Anfang August kam ich auf der Rückkehr von meiner Sommerreise mit Valentin an Freiburg vorbei und nutzte die Chance, einen alten Freund und Connection-Autoren wieder mal zu besuchen: Bertold Ulsamer. Er war einer der ersten, die über die Methode des Familienstellens nach Bert Helliger etwas schrieb, die damals in der Welt noch unbekannt war. Sein Artikel darüber in meiner Zeitschrift Connection führte bald zu dem Buch Ohne Wurzeln keine Flügel, das 1999 bei Goldmann erschien. Es gehört heute zu den Klassikern der systemischen Therapien und verkauft sich noch immer.

Schreibst du immer noch, fragte ich ihn, und machst immer noch Aufstellungen? Bertold (sein Sannyasname ist Harisharan) gehört zu denen, die bis zur Coronazeit mit großem Erfolg jahrelang Aufstellungen auch in China gemacht hatten. Dann war China dicht, und auch bei uns lief wegen Corona nicht mehr viel. Heuer ist Bertold 75 Jahre alt und bei guter Gesundheit. Er macht nur noch selten Aufstellungen und schreibt mehr zu seinem Vergnügen. Worüber? Über Transgender und anderes – und zu meiner Überraschung auch über Aufstellungen mit Pferden. Mit Pferden??? Wie soll denn das gehen? Er erklärte es mir: Menschen sind dabei Vertreter für einzelnes ‚Problempferd’ und die Themen um dieses Pferd. 

Lassen wir ihn selbst sprechen. Der folgende Text ist sein Bericht, mit seinen Worten. Mich selbst führte er zu neuen Gedanken, was »das Geheimnis« solcher Aufstellungen ist. Mehr dazu vielleicht in einem anderen Blogeintrag. 

Wie ich als alter Aufsteller zu den Pferden kam

Da bin ich auf meine alten Aufstellertage noch auf – nicht den Hund – aber aufs Pferd gekommen! Doch der Reihe nach. 

Es war die Mischung aus Hunden und Pferden, die mich im Februar 2020 noch vor Corona nach Ronda in Andalusien gelockt hatte. 30 Hunde und 120 Pferde sollten da auf einer Finca unter deutscher Leitung leben, dazu noch Jugendliche im Langzeitaufenthalt, vom deutschen Jugendamt bezahlt. Also eine bunte Mischung! Sandra, die Chefin dort, hatte mich wegen ihres Interesses für Familienaufstellungen angeschrieben. Ich hielt zufällig zu der Zeit in Sevilla ein Seminar ab. So kam ich zu einem dreitägigen Besuch vorbei. 

Der Höhepunkt waren Aufstellungen, die ich an einem Nachmittag im Garten für einige Jugendliche durchführte. Um uns herum sprangen Hunde. Pferde standen ebenfalls in der Nähe und streckten manchmal einen Kopf in den Kreis. Wollten da potentielle Stellvertreter mitmischen? Aber ich blieb lieber bei den Menschen. Das war mir vertrauter.

Mit Pferden hatte ich bis dahin, abgesehen von einem Seminar mit Ausritt in meinen Jugendjahren, nichts zu tun gehabt. Auch hier in Ronda ritt ich einmal aus. Ich saß auf einem großen Pferd, das mich mehr oder weniger ignorierte und immer stehen blieb, um Gras zu fressen. Na ja.

Aber ich hatte Feuer gefangen. Alles war recht entspannt. Und ich liebe Tiere und blühe in ihrer Gegenwart auf. Hier wollte ich wieder herkommen und dann auch einmal mit Pferden und Aufstellungen experimentieren!

Im November 2022 war es so weit, dass ich für fünf Tage zu einem Besuch kam. Diesmal wollten wir gemeinsam Aufstellungen mit Pferden machen. Bis dahin hatte ich in meinen Gruppen ein paar Aufstellungen mit dem Thema von Hunden oder Katzen geleitet, die für die Besitzer Familienangehörige ersetzten. Es ging dann darum, die Familienmitglieder in den Blick zu bekommen und die familiären Energien von den Tieren zu lösen.

Misstrauischer Wallach

Von Aufstellungen mit Pferden wusste ich nur, dass sie manchmal als Stellvertreter oder einfach Ressourcen in eine Aufstellung genommen werden. Aber das war nicht mein Interesse. Mir ging es darum, zu sehen, ob ich mit Aufstellen etwas Gutes für Problempferde tun kann. In einer solchen Aufstellung würden dann Menschen die Pferde stellvertreten – nicht umgekehrt. Es war ein Experiment.

Wir waren 7 Leute, die an diesem Nachmittag in die Koppel gingen. Dann wurde der erste »Klient«, ein fünfzehnjähriger Wallach hereingeführt. Ich fand es wichtig, dass das Pferd anwesend war – auch wenn es niemand gefragt hatte, ob es an einer Lösung interessiert war …

Der Wallach war von seinem Vorbesitzer schlecht behandelt worden und immer noch voll Misstrauen gegenüber Menschen. Mangels anderer Ideen verhielt ich mich wie bei ähnlichen Themen menschlicher Klienten. Stellvertreten wurden der Vorbesitzer als Täter, das Pferd und die aktuelle Eigentümerin, die das Pferd in ein paar Wochen abholen wollte. Die drei Stellvertreterinnen suchten sich ihrem Gefühl nach einen Platz in der Koppel. Der Vorbesitzer stand ganz weit am Rand, die anderen beiden mehr in der Mitte. Ich schlug dem Vorbesitzer vor, zum Pferd zu  sagen: »Ich habe dich schlecht behandelt.« Und dann nach einer kleinen Pause: »Und das tut mir jetzt leid.« Das erlebte er als stimmig. Der Stellvertreterin des Pferds schlug ich vor: »Ich lasse dir deine Verantwortung und Schuld.« Langsam konnte sich das Pferd der neuen Besitzerin zuwenden. 

Meine Begegnung mit einer Pferdeherde

Erstaunlich war, dass das wirkliche Pferd sich am Anfang hinter den Stellvertreter des Besitzers gestellt hatte, die ganze Zeit dort geblieben war und sich dann löste, als dieses Verhältnis geklärt war.

Hinterher merkte ich, wie nervös ich selbst gewesen war. Wenn ich Aufstellungen leite, stehe ich zwischendurch innerlich nahe am Klienten. Ich fühle mit ihm und entdecke so etwas von dem, was in ihm abläuft. So finde ich auch bei meinen Seminaren im Ausland einen intuitiven Zugang zu den jeweiligen kulturellen Prägungen. 

War mir das auch bei Pferden möglich? Bei dieser Aufstellung hatte ich noch Hemmungen gespürt. Konnte ich die loslassen und tiefer mitschwingen? 

Was mir am nächsten Tag half, war die Begegnung mit einer Pferdeherde in einem anliegenden Wäldchen. Diese Pferde kamen sehr neugierig und vorsichtig auf mich zu. Irgendwann stand ich dann inmitten von ihnen. Vor mir zwei Pferde, die ich berührte, hinter mir ein Pferd, das mich am Rücken stupste.

Das war so aufregend! Aber gleichzeitig kam ich so tiefer in Kontakt mit diesen großen Tieren und verlor etwas von meiner Scheu.

Bodenarbeit mit Pferden

Zwei Wochen später, wieder zuhause, fragte ich nach, ob mein Pferdeklient sich verändert hatte. Ja, er war entspannter.

Im Januar 2023 kam ich erneut für eine Woche. Diesmal wollte ich selbst die sogenannte Bodenarbeit mit Pferden erleben. Ich stand in der Koppel in der Mitte mit einem kleinen Fähnchen und sollte lernen, über die Distanz das Pferd im Kreis zu führen. Als Hinweis hatte ich im Hinterkopf, dass Pferde nur auf eine klare, entspannte und bodenständige Autorität reagieren. Jede Unsicherheit oder aufgesetzte Autorität wird sofort zurückgespiegelt. (Das klingt wie eine mögliche Grundübung für eine Ausbildung zum Familienstellen!) 

Später kamen zwei Aufstellungen für Pferde mit Problemen. 

Traumatisierter Hengst

Der erste Klient in die Koppel war ein 5-jähriger Hengst, der früh von seiner Mutter getrennt worden war und immer wieder als unruhig auffiel. 

Eine Ursache für Ängstlichkeit bei Pferden ist, wenn sie zu früh von der Mutter weggenommen werden. Es gibt eine natürliche Ablösung, wenn ein Fohlen groß geworden ist. Wird die Trennung vorher vorgenommen, bleiben psychische Schäden. 

Das Thema berührte mich. Gibt es die »unterbrochene Hinbewegung« also auch bei Pferden? War Heilung möglich?

Drei menschliche Stellvertreterinnen standen für das Pferd, seine Mutter und die Herde. Die Herde ist die erste natürliche Bezugsordnung für ein Pferd, nicht sein Besitzer. Neben dem Hengst wollte ich diesmal noch ein weiteres Pferd in der Koppel haben als zusätzliche Stellvertreterin für die Mutter.

Wieder suchten sich die drei Stellvertreterinnen einen Platz. Die Herde stellte sich in die Mitte, die Mutter ging weit weg und war abgewandt. Der Klient, das »Kind« schaute in Richtung Mutter. Erstaunlicherweise war es die Mutter, die den Kontakt mit ihrem Sohn verweigerte. Sie schien die Traumatisiertere zu sein. Was tun? Ich griff auf das Elementare der Familienaufstellungen zurück und bat die Stellvertreterin der Mutter, zu sagen: »Auch wenn ich mich abwende, weil die Trennung zu schlimm für mich war, bin und bleibe ich deine Mutter.« Das entspannte. Gleichzeitig näherten sich im Hintergrund der Hengst und die Stute an. Es wurde friedlicher.

Eine Teilnehmerin schildert ihre Beobachtung davon: »Der kleine Hengst war zu Beginn enorm aufgebracht. Er traktierte die ‚Mutter‘ ununterbrochen mit Hengstmanieren, nicht wie ein Fohlen. Das absolut faszinierende war, dass dieses Verhalten schlagartig aufhörte, genau in dem Moment, in dem ihr es mit den Stellvertretern aufgelöst hattet! Das war so krass, dass mir die Tränen kamen, denn vorher war der Hengst wirklich bemitleidenswert in seinen heftigen Aktionen. Es war auch ein magischer Moment, denn mit meinem Mitgefühl mit dem kleinen Pferd war es so deutlich zu sehen, dass er wirklich genau in dem Moment wie befreit wurde von diesem Verhalten! Beide Pferde standen ruhig und friedlich nebeneinander, und der Kleine benahm sich nun auch angemessen, wie ein Pferd in seinem Alter und nicht so wie ein Hengst.«

Der Wallach mit sozialen Schwierigkeiten

Dann kam noch eine Aufstellung mit Falcao, einem 12-jährigen Wallach. Er hatte soziale Schwierigkeiten. Die Herde akzeptierte ihn nicht, weil er so aggressiv war. Aus seiner Geschichte war bekannt, dass er von seinen früheren Besitzern nicht gut behandelt worden war. 

Das Pferd wurde in die Koppel gebracht. Drei menschliche Stellvertreter stellten sich zur Verfügung. Einer repräsentierte das Pferd und einer repräsentierte die Herde. Das Dritte, was ich stellvertreten ließ, nannte ich »Wunden aus der Vergangenheit«.

In meiner ersten Pferdeaufstellung hatte ich den früheren Eigentümer als Täter aufgestellt, aber hier war die Vergangenheit so unklar, dass ich sie lieber allgemein benannte.

Jeder der drei Stellvertreter suchte sich selbst einen Platz. Die Herde nahm einen Platz in der Mitte ein, wo sie die ganze Zeit als ruhender Pol blieb. Die »Wunden« standen weit weg vom Klienten, der in eine andere Richtung schaute.

Ich arbeitete wie mit einem verwundeten Menschen. Auch hier bedeutete das für mich: Ich nutze Sprache, indem ich Sätze sagen lasse, und ich mache Vorschläge, wie etwas in Frieden kommen kann.

Mein Verständnis von den Ordnungen, die Frieden bringen, ist: Die Wunden der Vergangenheit sollen gesehen und geachtet werden. Also lud ich die Stellvertreterin des Pferdes ein, zu den Wunden zu schauen und die Fakten zu benennen: »Ich bin sehr verletzt worden. Und jetzt schaue ich hin.« Das fiel ihr nicht leicht. Die spontane Reaktion war, dass es vorbei und nicht weiter wichtig sei. Dann schlug ich ihr vor, die Vergangenheit zu achten. Das wurde abgelehnt, stattdessen kam Wut hoch. Darunter war ein großer Schmerz.

Während dieser Vorgänge ging das Pferd einmal direkt an mir vorbei. Ich berührte es am Kopf und es war, als ob ich seinen ganzen Schmerz spüren konnte. Mir kamen fast die Tränen.

In der Aufstellung blieb ich beharrlich. Ich ließ die Wunden sagen: »Wir wollen gesehen werden.«“ Schließlich schaute die Stellvertreterin wirklich zu den Wunden hin. Nach einer Weile konnte sie sich verneigen. Die Herde war dem Pferd gegenüber skeptisch. »Du musst dich uns anpassen«, wurde spontan geäußert. Ich schlug zusätzlich vor: »Wir sind reicher mit dir als ohne dich.«“ Dem wurde zugestimmt. Wir beendeten die Aufstellung.

Die wirkliche Herde aus Pferden und Mulis war in der Nachbarkoppel. Ich war etwas nervös, als der Wallach jetzt gleich in diese Koppel gelassen wurde. Hatte sich durch diese Aufstellung etwas bei ihm verändert? 

Vier große Mulis kamen sofort auf ihn zu und umringten ihn. Mein »Klient« blieb bis auf ein kleines Ausschlagen mit dem Huf ruhig. Nach fünf Minuten gingen die Mulis wieder. Offenbar wurde er nicht als Bedrohung empfunden. Der Wallach näherte sich nun langsam einem anderen Pferd, beschnupperte es, die beiden blieben zusammen. So blieb es auch den Rest des Nachmittags.

Wie ich inzwischen erfahren habe: Seit mehreren Monaten lebt er nun friedlich in der Herde und hat seinen Platz gefunden.

Die Wunder der Aufstellungen

Ich war und bin sehr berührt von dieser Aufstellung. Ich habe gespürt, wie emotional nahe ich auch als Mensch einem Tier kommen kann. Wir teilen so viel!

Nachdem ich jahrelang aufgestellt habe, habe ich mich an die Wunder der Aufstellung gewöhnt. Es ist ein bisschen wie bei der Elektrizität, die ich nicht wirklich verstehe. Ich drücke auf einen Lichtschalter, dann geht eine Lampe an und strahlt hell. So ähnlich fühle ich mich bei Aufstellungen, wenn Stellvertreterinnen und Stellvertreter plötzlich an eine andere Realität angeschlossen scheinen

Diese Aufstellungen für Pferde haben mein altes Staunen und alte Fragen wieder belebt.

Schon immer finde ich es erstaunlich, dass Aufstellungen die Energien gerade des Klienten wiedergeben und nicht irgendwelche starken Energien anderer Menschen im Raum. (Die einzige Ausnahme scheinen manchmal unbewusste Themen der leitenden Person zu sein.) In den Pferdeaufstellungen kam kein Klient zu uns, sondern er wurde benannt. Das genügte. Ist es also die liebevolle, ja auch achtungsvolle Absicht, die genügt, um »die Energien« zu rufen? Was genau geschieht dabei?

Das wissende Feld

Sprache entfaltet eine eigene Kraft und Wirkung, die hier sogar Tiere in der Tiefe erreicht. Aber auf welche Weise? Die Sätze, die Stellvertreter sprechen, verändern erst einmal die körperliche Energie desjenigen, der spricht. Wenn Worte stimmig sind, dann erfolgt meist ein Ausatmen und damit auch etwas mehr Entspannung. Die ausgesprochene Wahrheit des Moments ist lösend und wirkt weiter.

In einer normalen Aufstellung können wir das dadurch erklären, dass ja der tatsächliche Klient anwesend ist und zuhört und versteht. Bei einem Pferd kann ich von diesem Verstehen der Worte nicht ausgehen. 

Es scheint die bloße Benennung »Ich vertrete dich in der Aufstellung« zu genügen, dass etwas zum tatsächlichen Klienten hinb »transportiert« wird. Wie geschieht das?

Diese Verbindungen und Wirkungen sind ein großes Mysterium! Allein dadurch, dass ich sie als »wissendes Feld« bezeichne, werden sie um keinen Deut weniger geheimnisvoll …

Nichts wird ausgeschlossen

Eine Ordnung in den Familienaufstellungen ist, dass kein Mitglied einer Familie ausgeschlossen werden soll. Jeder und jede gehört dazu. Wenn ich das erweitere, dann heißt das, dass auch insgesamt im Leben nichts ausgeschlossen werden soll. Alles gehört dazu und darf da sein – eben auch der Schmerz und das vergangene Leid. Wir versuchen aber oft, den Schmerz auszublenden.

Der Schmerz der Vergangenheit will anerkannt werden. Es geht dabei nicht um ein erneutes Spüren, Ausagieren oder eine Katharsis. Das alles ist möglich. Aber das Entscheidende ist, dass die Wunden der Vergangenheit ihren Platz bekommen. Dann löst und entspannt sich etwas. Dann werden sie ein geachteter Teil des Ganzen.

Wie die letzte Aufstellung gezeigt hat, gilt das nicht nur für Menschen!

Einem Tier ist eine solche Lösung allein wohl nicht möglich. Die Traumata haben die Pferde hier durch Menschen erlitten. Es sieht so aus, als ob die Entspannung hier über den Umweg über den Menschen als Stellvertreter möglich geworden ist.

In meinen Seminaren gehe ich davon aus, dass jedes Thema eines Teilnehmers gleichzeitig auch ein kollektives Thema widerspiegelt. Teilen wir diese kollektiven Themen auch mit Tieren? All die Trennungen, der Schmerz, die Angst und das Trauma? Es sieht so aus.

Eine Aufstellung zeigt wie ein Scheinwerfer Ausschnitte aus der gequälten Menschheit und der von Menschen gequälten Tiere. Gleichzeitig bringen Aufstellungen mehr Verbindung, Liebe und Frieden. 

www.ulsamer.com

P.S.: Die Geschichte von dem Wallach Falcao erscheint auch im Anhang des Buchs Familienaufstellung und Trauma: Wie die Traumatherapie Systemaufstellungen bereichert von Bertold Ulsamer, das Ende August erschienen ist.