Wer sich tiefgehend mit Spiritualität beschäftigt, stößt auf zwei sich scheinbar widersprechende Aussagen. Manche spirituellen Ausrichtungen weisen auf den Wert spiritueller Praxis hin. Sie geben konkrete Anleitung, unser Inneres zu erforschen, um sich aus dem Leiden zu befreien. Andere Lehren betonen den Aspekt der Gnade. Sie meinen, Erlösung oder Befreiung wäre nicht etwas, das man sich erarbeiten müsste – oder überhaupt könnte. Sie kann nur als vom Göttlichen – oder vom SEIN – geschenkt erfahren werden. Meiner Erfahrung nach, sind beide Sichtweisen nur zwei unterschiedliche Seiten derselben „Freiheitsmedaille“.  

Gnade ohne Zutun und Gnade als Tun

Zu dieser Thematik habe ich schon vor einigen Jahren die Begriffe „Aktive Gnade“ und „Passive Gnade“ geprägt. Beide Aspekte bedürfen der Achtung, aber auch der Differenzierung.

Passive Gnade bedeutet, dass uns Erlösung und Freiheit ohne jegliches Zutun unserer Person zu Teil wird. Passive Gnade zeigt sich dann, wenn wir ganz spontan spirituelle Einsichten erfahren und dadurch aus der Illusion des Leidens herausfallen in die Freiheit unserer göttlichen Natur. Wirkt passive Gnade, braucht es keinerlei spirituelle Praxis, keine Meditation, kein Gebet, keine bewusste Selbst-Erforschung, keine aktive Ausrichtung unserer Aufmerksamkeit, rein gar nichts. Sie ist ein vollkommen freies Geschenk, das uns das Göttliche unverdient zukommen lässt. Solche Momente sind wunderbar. Wir dürfen das rückhaltlos annehmen, uns dem hingeben und die Offenbarung der Gnade in vollen Zügen genießen.

Für die meisten Menschen reicht es allerdings nicht aus, kurze Einblicke passiver Gnade geschenkt zu bekommen. Leid erzeugende Gedankenmuster überschatten unsere wahre Natur und trüben wieder unseren Blick für das Göttliche. Dann können wir uns einreden „O.K., ich warte einfach auf den nächsten gnadenvollen Moment“. Oder wir nutzen Selbsterforschung, die ein Zutun von unserer Seite aus braucht. Das nenne ich „aktive Gnade“. Es ist genauso Gnade, wenn uns das Göttliche wirkungsvolle Zugänge und Hilfsmittel kennenlernen lässt, mit deren Hilfe wir unserem Geist durchschauen und von Verdeckungen befreien können. Eine tiefgehende Methode der Selbst-Erforschung, wie zum Beispiel die Forschungsfrage Ramanas „Wer oder was bin ich wirklich?“ stellt ein Geschenk von unschätzbarem Wert dar. Doch es reicht nicht aus, diese Frage einfach nur zu lesen oder zu hören. Es braucht auch die Entschlossenheit das gnadenvolle Geschenk anzunehmen und es anzuwenden. Wir müssen unseren Geist ausrichten und dem Fingerzeig der Frage folgen. Das kann sich manchmal durchaus nach Arbeit anfühlen. Manchmal braucht es unseren bereitwilligen Einsatz, der Anweisung zu folgen und sich nicht ablenken zu lassen. Dennoch ist es Gnade, weil uns auch diese „aktive Gnade“ – genauso wie die „passive Gnade“- zur Freiheit führt.

Hingabe und Entschlossenheit

Aktive Gnade kann sich in verschiedensten Formen zeigen: Eine wirksame Meditationstechnik, ein kraftvolles Gebet, eine Bewusstseinsübung, eine Fragetechnik. Sie wird begleitet von Entschlossenheit und Konzentration. Sie wird getragen von einem unbedingten Willen zur Freiheit, von mutigem Hinterfragen und ausgerichtetem Handeln. Aktive Gnade befreit uns von innen heraus aus dem Gefängnis einer eingebildeten Hilf- und Machtlosigkeit. Sie gibt uns Werkzeuge an die Hand. Sie ermutigt uns. Sie legt uns eine Botschaft ans Herz: „Du lebst in den Mauern eines eingebildeten Gefängnisses. Du hast die Kraft diese Begrenzungen einzureißen. Nutze sie. Krempel die Ärmel hoch. Fang an!“.

Passive Gnade fühlt sich nach Hingabe an. Sie kennzeichnet sich durch Ergebenheit, Demut, Loslassen, Nicht-Tun und Nicht-Handeln. Passive Gnade entspannt uns von der Überheblichkeit zu denken, wir könnten die Erkenntnis des Göttlichen mit Aktivität erzwingen. Sie reißt uns die Werkzeuge wieder aus der Hand und sagt: „Auch dass du dich aus einem Gefängnis befreien musst, hast du dir nur eingebildet. Du kannst und brauchst gar nichts tun, um Wahrheit zu erkennen. Hör mit allem auf. Überlasse alles dem Göttlichen“. Durch aktive Gnade bringen wir unser Denken soweit zur Ruhe, dass es still genug wird, um für passive Gnade empfänglich zu werden. Passive Gnade lässt uns ruhen und ausruhen, um Kraft zu sammeln. Für die Momente, in denen wir aktive Gnade in die Hand nehmen müssen, um die Gitterstäbe unseres illusorischen Gefängnisses auseinanderzusprengen.

Gottes Schlauchboot

Unser gewöhnliches Denken kann die Gleichwertigkeit von aktiver und passiver Gnade nicht verstehen. Es möchte sich am liebsten auf eine Seite festlegen, um ein sicheres Konzept von Wahrheit zu behalten. Doch alle wahren Lehren haben durch das paradoxe Nebeneinander sich vermeintlich widersprechenden Sichtweisen gelehrt. Auch Ramana Maharshi war ein Meister darin. Er spornte seine Schüler mit dem Spruch: „Bemüht euch, Mühelosigkeit zu erreichen“ an und an anderer Stelle beruhigte er sie: „Überlasst alles dem Göttlichen, es wird für euch sorgen“. Wahrheit, die nicht paradox daher kommt, ist eine Erfindung von Lügnern.

Eine kleine Geschichte, die der spirituelle Lehrer Eli Jaxon-Bear erzählt, illustriert wie wir aktive Gnade verpassen, wenn wir zu passiv bleiben:

Eine Familie wird in ihrem Haus von einer plötzlichen Flutwelle überrascht. Mann, Frau und die zwei Kinder steigen aufs Dach, um sich vor den Wassermassen zu retten. Das Wasser aber steigt stetig an. Die Familie klettert auf den Schornstein. Dabei rutscht die Frau ab und wird von den Wassermassen weggerissen. Ein Kind verliert auch den Halt und droht weggespült zu werden. Der Vater greift nach diesem Kind, lässt dabei aber das andere versehentlich los. Er bekommt das erste nicht zu fassen und so werden beide Kinder weggespült. Das Wasser steigt weiter an. In seiner Verzweiflung betet der Mann: „Oh Herr, du hast mir Frau und Kinder genommen. Aber willst du auch mein Leben, oder kannst du mich retten großer Gott?“ Eine dunkle Stimme tönt aus den Wolken „Gut, mein Sohn. Dem sei so. Ich werde dich retten“. Kurz darauf kommt ein Schlauchboot. „Steigen Sie ins Boot“, rufen die Insassen, „wir bringen sie in Sicherheit“. „Nein, nein…“ sagt der Mann, „… fahren sie ruhig weiter. Ich vertraue auf die Gnade Gottes. Er hat mir gesagt, dass er mich retten wird“. Die Leute im Boot schütteln den Kopf und fahren weiter. Ein Rettungshubschrauber kommt geflogen. Eine Strickleiter fällt herab. Aber auch hier verweigert sich der Mann. „Gott persönlich hat mir gesagt, dass er mich retten wird. Fliegt weiter“. Kurz darauf steigt das Wasser noch höher. Der Mann ertrinkt jämmerlich.

Nach seinem Tod wird er im Himmel eingelassen. Empört stürmt er auf Gott zu: „Verdammt, jetzt bin ich tot. Du hattest mir doch versprochen mich zu retten?“ Gott fasst sich an den Kopf, „komisch … “ sagt er langsam und nachdenklich “ … ich dachte ich hätte ein Schlauchboot und einen Hubschrauber geschickt“.

Passive Gnade als ein Warten auf Erlösung misszuverstehen, lässt uns die aktive Gnade übersehen, die uns schon jetzt Schritte aufzeigt, der Erlösung ein gutes Stück entgegen zu gehen. Zu glauben, allein aktive Gnade könnte uns Erlösung bringen, führt uns in eine spirituelle Macher-Mentalität, die sich früher oder später selbst erschöpft. Dann kann uns passive Gnade wieder offenbaren, dass Erlösung nicht am Ende eines anstrengenden Weges wartet, sondern immer schon da ist, wo wir gerade sind.