Seltsam, wie wir ticken. Wir, die in den Jahrhunderttausenden der Steinzeit entstandenen Homo sapiens, noch immer werden wir von zwei Hauptimpulsen gesteuert: Angriff und Flucht. Fürs Überleben war das einst unentbehrlich. Heute ist es das nicht mehr. 

Heute wäre es gut, sich dieser beiden antagonistischen Impulse bewusst zu sein. Würden wir ihre Auslöser kennen, dann würden wir von ihnen nicht mehr so leicht gesteuert wie ein Pawlowscher Hund. Heute lauert ja kein Säbelzahntiger mehr im Gebüsch, heute sind die Bedrohungen andere: da steuern uns die suchterzeugenden Algorithmen der »Megamaschine« (Lewis Mumford, Fabian Scheidler u.a.). Allerdings weniger die von autoritären Regierungen, wie Mumford noch dachte, sondern heute mehr die das Internet dominierenden Global Players. Gefährlich sind für uns vor allem die Akteure, die mehr über uns wissen als wir selbst, sei es die im globalen oder die im lokalen Raum. Das macht Angst. 

Die Angst der Strippenzieher

Die uns mit dieser Angst steuern, haben aber auch selbst Angst. Sie steuern uns nicht, weil sie einen Masterplan hätten zur Steuerung des Weltgeschehens, wie viele der Verängstigten glauben. Sie steuern uns, weil auch sie Angst haben und von unbewussten Motiven gesteuert werden. Sicherheit gibt es jedoch nicht. Für die Mächtigen und Reichen gibt es nur ein bisschen mehr Sicherheit als für die Ohnmächtigen. Letztlich aber haben wir alle erstmal nur sehr wenig von dem unter Kontrolle, was unsere Außenwelt bestimmt. Viel eher können wir über unsere Innenwelt verfügen. Durch Kenntnis unserer je eigenen Innenwelten können wir uns aus der pandemisch verbreiteten Ohnmachtstarre lösen und in der Außenwelt aktiv werden, zusammen mit anderen Aktivisten. Kooperation lindert die Angst, kann sie sogar verscheuchen und ermöglicht so die Entfaltung einer politischen Wirkung.

Auch Corona ist ein Angstphänomen. Es gibt dieses Virus zwar, sogar in mehreren nicht zu unterschätzenden Varianten, die mehr Schaden anrichten als die üblichen Grippewellen. Leugnen und Kopf in den Sand stecken ist da kein gutes Gegenmittel. Teils noch mächtiger als das Virus selbst ist jedoch die Angst davor. Auch diese ist mächtig und verbreitet sich massenhaft. Die Möglichkeit eines Atomkriegs und die Nähe einiger bedrohlicher Kipppunkte der Ökologie (CO2, Methan, das schmelzende Eis) ängstigen uns jedoch weniger als dieses Virus. Und auch vor Zigaretten haben wir keine Angst und rufen gegen die Epidemie der Nikotinsucht keinen nationalen Notstand aus, obwohl doch Jahr für Jahr mehr als doppelt so viele Menschen an den Folgen des Rauchens sterben wie an Coronaviren. Warum ängstigt uns gerade Corona?

Terroristen und Viren

Mir scheint, dass Infektionskrankheiten uns Menschen ganz besonders ängstigen. Das passt zu narzisstischen Politikern, die sich im Streben um die besten Plätze auf den öffentlichen Bühnen mit Hilfe sensationshungriger Medien als Beschützer der Verängstigten profilieren und so ihre Popularität steigern. Für diese Beschützerdarsteller eignen sich Terroristen und politische Gegner als passende Bedrohung, ebenso gut aber auch Viren und Bakterien. 

Homo sapiens wurde schon immer vor Krankheitserregern bedroht. So ist auch unser Grundgefühl des Ekels evolutionär entstanden und das Bedürfnis nach Sauberkeit. Je größer das Kollektiv eines Tieres oder eine Pflanze, umso größer die Gefahr durch Pandemien. Auch deshalb stellen Kollektive des Homo sapiens ihre politischen oder sozialen Gegner oft als unrein dar. Das gilt insbesondere für Kasten, Eliten und Rassisten, deren Selbstdarstellung zwar biologisch unhaltbar ist, sich jedoch kulturell für Abtrennung und Herrschaft eignet. Vor diesen Gegnern ‚und anderen Pathogenen‘ möchte mensch sich instinktiv mit ethnischen oder hygienischen Säuberungen schützen. Diese Art des vermeintlichen Schutzes ist für uns konkreter fühlbar und hautnäher als die Bedrohung durch eine Zunahme der durchschnittlichen Temperatur der Weltatmosphäre um zwei Grad. Wir ticken eben nicht rational genug, um große von kleinen, echte von unechten Gefahren unterscheiden zu können. Wir retten lieber Bienen als Wespen und lieber Koalabären als Stachelschweine und schützen uns lieber vor Corona als vor dem Klimakollaps, das fühlt sich einfach besser und richtiger an. Und den Gefühlen soll man doch folgen, oder?

Die Popularität strenger Beschützer

Das überraschende Ereignis dieser weltweiten Pandemie und Hysterie hat die Menschheit anderthalb Jahre lang mehr erschüttert als Kriegsgefahren und ökologische Katastrophen. Ob die eben vorgetragene Spekulation über die Ursachen richtig ist, das weiß ich nicht. Das aber weiß ich: Angst ist nur selten ein guter Ratgeber. 

Wer sich vor einer konkreten Bedrohung fürchtet, hat bessere Chancen, ihr angemessen zu begegnen als der sie Ignorierende. Eine diffuse Angst vor etwas, das wir nicht verstehen, ergreift uns hinterrücks und verstärkt sich hinter den Rücken der Fliehenden noch. Sie weicht erst, wenn die Flüchtenden sich umdrehen und die Gefahr konfrontieren. 

Wenn es denn wahr ist, dass alles Schlechte sein Gutes hat, was hat dann diese Pandemie an Gutem zu bieten? Hat sie uns vielleicht auf noch weit schlimmere, »echte« Krisen vorbereitet, die bereits im Landeanflug sind? Nicht wirklich, meine ich. Das politische Management der Krise finden sogar ihre Vertreter großenteils peinlich schlecht. Die Coronapandemie hat etliche der Superreichen noch viel reicher gemacht und die Armen (Länder und Individuen) noch ärmer. Die Pandemie hat der schon vielfach gespaltenen Weltgesellschaft weitere weitere Risse hinzugefügt, zum Beispiel nun den zwischen Impfgegnern und denen, die kaum erwarten können, wann sie mit der Impfung dran sind. Sie hat große Teile des Kulturbetriebs verödet und  Lernen sowie menschliche Begegnung zu Online-Events gemacht. Davon müssen wir uns erstmal wieder erholen.

Angst essen Seele auf

»Angst essen Seele auf« heißt ein Film von Rainer Werner Fassbinder aus dem Jahr 1974. Dieser Film hat jedoch vordergründig gar nicht die Angst zum Thema, sondern den stumpfsinnigen Alltag einer Gesellschaft, die Andersartige ausgrenzt und diffamiert. Erst ein tieferer Blick in das Verhalten der Akteure zeigt, wie auch sie von Angst gesteuert sind. Auch eine Analyse des Phänomens der Coronapandemie wird tiefer forschen müssen, als ich es in diesem Text laienhaft versuchte, um zu erkennen, was die Spanische Grippe von 1918-20, die Hongkong-Grippe von 1968-70 und die Coronapandemie von 2020-21 in ihrer medizinischen Wirkung und der gesellschaftlichen Reaktion darauf voneinander unterscheidet. Und was sich daraus für unseren heutigen Umgang mit Pandemien und pandemischer Angst schließen lässt. Angst und Hysterie gab es ja schon immer.

Retreat? Gibt es jetzt gratis, als Lockdown

Was können wir gegen angstgetriebene Pandemien wie Corona tun? Einkehr, nach innen gehen, uns selbst erforschen? »Alles Unheil in dieser Welt geht davon aus, dass die Menschen nicht still in ihrer Kammer sitzen können«, schrieb der französische Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal im von Religionskriegen zerrissenen 17. Jahrhundert. Wer meditieren kann, ist auch in Pandemiezeiten besser dran als die Innenweltflüchtlinge. Da brauchst du dein Retreat nicht extra zu buchen, du bekommst es gratis, staatlicherseits verfügt, als Lockdown.

War ich grad eben zu zynisch? Mag sein. Die positive Seite der Meditation, des Retreats und Alleinseinkönnens aber gibt es tatsächlich. Wer meditiert, ängstigt sich nicht mehr. Insofern ist Meditation eine gute Krisenprophylaxe. Sie macht resilient und gelassen in sich ruhend. Das war schon immer gut. Kann sein, dass wir das in Zukunft noch viel mehr brauchen als bisher.

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Dieser Text erschien erstmals im Print der Juli-August-Ausgabe der Zeitschrift KGS Berlin, für die ich seit 2012 den Leitartikel schreibe. 

Außerdem schreibe ich regelmäßig für die Schweizer Zeitschrift SPUREN (dort auch ‚die Spuren-Connection‚ im Dialog mit dem Hrsg. Martin Frischknecht) und für die in Wien erscheinende, dem Buddhismus nahe stehende Zeitschrift Ursache \ Wirkung