Bishara Lang, eine ehemalige Leserin meiner Zeitschrift, schickte mir gestern den folgenden Bericht über ihre Krebsdiagnose und das, was danach geschah. Mit der Bitte, dass ich das in meinem Blog veröffentlichen möge. Das tue ich nun, ganz entgegen meinen Prinzipien, denn ihre Erzählung ist so stark, genau und berührend, dass ich sie sofort veröffentlicht hätte, gäbe es meine Zeitschrift noch. Das Thema der Annäherung an den Tod beschäftigt uns ja alle. „Der Turm“ ist die Überschrift, die Bishara für ihren Bericht über die Annäherung an ihren Tod selbst gewählt hatte.

(Alle Namen in diesem Text wurden verändert)

 

Der Turm

Am Silvesterabend 2017 zog ich die Karte der Turm, die Zerstörung, für das Jahr 2018. Ich dachte, vielleicht trennen Christian und ich uns. Im Laufe des folgenden Jahres bemerkte ich körperliche Veränderungen. Meine Leistungsfähigkeit nahm ab. Ich war öfters müde. Mein linkes Knie schmerzte stark. Da ich 67 wurde, dachte ich, dass die Veränderungen meinem Alter geschuldet seien. 2018 reiste ich mit Christian nach Italien, in seinem Wohnanhänger. Mir war es nicht möglich längere Zeit zu stehen, oder zu laufen. Mein linkes Knie schmerzte. Immer wieder musste ich mich setzen. Selbst das Schwimmen im Meer wurde ein Problem. Ich verlor drei Kilo in sechs Wochen, einfach so. Ich versuchte Christian und der Reise gerecht zu werden und war damit überfordert. Wieder zu Hause angekommen arbeitete ich im Garten, bis es in meinem Rücken krachte. Starke Schmerzen waren die Folge. Ich war daraufhin beim Orthopäden, der auch mein Knie untersuchte und Röntgenbilder machte. Die Diagnose Kalk im Knie. Er verschrieb mir Einlagen und eine Schuherhöhung links.

Mein Befinden verschlechterte sich von Woche zu Woche. Ich ertrug keine Belastung mehr und lief auf Krücken vom Auto zum Chor. Ich suchte einen neuen Orthopäden auf, der ein MRT anordnete. Nach dem MRT wurde ich in ein Nebenzimmer zur Besprechung gebeten. Mir wurde mitgeteilt, dass eine „Raumforderung“ im linken Knie sei und ich diese sofort abklären lassen müsste. Das erste Mal stand das Wort Krebs im Raum. Nach dem Besuch beim Orthopäden und der Diagnose Krebs, verlor ich die Fassung und schluchzte weinend an die Brust meines Mannes gelehnt, vor dem Eingang der Praxis.

Dann ging alles recht schnell. Die Überweisung in die Charite, die dortige Vorstellung bei einem Spezialisten für Tumororthopädie, der Termin für die Biopsie. Noch gab es die kleine Hoffnung, dass der Tumor gutartig war. Ich konnte nicht mehr laufen und kam im Rollstuhl in ein Zweibettzimmer. Das Ergebnis der Biopsie war niederschmetternd. Der Tumor war eine Knochenmetastase, die einen Teil meines Oberschenkelknochens zerstört hatte. Wo war der Haupttumor? Das Ganzkörper-CT gab Aufschluss. Lungenkarzinom im rechten mittleren Lungenlappen, fünf Zentimeter groß, inoperabel. Dazu Metastasen in der linken Nebenniere, im Uterus und eine Unmenge an Knochenmetastasen. Der Befall des linken und rechten Oberschenkels, mehrerer Rippen und der gesamten Lendenwirbelsäule, beidseitiger Hüftbefall, machten das ganze Ausmaß der Zerstörung sichtbar.

Ich war fassungslos und konnte es nicht begreifen. Mir wurde verboten aufzustehen, da der Bruch der Wirbelsäule, mit Querschnittslähmung drohte. Ich sollte so schnell wie möglich operiert werden. Nicht der Tumor war das vordergründige Problem, sondern die Stabilisierung der Knochen, um einen Knochenbruch zu verhindern. Am OP-Tag, lag ich bis 17.00 im Vorraum. Nüchtern, durstig, hungrig.  Eine Titankappe wurde über den linken Femur gezogen und mit dem Oberschenkel verschraubt. Rechts in den gesamten Oberschenkel und Schenkelhals ein Stab eingeführt. Um 1.00 Nachts wurde ich in mein Patientenzimmer gefahren. Hilflos, alleine, ohne Essen und Trinken lag ich in der Dunkelheit und weinte. Ich hatte starke Schmerzen. Mein Bewusstsein begriff die Situation nicht. Ich träumte vom aufstehen und nach Hause gehen. Ohnmächtig an das Krankenbett gefesselt, die Beine in Schienen gelagert, lag ich auf dem Rücken. Tag und Nacht. Nach dem Erwachen weinte ich. Ich wartete jeden Tag auf den Besuch Christians, der mir etwas zu Essen und den notwendigen Trost brachte. Christian half mir auf die Toilette zu gelangen, oder mir die Zähne zu putzen. Brachte mir das Verlängerungskabel für mein neues Smartphone. Hielt meine Hand, wenn mich die Ohnmacht und die Verzweiflung packten. Auch meine Freundin Brigitte war da für mich. Richtete mich auf und den Schieber unter meinen Po. Brachte mir gekochte Eier in einer Socke warmgehalten. Das Essen im Krankenhaus war entsetzlich. Eine Scheibe Kuhkäse, Mortadella, zwei Scheiben Graubrot. Margarine und ein Töpfchen Marmelade. Mittags ein geschmackloses, zerkochtes Etwas. Ich war unglücklich. Schlimmer hätte es für mich, die weder Milch- noch Weizenprodukte isst, nicht sein können. Abends gegen 21.00 Uhr führte ich regelmäßig Gespräche mit Sofie in Bayern, mit der ich die Ergebnisse des Tages besprach und meine weiteren Schritte plante. Sofie blieb über all die Zeit auch meine spirituelle Begleitung. So fühlte ich mich trotz allem nicht einsam. Mit dem Krankenhausaufenthalt begann meine Anpassung an die vielen wechselnden Damen im Nebenbett. Es war eine Herausforderung mit all den unterschiedlichen Frauen und ihren Eigenarten zu Recht zu kommen. Fenster auf, Fenster zu. Handy an und wann aus. Schublade auf, kruschel, kruschel. Schublade zu. Tag und Nacht. Alleine die verschiedenen Gerüche waren schwer zu ertragen. Parfum, Deo, Zigarettenrauch, Waschmittel, Weichspüler, Haarspray. Meine Blutwerte sanken, die Abwehr wurde schwächer. Ich durfte weiterhin nur auf dem Rücken liegen, da das Rückgrad nicht stabil war. Der Lungentumor war noch nicht behandelt. Nach 8 Tagen wollte ich die Charite verlassen und in die Anthroposophische Lungenabteilung Havelhöhe verlegt werden.

Nach tagelangen Bitten durfte ich endlich gehen. Der Krankenwagen brachte mich in ein falsches Krankenhaus. Wieder einmal bat ich Christian um Hilfe. Der lotste dann den Krankenwagen in die richtige Klinik und klärte alles mit der dortigen Aufnahme. Endlich lag ich im Bett der Lungenabteilung. Die Bronchoskopie ergab ein nicht kleinzelliges Adenokarzinom. Die Therapiemöglichkeiten, Bestrahlung der Knochenmetastasen, um deren Ausbreitung zu verhindern und die Schmerzen zu verringern. Chemo gegen den Tumor. Von Brigitte bekam ich die Adresse einer Homöopathin, die mich unterstützen soll. Nadja konsultierte mich im Krankenhaus. Wir waren uns sympathisch und sie übernahm mich als ihre Patientin.

Weiterhin kam Christian fast jeden Tag. Half mir beim waschen, bezog mein Bett, stellte mir Wasser zum Zähneputzen an mein Bett. Ich durfte immer noch nicht aufstehen. Regelmäßig bekam ich Einläufe, da meine Schmerzmittel den Darm lahmlegten. Meine Freundinnen waren treue Besucher, egal welches Wetter draußen herrschte. Ineke kam mit dem Fahrrad und brachte mir Pommes zum Essen. Renate kam dienstags mit Sushis. Brigitte erschien mit selbstgebackenen Keksen. Elke mit Gemüse. Dann kamen die Bestrahlungen gegen die Knochenmetastasen. Hungrig und frierend lag ich auf einer schmalen Bahre, in einem kalten zugigen Flur. Ich fühlte mich einsam und verlassen, weinte still vor mich hin. Das ganze Prozedere 16 Mal hintereinander. Dann kam die Chemotherapie. Ich hatte schon vorher von den Nebenwirkungen gelesen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, was es wirklich bedeutet.  Angefangen von der Übelkeit, dem Erbrechen, den verstärkten Schmerzen, dem Verlust der Haare und jeder Lebensenergie.

Ich wurde in Havelhöhe noch gut versorgt. Die Essensauswahl ausreichend, das Pflegepersonal freundlich. Es gab Salben, Herzläppchen, Musik für die Seele. Sofie kam mit ihrer Familie zu Besuch. Wir lagen uns in den Armen und weinten zusammen. Ich erzählte ihr von meinem stillen Untermieter, der mir keine körperlichen Probleme macht. Kein Husten, keine Atemnot, kein Beklemmungsgefühl in der Brust. Wenn nur die Knochenmetastasen nicht wären. Es waren Wochen voller Schmerzen. Ich kam nur mit zwei Krücken zur Toilette und war kaum in der Lage den Druck des Toilettensitzes zu ertragen. Nach vier Wochen, kurz vor Weihnachten, wurde ich entlassen, immer noch liegend und mit der Empfehlung mein Leben zu regeln, sprich mich auf das Sterben vorzubereiten. Ich hatte Angst vor der Entlassung. Auf der Station war ich eine Kranke unter vielen, in mein altes zu Hause kam ich als Behinderte und Todkranke Frau zurück. Zu Hause im Krankenbett fing ich an zu träumen.

Ich steige von einem Berg hinunter. In meiner rechten Hand liegt eine Kinderhand. Zusammen stehen wir auf einem Hügel und schauen auf eine große Stadt hinunter. Gleichzeitig höre ich im Inneren eine Stimme die zu mir spricht. „Du gehörst nicht mehr hierher. Du gehst jetzt einen anderen, eigenen Weg.“ Ich entferne mich von der Stadt und gehe mit dem kleinen Kind an der Hand in die hügelige Landschaft hinein.

In einem anderen Traum sitze ich auf dem Boden. Ein silberfarbener Mercedes hält vor mir. Die hintere Autotüre öffnet sich automatisch. Ich steige ein. Drinnen sitzt eine Junge Frau am Steuer, eine ältere und eine alte Frau sitzen  dösend auf dem Rücksitz. Ich setzte mich auf die Rückbank und lehne mich an die alte Frau an. Zusammen brausen wir davon. Später lese ich in der nordischen Mythologie von den drei Nornen, die Junge, die Mittlere und die Alte. Die Schicksalsgöttinnen.  

Ich sitze in einer Schneelandschaft. Nur glitzerndes weißes Licht um mich herum. Am Horizont bildet sich ein dunkler Wald ab. Ein Raunen geht durch die Luft. „Die Hirschkuh kommt, die Hirschkuh kommt.“  Mit ihrer anmutigen Gestalt kommt sie auf mich zu.  Sie neigt ihren Kopf zu mir hinunter, schaut mich an mit ihren großen, braunen Augen. Im Geiste höre ich ihre Frage. „Möchtest du aufsteigen?“ Ich weiß nicht ob ich aufgestiegen bin. Ich sehe mich in den Sonnenaufgang schauend, mit der Hirschkuh an meiner rechten Seite.

Sofie und Rose kamen an Silvester 2018 nach Berlin. Rose fuhr mit, weil auch sie dachte mich nie wieder zu sehen. Ich lag im Wohnzimmer, so war ich vom Leben nicht vollends ausgeschlossen, der Besuch konnte sich zu mir setzen und mit mir etwas essen. Sofie fand in der Brigittezeitschrift einen Artikel über die stärkere Wirkung von Medikamenten, wenn sie willkommen geheißen werden. Daraufhin freundete ich mich mit der Chemo, meinen Tabletten und Säften an. Es war berührend die Fürsorge der Frauen zu fühlen. Am Silvesterabend legten wir zusammen Tarotkarten. Nach anfänglichem Zögern, ich wollte weder Tod noch Teufel ziehen, zog ich das Universum. Das stimmte mich zuversichtlich, ob eines guten Endes.

Ich war eine Frau die sich nicht alleine helfen konnte. Die abhängig war von Christian. Abhängig von der Fürsorge eines anderen Menschen. Abhängig von einem Menschen, der nichts so sehr fürchtet wie den Kontrollverlust. Christian kontrollierte meine nächtliche Luftzufuhr, bestimmte was es zu essen gab. Überwachte meine Besuche. Wurde mir gegenüber aggressiv, wenn er überfordert war. Ich hatte kaum Kraft ihm etwas entgegenzusetzen. Ich fühlte diese Ohnmacht, mein Leben nicht mehr selbst in die Hand nehmen zu können, für mich selber zu sorgen. Manchmal war ich wütend, warum gerade ich? Was habe ich falsch gemacht? Was liegt meiner Krankheit zu Grunde? Solche Gedanken verursachten mir Stress. Das Fühlen im Hier und Jetzt brachte Erleichterung. Einatmen ich bin wütend, ausatmen ich bin wütend. Wahrnehmen und fühlen.

Die Folgen der Chemo waren schrecklich. Diese Übelkeit, das Erbrechen, diese Schmerzen. Morgens lagen meine Haare auf dem Kopfkissen. Ich schlief viel, nahm starke Schmerztabletten, verlor 15 Kilo Gewicht. Die Haut an Armen und Beinen hing in Falten an mir herab. Die Kraft reichte nur für die Toilettengänge. Mit meinen Freundinnen sprach ich über das Sterben. Es gab Kontakte, die mit meiner Krankheit nicht zurechtkamen und sich von mir verabschiedeten und manch andere, die sich in dieser Zeit intensivierten. Jede dieser Frauen wurde wichtig für mich. Ich erkannte welche unterschiedliche Qualität jede verkörperte und wie viel Stress, Anspannung und Leid bei ihnen fühlbar war. Ohne Christian hätte ich in ein Pflegeheim gehen müssen. Christian wusch mich, half mir wo es nötig war, kümmerte sich um die Organisation. Manchmal lagen wir zusammen im Bett und weinten. Ich übergab ihm alle Vollmachten zu meinen Konten und füllte meine Patientenverfügung aus. Alle drei Wochen fuhr ich in die Havelhöhe zur Chemotherapie. Dort blieb ich vier Tag und litt an starken Schmerzen. Mein 68zigster Geburtstag rückte näher. Ich nahm die Idee von Sofie auf, den Chor einzuladen und mit meinen Freundinnen zu feiern. Ein letztes Mal, bevor ich sterbe. Sofie kam wieder nach Berlin und verwirklichte alle Ideen. Sie wusste welche Kleidung mir steht und welcher Schmuck angemessen war. In der Küche wurden Schnittchen zubereitet. Jeder Besucher brachte mir eine Blume mit, so dass ein großer Blumenstrauß auf dem Tisch stand. Der Chorleiter Michael kam und fast der gesamte Chor. Wir waren 45 Personen. Ich war gerührt, ob dieser Anteilnahme an meinem Zustand. Die von mir gewünschten Lieder trieben nicht nur mir die Tränen in die Augen.

In den Zeiten nach meiner Diagnose September 2018, sind im meinem Umfeld drei Menschen gestorben. Alle leugneten den Tod, bis zum Schluss. Auch die Angehörigen und Freunde schlossen diese Möglichkeit aus. Die Hoffnung zu überleben, sollte nicht zerstört werden. Früher habe ich das Wort Hoffnung belächelt. Mit der Hoffnung wird die Wahrheit geleugnet. Wenn erst die große Liebe kommt, wird alles besser, schöner. Beten um Veränderung. In der jetzigen Situation änderte sich meine Haltung zur Hoffnung. Ich wollte auch zu den 10% gehören, die länger als drei Jahre überleben. Ich wollte auch, dass die Therapien erfolgreich sind, an sie glauben. Das meine Bemühungen eine Sinn ergeben. Mir half das Wissen, dass ich selbst aktiv etwas zu meiner Genesung  beitragen kann. Gleichzeitig freundete ich mich mit dem Tod an. Stimmt es, dass wir zum Licht gehen? Das wir von den Verwandten oder Engeln abgeholt werden? Das wir alle friedlich einschlafen? Oder ist das nur für die Angehörigen, damit sie sich besser fühlen? Trost finden.

Ich beginne mit einer Übung, indem ich mir meinen Übergang in den Tod vorstelle. Die Bilder kommen. Ich sehe  eine Eisenbahnschwelle vor mir. Eine alte, breite Holzschwelle mit großen Nägeln. Nach mehrmaligem Anschauen überschreite ich diese. Rechts und links des Weges stehen abscheuliche, erschreckende Monster, Comicfiguren, Alliens, grausame Kreaturen. Sie machen Krach, schreien, rufen, drohen mir. Rasseln mit ihren Säbeln und Gebeinen, kommen immer näher, ohne mich dabei zu berühren. Ich fliehe zurück über die Schwelle. Nach jedem Besuch auf der anderen Seite, lassen Furcht und Angst nach, bis alle Kreaturen verschwinden. Zurück bleibt weißes, strahlendes Licht.

Durch die Beschäftigung mit dem Tod, wollte ich ihn sehen und bat ihn zu erscheinen. Eine Gestalt steht links von mir, eingehüllt in einen langen Umhang, eine Kapuze über den Kopf gezogen. Tagelang schaue ich mir die Gestalt an, ohne das wir miteinander sprechen, bis ich sie bitte sich mir zu zeigen. Sie antwortet geistig, ob ich das wirklich wollen würde. Ich sage ja. Die Gestalt zieht ihre Kapuze ab und dreht sich in meine Richtung. Ich sehe einen dünnen zerschundenen Körper. Aufgerissene, blutende Beine, zerbrochene Rippen. Ein Totenkopf ähnliches Gesicht mit ein paar Haaren auf dem Schädel Ich bin überwältigt von dem Ausmaß an Leid. Liebe und Mitgefühl durchströmt meinen gesamten Körper. Gleichzeitig erfasst mich die Erkenntnis, das bin ja ich und niemand Fremdes, wie ich es erwartet hätte. Der Tod und ich sind Eins, es gibt keine Trennung zwischen uns. Das Erstaunen über diese Verbundenheit löst Glücksgefühle in mir aus. Die Angst vor dem Tod bleibt seitdem verschwunden.

Über die Schwelle gehe ich nicht mehr. Dafür bin ich wieder mehr im Leben angekommen. Fühle wie es mir geht. Nehme mir Zeit für mich. Achte auf meine Bedürfnisse. Gehe zu meinen Therapien. Überfordere mich immer wieder mit meinen Aktivitäten. Schlafe manchmal schlecht. Genieße den Garten. Telefoniere mit meiner Homöopathin und nehme regelmäßig die verschriebenen Mittel. Habe dadurch meine Schmerzmedikation runtergesetzt. Gehe zur Psychoonkologin, zur Akupunktur. Bin froh, dass Christian mir immer wieder hilft und mich unterstützt. Besuche meine Freundinnen, die mir lieb geworden sind. Telefoniere regelmäßig mit Sofie. Habe meine Arroganz verloren. Meine Unverwundbarkeit. Wie lange ich mit meiner Krankheit Krebs leben werde, weiß ich nicht. Meine Behinderungen und meine Schmerzen erinnern mich immer wieder daran, dass ich chronisch krank bin und mein Leben endlich. Mein Behinderungsgrad sind 100%. Ich kann nicht ohne Schmerzen laufen oder stehen. Da ich ein Bewegungsmensch bin, ist diese Einschränkung traurig. Ich bin froh, dass ich so viele Therapien von der Krankenkasse bezahlt bekomme. Froh über meine Ausbildungen, Techniken und Wissen um die Spiritualität, die mir vieles erleichtert haben. Dankbar für die Liebe und Anteilnahme die ich erfahre.

Meine letzte große Operation am Rückgrad war im März 2019.

Ich liege auf der Bahre vor dem OP-Saal. Die Anästhesistin sagt zu mir: Stellen sie sich etwas Schönes vor, bevor ich ihnen das Narkosemittel gebe! Was ist schon schön, überlege ich. Vielleicht ein Strand am Meer? Wie ich das noch denke, entwickelt sich ein Bild von zwei Engeln an meinen Seiten. Einer in Gold, der andere in Grün gekleidet, die freundlich auf mich hinabschauen. An meinem Kopfende aufgereiht meine Freundinnen.

Nach fünf Monaten der Bettlägerigkeit stand ich wieder auf. Heute fahre ich wieder Auto, kann eine halbe Stunde ohne Krücken laufen und Fahrrad fahren. Benötige nicht mehr so viel Schlaf, ist es mir möglich selber zu kochen und eine Tasse Tee zuzubereiten. Ich grabe wieder im Garten, zupfe Unkraut und bewege mich. Alle vier Wochen gehe ich weiterhin zur Immuntherapie, dreimal im Jahr erhalte ich eine Infusion zum Knochenaufbau. Möchte alles weiter reduzieren. Ohne Nadja würde ich mehr an den Nebenwirkungen der Immuntherapie, der Bestrahlungen und der Chemotherapie leiden. Mein Onkologe ist begeistert von mir. Wie gut ich aussehe, wie wach ich sei. Ich bin weicher geworden. Erlebe mehr Hingabe. Bin empfindlicher gegenüber Außeneinflüssen geworden. Christian und ich streiten wieder mehr. Gestresste, angespannte Menschen vermeide ich. Ich hoffe, ich bleibe noch ein paar Jahre auf der Erde. Wenn ich mehr Knochenschmerzen verspüre oder abnehme, beunruhigen mich diese Zeichen. Schmerzen im Oberbauch aktivieren meine Angst vor Metastasen. Im Wohnzimmer steht noch mein Pflegebett. Alles erinnert mich daran, dass ich behindert bin und es auch bleiben werde. Der Krebs unheilbar ist und ich nicht weiß wann das Ende naht. Zum Zeichen meines neuen Lebens habe ich mir einen teuren Weißgoldring mit einem Granaten gekauft. Den Ring trage ich Tag und Nacht. Ich habe angefangen zu schreiben, da meine anderen kreativen Tätigkeiten nicht mehr möglich geworden sind. Würde ich heute etwas anders machen? Ich hätte nicht so schnell meine Fotos aussortieren sollen. Aber ich neige zur Radikalität, zur Übertreibung und zum schnellen Handeln. Nach wie vor nehme ich Kontakt zu meinem Tumor auf und versuche herauszufinden, ob ich mir ernsthaft Sorgen machen muss. Ich bekomme ein ‚alles in Ordnung‘ und das ich glücklich sein soll. Ich hoffe ich bilde mir das alles nicht nur ein.  

Für das Jahr 2020 zog ich die Tarotkarte die Kunst.