemand anders beauftragen können. Bin ich mit dem Herauskitzeln der Leser aus seiner/ihrer Spiri-Trance zu weit gegangen? Mag sein. Die meisten religiösen und spirituellen Autoren und Prediger wollen trösten. Ich will das nicht (oder nur sehr selten), denn Trost lindert nur, er heilt nicht. Ich will etwas mitteilen und dadurch Einsicht vermitteln. Klar, dass ich damit auch manchmal erschrecke, das kann ich nicht vermeiden. Einlullen jedenfalls will ich meine  Leser nicht. Nein, genauer: Die Erwachsenen unter ihnen will ich nicht einlullen. Kleine Kinder hingegen habe ich immer sehr gerne in den Armen gewogen und in den Schlaf gesungen. Es ist so süß, ihnen dabei zuzusehen, wie ihnen beim Wiegen und rhythmischen Singen die Augen zufallen und sie sanft entschlummern.

Der Mittelweg bringt den Tod

Woanders verwenden kann ich diesen Text nicht, jedenfalls nicht zum Geldverdienen. Ein Ausfallhonorar gibt es nicht, aber ich wurde sehr freundlich dazu eingeladen, mich dort nochmal als Autor anzubieten. Ich halte es jedoch für aussichtslos, mit der dortigen Redaktion einen Kompromiss zu finden, bei dem ich mich nicht selbst verrate. 

»In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod« (schrieb Friedrich von Logau, und Alexander Kluge nannte 1974 einen seiner Filme so) – stimmt das denn? Nein, der Mittelweg bringt noch nicht den Tod des Autoren, das wäre zu viel der Dramatisierung, aber es scheint mir doch so zu sein, dass ich am Rande der grassierenden Wellness-Spiritualität als Autor nicht so leicht einen Fuß auf den Boden bekomme. 

Obwohl die Chefredakteurin von »Herzstück« – das ist eine Zeitschrift, die nach dem Erfolg von »happinez« mit »Herzstück« als me-too-Produkt einen Anteil vom Kuchen zu ergattern suchte – unserer Connection-Pressfrau schrieb, sie sei »ein Fan von Wolf Schneider«. Privat darf sie das sein, aber das Herzstück muss ein Herzstück bleiben, ein Wohlfühl- und Tröstemagazin, das verlangt der Markt.