Seit ein paar Jahrzehnten hat sich die juristische Gleichberechtigung der LGBTQ+ Communities gegenüber den Heteronormativen in vielen Ländern durchgesetzt. Wenn man bedenkt, wie langsam solche tiefgreifenden Prozesse generell dauern – Abschaffung der Sklaverei, Gleichberechtigung der Frauen – ist es verständlich, dass die soziale Akzeptanz in der vollen Breite der Gesellschaft auch hier nur schleppend erfolgt.
Fällt es buddhistisch orientierten Menschen leichter, Artgenossen zu akzeptieren, die nicht den üblichen Normen entsprechen, weil sie selbst vielerorts einer religiösen Minderheit angehören? Sind sie gegenüber sozialen Außenseitern toleranter, weil ihre spirituelle Praxis ihnen die eigenen Denkschablonen bewusst macht? Für eine verlässliche Antwort auf diese Fragen braucht es wohl einige sozialwissenschaftliche Studien, die es meines Wissens noch nicht gibt.
Der geniale israelische Historiker Yuval Noah Harari ist heute 45 Jahre alt und einer der meist geschätzten Intellektuellen und Vordenker dessen, was die Zukunft für die menschliche Zivilisation an Chancen und Gefahren bereit hält. Ich würde ihn unter die Top Ten derer platzieren, die heute helfen, uns Menschen zeitgeschichtlich zu verorten und zu erahnen, wie es mit Homo sapiens weitergeht. Wie schafft er es, inmitten der Infofluten, die uns aus den Medien zuströmen, speziell aus dem Internet, das für uns Relevante herauszufinden? Seine Standardantwort auf diese Frage ist »Ich meditiere«. Morgens eine Stunde Vipassana, abends eine Stunde Vipassana. Zudem zieht er sich einmal im Jahr für ein bis zwei Monate komplett zurück – eine Zeit ohne E-Mails, Bücher, Internetanschluss. Ein Handy nutzt er sowieso nicht mehr.
Die Meditation ist sicherlich das eine, was ihm diese tiefen Einsichten verschafft, wiewohl auf der Basis einer Hochbegabung. Ein zweiter Grund scheint mir seine sexuelle Orientierung zu sein. Im Alter von 21 hat er sich als schwul geoutet und kann heute kaum mehr verstehen, wie er die Jahre davor das hatte verdrängen können. Erst mit 21? Sein Bedürfnis in die vorherrschende Norm zu passen, muss bis zu diesem Zeitpunkt sehr groß gewesen sein, sonst hätte er damit nicht so lange gewartet. Seitdem aber hinterfragt er die Konventionen des Common Sense so viel gründlicher als seine acht Milliarden Mitbewohner auf Planet Erde, dass seine »Kurze Geschichte der Menschheit« seit 2014 mit einer Wucht auf die Weltgesellschaft einwirkt, wie vielleicht ehedem nur Karl Marx’ Kommunistisches Manifest von 1848 und dessen Folgen für die darauffolgenden 140 Jahre.
Auf Hararis »Eine kurze Geschichte der Menschheit« folgten 2016 und 2018 mit »Homo Deus« und »21 Lektionen für das 21. Jahrhundert« zwei weitere Megaseller. Mark Zuckerberg, Barack Obama, Angela Merkel, Sebastian Kurz und andere mächtige Entscheider haben seinen Rat eingeholt; vor der Flut von Anfragen kann er sich kaum retten.
Dabei frage ich mich, inwieweit jeder von uns für das Wagnis, die Normen der vorherrschenden Kultur zu hinterfragen, ein Außenseiterbewusstsein braucht. Das gilt auch für den historischen Buddha. Dessen Suche begann mit der Ablehnung der Erwartungen seiner Herkunftsfamilie, die für ihn ein Leben als Ehemann, Vater und Regent vorgesehen hatte. Als er sechs Jahre später zu lehren begann, hob sein revolutionäres Denken binnen Jahrzehnten den damals vorherrschenden Brahmanismus aus den Angeln – für immerhin ein paar Jahrhunderte. Außerhalb seiner indischen Heimat war seine Wirkung noch viel mächtiger und liefert bis heute überzeugende Methoden für Selbsterkenntnis, Empathie und Etablierung von sozialem Frieden.
Die Ablösung von der Herkunft, unserer ersten sozialen Heimat, ist dabei ein wichtiger Schritt. Deshalb nannte Buddha seine erste Initiation Pabbajja: hinausgehen in die Heimatlosigkeit. Solch ein Schritt braucht Mut. Wer in seinem tiefsten Innern spürt, dass er anders ist und seine Eltern ihn oder sie nicht wirklich verstehen, wird wahrscheinlich eher den nötigen Leidensdruck haben um diesen großen Schritt nach draußen zu wagen, zu einem neuen Selbstbild und einer disruptiven sozialen Veränderung.
Disruption, verstanden als kreative Zerstörung, ist seit ein paar Jahren vor allem unter Vordenkern der Wirtschaft ein Modewort. Jean-Marie Dru von der New Yorker Agentur TBWA hat es 1992 eingeführt, seitdem breitet es sich viral aus. Es bezeichnet einen Bruch mit dem Bisherigen, aus dem etwas Neues entsteht, das aus dem Alten nicht linear herauswächst, sondern in einem nicht vorhersagbaren, chaotischen Prozess emergiert.
Allerdings genügt es nicht, nur anders zu sein als die Mehrheit und darunter zu leiden, damit eine Innovation gelingt. Dafür gibt es genug Gegenbeispiele. Warum ein Mensch sich auf den Weg begibt, Erleuchtung oder Weisheit zu erlangen, lässt sich nicht monokausal erklären, umso weniger das Erreichen des Ziels.
Kreative Erneuerungen des Ganzen kommen in der Regel nicht aus der Mitte einer Gesellschaft, sondern von ihren Rändern. Dort wird Neues ausprobiert, oft verrückt und untauglich für das Ganze, aber so vielfältig, dass immer auch was Brauchbares dabei ist. Diese kulturellen Mutationen ähneln insofern denen der Biologie: Die meisten taugen nichts, aber es sind viele unterschiedliche nötig, damit auch mal was Brauchbares, fürs Überleben Hilfreiches dabei ist.
Sind die buddhistischen und die LGBTQ+ Communities zu solchen Innovationen in besonderer Weise fähig? Die Einsichten und Impulse von Yuval Harari deuten in diese Richtung. Aber gilt das auch kollektiv? Und was ist mit den anderen Minderheiten? Beides sind für mich offene Fragen.
Mir scheint, dass insbesondere das Schweigen, die Stille, die Leere geeignet ist, eine Disruption zu einer kreativen zu machen. Sie kann eine verfahrene Situation durch den Reset auf Null ins Positive wenden. Dafür scheint mir die buddhistische Subkultur gut geeignet, in Kombination mit dem Außenseiterbewusstsein der LGBTQ+ vielleicht umso mehr.
Deinen Blog „Außenseiter bringen Innovationen“ finde ich gut; das ist dringend notwendig, denn gerade die Außenseiter bringen die Wissenschaft voran. Wie Du richtig sagst, sind die meisten Außenseiter-Meinungen („kulturelle Mutationen“ sind ein guter Begriff) nutzlos (sozusagen lethal) und bringen nicht weiter (wie das ja auch bei den biologischen „Mutationen“ der Fall ist), aber wenn man überhaupt „Fortschritt“ will, dann muss man eben alle diese „kulturellen Mutationen“ zulassen, denn ein paar wenige davon bringen immer wieder überraschend neue Einsichten, die vorher nicht gewagt worden sind; sie werden natürlich anfangs von der Masse der ehrenwerten „Fachleute“ als Blödsinn bekämpft, weil sie den überkommenen „Wahrheiten“… Weiterlesen »