Wie Menschen und Kulturen co-evolutionär altern

Früher war alles besser, und in der Kindheit waren wir glücklich, auch in der Kindheit der Kulturen, stimmt’s? Soweit einige der populärsten Kitschfantasien. Ebenso die von den weisen Alten und den alten Kulturen oder einem goldenen Zeitalter, in dem alles noch ursprünglich war und unverdorben. 

Waren wir damals, vor langer, langer Zeit, wenigstens ein bisschen authentischer und weniger manipuliert von den Medien? Auch das bezweifle ich.

 

Generationenkonflikte einst und jetzt

Generationenkonflikte gab es vermutlich auch schon in der Steinzeit. Über essbare Pilze und Kräuter, die Eigenschaften der Wildtiere und wie man auch bei Regen Feuer macht, wussten Eltern und Großeltern einfach mehr als ihre Kinder und Enkel. Sie belehrten sie, und wenn das nicht klappte, kam es wohl auch damals schon zu Konflikten, denn dieses Wissen war überlebenswichtig. Die zivilisatorischen Veränderungen waren damals jedoch um mindestens den Faktor tausend langsamer als während der industriellen Revolution. Und noch viel größer ist der Unterschied zu heute, dem 21. Jahrhundert, in dem wir erleben, wie die Sprache unserer Eltern mit der englischen verschmilzt und die Jargons, Moden und Musikstile sich so schnell ändern, dass fünf Jahre Unterschied im Geburtsjahrgang zwischen zwei Menschen, die sich zum ersten Mal begegnen, Befremden auslösen kann.

 

Nichts Neues unter dem Himmel?

Andererseits gibt es »nichts Neues unter dem Himmel«, soll der weise Salomon, von dem die Bibel berichtet, vor ungefähr dreitausend Jahren gesagt haben. Nicht nur das erotische »Hohelied« im Alten Testament der christlichen Bibel, auch einige Weisheitsschriften späterer Jahrhunderte wurden ihm zugeschoben. Unter den »Weisheiten der Alten« finden wir auch das Daodejing des Laotse, die Sutren des Gautama Buddha, das Thomasevangelium mit den Worten des Jesus von Nazareth, bis hin zu neuzeitlichen Texten wie die Desiderata: »Go placidly amid the noise and the haste, and remember what peace there may be in silence.« – Gehe gelassen inmitten von Lärm und Hast und denke an den Frieden der Stille. 

Da scheint dem frustrierten Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts doch, als hätten »die Alten« etwas, das wir heute verloren haben: Respekt vor dem Zeitlosen und einer transkulturellen Weisheit, die nicht von der nächsten Mode obsolet erklärt wird. Eine Weisheit, die sich dem Kult des Neuen und immer schneller, agiler, flexibler Rotierenden widersetzt. Entschleunigung, oh ja, das wäre heilsam. Ein Verlassen des Bhava Chakra, des »Rades der Wiederkehr«, wie die Inder es nannten. Ein Ruhen in seiner Nabe. Ein Verweilen in der Stille, im Zentrum der technokratischen und politischen Stürme.

 

Auch Individuen können reifen 

Nicht nur Kulturen können mit dem Alter reifen, auch Individuen gelingt das manchmal. Wer nicht beinhart stur ist, rechthaberisch und übermäßig selbstgewiss, akkumuliert im Lauf der Zeit doch so einiges an Lebenserfahrung. Euphorie mag ein guter Anfang sein. Stille Freude aber hält länger und kann auch Rückschläge verkraften. Auch in Liebesbeziehungen ist jugendlicher Übermut noch kein ausreichendes Ingredienz für Glück. Ein hohes Lebensalter hat eben so seine Vorteile.

In meiner Zeit als Ältester im Bachelor of Being lerne ich vieles von den Jungen. Dazu gehört der Umgang mit digitalen Techniken und dem Internet. Aber nicht nur Technisches, auch Weltanschauliches kann ich von ihnen lernen. Auch mir altem Rebellen und Aufbegehrer gegen eingebildete Brahmanen und Pharisäer zeigen diese Jungen noch auf Praktiken, die eigentlich zum Abschuss freigegeben werden sollten: Warum müssen wir eigentlich noch etwas besitzen? Sharing Economy ist doch eine viel bessere Idee. Warum müssen unsere Sprachen alle naslang auf das Geschlecht hinweisen, auch dort, wo das für den Sinn einer Aussage keine Rolle spielt? Warum nennen wir Kolumbus immer noch »Entdecker von Amerika«, obwohl er dort nicht mal für Europäer der erste war und für die Einheimischen mit seiner Ankunft ein brutaler Genozid begann, dem (allerdings auch durch unwissend eingeschleppte Seuchen) etwa 90 Prozent der Indigenen erlagen?

Dass der Opa von seinen Enkeln lernt, ist heute ja schon normal. Dass auch die Enkel vom Opa lernen können, das müssen viele in unserer Gesellschaft erst wieder neu »auf den Schirm kriegen«, um da gleich mal eine zeitgemäßere Metapher zu verwenden als Kuhhaut, Kamel und Nadelöhr. 

 

Co-Evolution hin zur Weisheit

So wie in der Biologie Ontogenese und Phylogenese Parallelen aufweisen, so gibt es auch in der kulturellen Evolution Reifeprozesse, die sowohl individuellen wie sozialen Organismen eigen sind. Das Individuum ist ja ein Multividuum (es besteht aus vielen Teilen) und zudem ein Partikel der Gesellschaft. Die es gestaltet und von der es gestaltet wird. Beide, das Multividuum wie das Kollektiv, entstehen co-evolutionär aus Fremdbild und Selbstbild. Beide sind innig miteinander verflochten und – wenn’s denn glückt – lernfähig. Das Individuum nur circa 80 Jahre lang, eine Gesellschaft oder Kultur kann im Idealfall Jahrhunderte lang lernen. 

Dürfen wir deshalb das Ägypten der Pharaonen für ehrwürdiger halten als das Kalifat von Bagdad, einfach weil es länger existierte? Oder etwa die englische Demokratie für vorbildlicher halten als die finnische? Leider ist es nicht so einfach. Alter lässt noch keinen Rückschluss auf Weisheit zu, das gilt für Kulturen ebenso wie für Individuen. Um so mehr freuen wir uns über die glücklichen Fälle, wenn beides mal zusammentrifft. 

 

Das Transgenerationale

Dass die diversen Teile einer Kultur sich friedlich miteinander verständigen sollten, ist heutzutage common sense. Das gilt zumindest von der Absicht her für die Religionen, die Ethnien, die Berufsgruppen und gesellschaftlichen Klassen, auch wenn die Praxis oft dem nachsteht. Gilt es auch für die Generationen?

Deutsche und französische Jugendliche, die sich an der Côte d’Azur oder in Taizé treffen, haben heute meist weniger Verständigungsprobleme untereinander als beide mit ihren Eltern. Das war vor hundert Jahren noch anders. Heute sind die innerkulturellen Spannungen zwischen den Generationen oft größer als die zwischen den Ethnien und Sprachgruppen. 

Wenn wir als Friedensstifter zwischen den Nationen das Internationale preisen – noch besser: das Transnationale – dann sollten wir vielleicht auch zwischen den Generationen das Transgenerationale preisen. Trans-Bewusstsein als Lösung von Cis-Konflikten. Das Transpersonale verachtet ja das Persönliche nicht. Ähnlich sollte das Transnationale nicht die Identifizierung im Nationalen plattmachen; die bunte Vielfalt unter den Nationen würden wir doch sehr vermissen. Ebenso sollte der Anspruch des Transgenerationalen nicht die Jungen den Alten angleichen, oder umgekehrt, wir dürfen verschieden bleiben. Auch hier ist Vielfalt schöner als Monokultur und allemal auch ein besserer Nährboden für Kreativität.

 

In Frieden mit dem Alter

Deshalb habe ich meinen Frieden damit, dass ich jetzt alt bin – bald sind es sieben Jahrzehnte, die ich am Atmen bin. Und auch damit, dass »die Alten« der taoistischen, buddhistischen, schamanischen und Mittelmeer-Kulturen uns auch heute noch was zu sagen haben. Und freue mich, wenn ich einem Orientierung suchenden 20-Jährigen in unserem Winterretreat des »Bachelor of Being« mal einen Spruch von Seneca (genderkonform updatet, hehe) zitieren kann: »Wenn du den Hafen nicht kennst, in den du segeln willst, dann ist für dich kein Wind der richtige.«

Macht mich das zu einem schrulligen Alten? Einverstanden. Der Vielfalt zuliebe. Ich revanchiere mich dafür, indem ich die Jungen eigensinnig nenne. Das kann man ja auch als Lob verstehen, beides.